Spoiler Alert
In dieser Kolumne werden einige Handlungsstränge dieser Romane und Filme vorweggenommen:
– Madame Bovary
– Der Name der Rose
– Mein Name sei Gantenbein
– Stoner
Zu Weihnachten wurden wir behinderte Menschen wieder reichlich beschenkt und unter den Geschenken war gewiss auch das eine oder andere gute Buch. Beispielsweise ein Roman der klassischen Moderne wie Gustave Flauberts Madame Bovary oder auch einer der Postmoderne wie Umberto Ecos Der Name der Rose. Letzteren kennen die meisten von uns sicher auch deshalb, weil sie ihn als Film oder Hörfilmgesehen oder gehört haben. In dem Film werden ein neugieriger Franziskanermönch und sein Gehilfe in einer Benediktinerabtei überraschend mit kriminellen Ereignissen konfrontiert.
Wer den Roman oder Film kennt, kann sich wahrscheinlich deutlich an jemanden von uns, einen Behinderten, erinnern, der darin eine Hauptrolle spielt. Ich denke natürlich an den blinden Bibliothekar Jorge von Burgos, der in der Klosterbibliothek eifersüchtig und verbissen häretische Schriften unter Verschluss hält. Er ist nicht nur ein religiöser Eiferer und Antiaufklärer, sondern entpuppt sich, sobald seine mörderische List und Tücke sichtbar werden, als regelrechter Teufel, der aus Fanatismus und Bosheit schließlich die Bibliothek und ihren Wissensschatz dem Raub der Flammen hingibt.
Literarische oder cineastische Sympathieträger sehen anders aus, keine Frage. Allerdings frage ich mich, wieso ausgerechnet Behinderte immer wieder die Rolle einer zwielichtigen Figur oder des “Bad Guy” spielen. Vielleicht weil sie sich für die nicht behinderte Majorität von LeserInnen oder ZuschauerInnen, für die Normalos also, gar nicht schlecht dazu eignen, sich zu fürchten und gehörig zu gruseln. Bieten sie nicht eine vorzügliche Projektionsfläche für Ängste und Horrorvisionen? – Weil ich Madame Bovary erwähnt habe, bei Flaubert sind es zwei eher beiläufige Szenen, in denen ein Behinderter auf schaurige Weise in Erscheinung tritt. Zur Illustration genügt die Szene auf dem Sterbebett: Madame Bovary bereits blau und schwarz entstellt vom Rattengift, bäumt sich ein letztes Mal auf bei der grässlichen Fiebervision jenes Schmäh- und Hohnlieder singenden Blinden, der ihr in der früheren Szene auf einer Straße von Rouen nachgestellt hatte.
Als ginge es um eine literarische Freak-Show, sind Blinde, Lahme und Bucklige in der Romanliteratur zu besichtigen. Es sind arme Teufel wie der verwachsene und warzenäugige Quasimodo, besser bekannt als der Glöckner von Notre Dame; und häufiger noch werden sie als leibhaftige Teufel geschildert oder zumindest als verschlagen, hinterhältig oder bösartig charakterisiert. Der Held in Max Frischs Roman Mein Name sei Gantenbein, der mit dunkler Brille und einem klöppelnden Stöcklein den Blinden mimt, ist in diesem Reigen noch eine ganz und gar harmlose Erscheinung, gibt seine Komödie doch lediglich das Bild des tapsigen und bemitleidenswerten Blinden klischeegetreu wieder.
