Warum Behinderung auch ein feministisches Thema ist

Das Logo von Die Neue Norm auf gelben Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: von Rea Strawhill.
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Triggerwarnung

In dieser Kolumne geht es um psychische, physische und sexualisierte Gewalt.

Am 8. März ist der Internationale Feministische Kampftag – und das ist wichtig! Doch eine Perspektive wird an diesem Tag oft vergessen: Die Perspektive von FLINTA* (Frauen, Lesben, Intersex Personen, Nicht-Binäre Personen, Trans Personen und ageschlechtliche Personen) mit Behinderungen. Denn aufgrund von Mehrfachmarginalisierung sind FLINTA* mit Behinderungen im Vergleich zu FLINTA* ohne Behinderungen besonders stark von Diskriminierung in unserer Gesellschaft betroffen – und darüber sollten wir sprechen! 

In Bezug auf Behinderung und Geschlecht gibt es einige wesentliche Bereiche, wo diese mehrfache Benachteiligung eine besondere Rolle spielt:

Disclaimer: Die Studien, auf die ich mich beziehe, trennen nur in binäre Geschlechter, weswegen ich die Daten auch so wiedergebe. Die genannten Faktoren wirken sich jedoch nicht nur auf cis Frauen oder Männer, sondern auch – und insbesondere – auf inter*, trans und nicht-binäre Geschlechter aus. 

Diskriminierung in Bildung und Beruf

Frauen mit Behinderungen werden häufig in der Bildung und am Arbeitsplatz benachteiligt. Menschen mit Behinderungen haben generell eine geringere Beschäftigungsquote im Vergleich zu Menschen ohne Behinderungen. Bei Frauen mit Behinderungen ist diese Zahl jedoch noch niedriger: 

Aktuelle Daten aus der EU zeigen, dass nur 20% aller Frauen mit Behinderungen einer Vollzeitbeschäftigung nachgehen. Bei Männern mit Behinderungen sind es 29%. Ähnlich sieht es in der Bildung aus: nur 15% aller Frauen mit Behinderungen haben einen Hochschulabschluss. Bei Männern mit Behinderungen sind es 17%.

Ökonomische Benachteiligung

Aufgrund dieser Diskriminierung haben Frauen mit Behinderungen das niedrigste mittlere Nettoäquivalenzeinkommen (16.822€/Jahr) im Vergleich zu nicht behinderten Frauen (20.100€/Jahr) sowie zu Männern mit Behinderung (17.746€/Jahr) und ohne Behinderung (20.935€/Jahr).  Das bedeutet, dass Frauen mit Behinderungen einem besonders hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind. 

Gewaltrisiko

Dieses Armutsrisiko kann zu finanzieller Abhängigkeit führen und einen Teufelskreis entstehen lassen: Diese Abhängigkeit kann zu einem hohen Risiko führen, psychische, physische oder sexualisierte Gewalt zu erleben, insbesondere in der Familie, in Beziehungen – oder auch in institutionellen Umgebungen. Daten zu Gewalt an Menschen mit Behinderungen zeigen nämlich, dass die Gewalt sehr häufig von Personen aus dem nahen Umfeld oder pflegenden Personen ausgeübt wird, und das Risiko bei Personen mit hohem Unterstützungsbedarf besonders groß ist. Die Daten zeigen auch, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen besonders gefährdet sind, Gewalt zu erfahren. Zudem sind Ressourcen für Opfer von Gewalt, wie zum Beispiel Frauenhäuser oder Hilfshotlines, für behinderte Menschen oft nicht barrierefrei gestaltet.

Reproduktive Rechte

Aufgrund veralteter Vorurteile, die immer noch sehr weit verbreitet sind, wird häufig angenommen, dass Menschen mit Behinderungen grundsätzlich kein Interesse an Sexualität haben. Das ist falsch! (Natürlich gibt es Menschen mit Behinderungen, die asexuell sind oder kein Interesse an Sexualiät haben, das hat jedoch in der Regel nichts mit ihrer Behinderung zu tun). Aufgrund dieser Annahmen wird sexuelle Aufklärung für sie selten zugänglich gemacht. Dabei stellt ein Mangel an Aufklärung einen großen Risikofaktor für sexualisierte Gewalt dar. Zudem sind immer noch viele gynäkologische Praxen für Menschen mit Behinderungen nicht barrierefrei zugänglich. Und es kommt noch heute vor, dass Menschen mit Behinderungen sterilisiert oder von Schwangerschaft bzw. Elternschaft abgehalten werden, da davon ausgegangen wird, dass sie keine guten Eltern sein können

Diskriminierung im Gesundheitswesen

Aufgrund von geschlechtsspezifischen Vorurteilen müssen Frauen (und Menschen, die von den Behandelnden als weiblich gelesen werden) oft sehr hart dafür kämpfen, dass ihnen geglaubt wird, wenn sie medizinischen Rat suchen (z.B. „Hysterie“: Patient*innen würden ihre Schmerzen übertrieben darstellen). Dadurch kann es passieren, dass es Jahre dauert, bis eine korrekte Diagnose gestellt wird. Frauen mit chronischen Erkrankungen sind besonders von diesem Gender Bias in der Medizin betroffen. Außerdem werden medizinische Studien oft vorranging an endo cis Männern durchgeführt, was dazu führt, dass es einen Mangel an Daten und Verständnis über die Körper von FLINTA* gibt. Studien zeigen auch, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Finanzierung der Erforschung von Krankheiten gibt: Die Erforschung von Krankheiten, die mehr Männer als Frauen betreffen, wird oft stärker gefördert.

Begriffserklärung:

FLINTA = Frauen, Lesben, Intersex Personen, Nicht-Binäre Personen, Trans Personen und ageschlechtliche Personen

Inter= Menschen, Menschen, deren körperliche, genetische und/oder hormonelle Merkmale nicht zu dem passen, was als medizinische Norm für Männer- und Frauenkörper festgelegt wurde.

Endo= Gegenteil von Inter

Trans= Menschen, die sich nicht mit dem Geschlecht identifizieren, dass ihnen bei ihrer Geburt zugeschrieben wurde

Cis= Gegenteil von Trans

Nicht-Binär/ Non-Binary= Menschen, die sich nicht, nicht immer oder nur zum Teil als Frau oder Mann identifizieren.

Wie können wir Gleichstellung erreichen?

Ohne Behindertenrechte auch aus einer feministischen und intersektionellen Perspektive zu betrachten und ohne Auswirkungen anderer  Faktoren wie zum Beispiel Herkunft, Hautfarbe, Geschlechtsidentität oder Sexualität auf das Erleben von Behinderung zu untersuchen, werden wir niemals wirkliche Gleichstellung für alle erreichen. Wir müssen patriarchale und kapitalistische Strukturen überwinden, die Menschen in Abhängigkeitssituationen halten und unausgeglichene Machtverhältnisse aufrecht erhalten. Wir müssen überall für mehr Sichtbarkeit und ehrliche Repräsentation kämpfen, damit wir schlussendlich mehr Bewusstsein für diese Themen in allen Lebensbereichen (z.B. in der Medizin, der Politik, am Arbeitsplatz und in der Bildung) erreichen.

 

Vielen Dank fürs Korrekturlesen an Ash (@ashducation) Malakay (@blubberpaste) und Maline (@girl.with.the.bookshelves)

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