Ich bin auf dem Weg zum Arzt in meiner Heimatstadt. Schnellen Schrittes laufe ich durch die Innenstadt des mittelgroßen Ortes, in dem ich aufgewachsen bin. Viele Menschen kenne ich dort nicht mehr. Die meisten sind zum Arbeiten oder Studieren viele Jahre zuvor in die umliegenden Großstädte gezogen. Andere waren Freunde meines gesunden Ichs und sind von der Bildfläche verschwunden, als ich plötzlich chronisch krank wurde.
Doch an diesem Tag treffe ich eine alte Bekannte aus der Schulzeit. Sie fragt mich, wie es mir geht, woraufhin ich immer gleich antworte: ”Passt schon.” Eigentlich passt seit Jahren nicht viel in meinem Leben, aber das will in der Regel niemand hören, der mich nach fast 20 Jahren auf der Straße sieht. Oft versuche ich Fragen zu meiner Gesundheit zu umgehen, um die peinliche Stille zu vermeiden, die zu 90 Prozent als Reaktion darauf einsetzt.
Sie erzählt ein wenig von ihrem Leben und wo sie derzeit arbeitet. Es wirkt, als wäre sie stolz auf die Dinge, die sie erreicht hat. Ich bin beeindruckt von ihrem Karriereweg und freue mich über den sozialen Kontakt, den ich sonst eher selten habe. Viel aus dem Haus kann ich nicht, weshalb die kleinsten Begegnungen für mich manchmal Balsam für die Seele sind. Solche Momente lassen mich Teil der Gesellschaft sein – zumindest so lang, bis das Gespräch unangenehm wird.
Sie fragt mich, was ich so mache und will jetzt auch von meinen grandiosen Leistungen hören. Ich erzähle, dass ich Frührentnerin aufgrund einer schweren Krankheit bin, aber derzeit auch Journalismus studiere. Der zweite Teil des Satzes geht unter und ich kann in ihrem Gesicht sehen, wie sie nicht weiß, was sie darauf sagen soll. Sie wiegt sich von einem Fuß auf den anderen. Ich erlöse sie, lenke vom Thema ab und hoffe das Gespräch wird nun entspannter. ”Ich habe auch vor kurzer Zeit geheiratet. Mein Mann ist Wissenschaftler und arbeitet in Kalifornien”, sage ich. Letzteres füge ich gerne hinzu, weil die Worte Wissenschaft und Kalifornien oft die Neugierde meiner Gesprächspartner wecken und die Konversation in eine positive Richtung lenken. Das passiert heute nicht.
Sie sagt: ”Du bist verheiratet? Wow, das muss aber ein toller Mann sein, wenn er trotz deiner Krankheit bei dir geblieben ist.” Auch das habe ich schon öfter gehört. Es wirft mich trotzdem kurz aus der Bahn. Mein Mann hat viele gute Eigenschaften. Zum Beispiel ist er schlau, rational und loyal. Doch meine Mitmenschen suggerieren mir immer, dass ich dankbar dafür sein müsse, dass ich kranke, behinderte Frau überhaupt einen Mann abbekommen habe. Single Frauen, die ich zufällig treffe, wirken manchmal sogar eingeschnappt. Ganz nach dem Motto: Wieso hat die einen Mann und ich nicht?
Sie alle vergessen dabei, dass meine Krankheit und die resultierende Behinderung nur ein Teil von mir sind. Ich habe so viele andere Eigenschaften. Oft wird eine Behinderung als etwas dargestellt, das abzulehnen ist. Für viele Menschen bedeutet behindert sein das Ende der Welt. Und die Berichterstattung über Menschen mit Behinderungen trägt gerne dazu bei, dieses Bild aufrechtzuerhalten. Derweil gibt es so viele Aktivisten, die zeigen, dass die Behinderung halt ein Teil des Lebens ist; die Einschränkungen hingegen häufig erst durch unser Umfeld entstehen und nicht durch die Behinderung selbst.
Was mein Gegenüber auch nicht weiß ist, dass ich gerade durch meine Erkrankung zu einem Menschen geworden bin, den ich lieber mag als mein gesundes Ich. Bei all den schwierigen Momenten in meinem Leben, habe ich nie eine Sekunde bereut, was ich durch meine Erkrankung und Behinderung gewonnen habe: Perspektive. Es gibt unglaublich viel zu lernen von Menschen mit Behinderungen und auch generell von denen, die einer Minderheit angehören. Sobald man Abstand von der Haltung ”Wir” und die ”Anderen” nehmen würde, könnte man sehen, dass eine Behinderung auch nur eines von vielen Merkmalen ist, die uns ausmachen.
So antworte ich ihr nun, dass mein Mann mich nicht TROTZ meiner Behinderung geheiratet hat, sondern FÜR alles, was mich ausmacht. So wie jede andere Ehe eben auch. ”Außerdem”, füge ich hinzu, ”wird laut WHO fast jede Person irgendwann im Leben entweder temporär oder langfristig mit einer Behinderung leben. Da bist du vermutlich keine Ausnahme.”
Eine Antwort
Ich Anja (54), habe folgenden Gedanken – der mir auf der Seele lag – gegoogelt: “Dann füge ich mich, was bleibt sonst “. Es kommt keine Antwort;-) Aber über Umwege, lange Rede kurzer Sinn, bin ich auf diese Geschichte gestoßen und habe sofort begonnen zu lesen. Wahnsinn, so fühle ich mich. Nur stände dort, anstatt Behinderung, Hochsensiblität. Aber jeder Satz entspricht meinem Sein, doch auch unverstanden werden und der Abhängigkeit zu meinem Mann (den ich Liebe) tja, wenn Wörtchen wenn nicht wär. Die Sensibilität steht mir im Wege. Ich kann die Zwischen menschlichen Töne nicht vergessen. Wie Stacheln in meinem Kopf. Wir sind jeder auf seine Art – sich Fügende -. Und durch das Leben, verletzlich und zerbrechlich.
Liebe Grüße – jetzt kann ich gut schlafen.