Härtere Lektürekost – und für uns Betroffene schwerer zu verdauen – enthält der Campusroman Stoner von John Williams, der in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts an einer amerikanischen Provinzuni spielt. Darin gelingt es dem intriganten Dekan Professor Lomax, durch seinen Buckel und ein lahmendes Bein entstellt, sowohl die berufliche Karriere als auch das Liebesglück seines Kollegen, des Literaturdozenten Stoner, zu zerstören. Der Romancier John Williams zeigt auf ebenso subtile wie schonungslose Weise, wie ein „Krüppel“ (das Wort fällt im Roman) aus Verbitterung und Rachsucht ein anderes Leben und Lebensglück kalkuliert und systematisch vernichtet, das am Unglück und Leid seines eigenen Lebens keinerlei Schuld trägt. – Es ist dieser Text, dessen Hörversion (in einer wunderbaren Lesung durch den Schauspieler Burghart Klaußner über den Jahreswechsel auf SWR2 zu hören gewesen) mich zum Schreiben meiner Kolumne veranlasst hat. Ein erschütterndes und literarisch großartiges Buch! Bei dessen Lektüre sich mir die Frage stellte, was solch eine Darstellung von Behinderung mit uns Betroffenen macht.
Die Antwort liegt für mich auf der Hand: Die in diesem Zusammenhang nahezu archetypischen Szenen und Motive der Erzählung konfrontieren die LeserInnen unbarmherzig mit der gesellschaftlichen Realität des Stigmas Behinderung. Was dabei die nichtbehindertee LeserIn auf literarisch hohem Niveauunterhält, allenfalls Einfühlung und Empathievermögen in besonderer Weise herausfordert, macht dagegen mich als Betroffenen vor allem traurig, ein Stück weit auch wütend und intellektuell bis zu einem gewissen Grad ratlos.
Aber was machen wir Betroffene mit diesem Bild? Wir sollten und müssen es, meine ich, zunächst einmal zur Kenntnis nehmen. Allein mit der Beteuerung, es handle sich um ein hartnäckiges Klischee – einmal offen gelassen, inwieweit wir damit überhaupt richtig lägen – können wir es nicht aus der Welt schaffen und es den Normalos und vielleicht auch uns selbst einfach ausreden. Und soweit wir uns als AktivistInnen einer Behindertenbewegung verstehen und betätigen: Im Zuge einer fragwürdigen „Wokeness“ jene Texte zu beanstanden und die „behindertenunfreundlichen“ Darstellungen getilgt sehen zu wollen – neben dem N-Wort und dem Z-Wort, was ich für richtig halte, aus gegenwärtiger und zukünftiger Textproduktion auch das K-Wort zu verbannen, halte ich für keinen vielversprechenden Weg.
Für diesmal lasse ich es bei dem, was wir meines Erachtens nicht machen sollten. Was es heißt, die Herausforderung anzunehmen, vor die uns das Behindertenbild im Roman stellt, welches ja nur paradigmatisch für eine jahrhundertelange gesellschaftliche Stigmatisierung und Vorurteilsbildung steht, lässt sich in einem gemeinsamen, vielstimmigen Gespräch erörtern.
Ich bin kein Literaturwissenschaftler und mein Überblick über die Romanliteratur ist selbstverständlich begrenzt. Es gäbe da sicher noch einiges zusammenzutragen. Und eine weitere spannende Frage ist natürlich, wie verhält es sich mit der jüngeren Roman- und Erzählliteratur? Behinderten bin ich dem, was ich aus diesem Segment gelesen habe, bisher nicht begegnet. Außerdem wäre es interessant zu erfahren, wie von einer Behinderung „heimgesuchte“ AutorInnen von behinderten Menschen und deren Schicksal erzählen; gefallen hat mir Der Krüppel als Superheld – Kontrapunktisches kündigt sich hier bereits im Titel an –, der Roman des Schweizers Christoph Keller, der selber im Rollstuhl sitzt.
5 Antworten
Lieber Hans-Willi Weiß,
Vielen Dank für deine Überlegungen zu diesem vernachlässigten Aspekt der Literatur.
Christina Morales hat mit ihrem Roman “Leichte Sprache” einen wegweisenden Roman zum Thema vorgelegt, in dem vier als geistig behindert geltende, junge Frauen in den Fokus rücken.
Unbedingt lesen!
Gruß von David Jacobs
Danke lieber David, für den Hinweis.
Lieber Hans Willi Spieß,
ich kann auch noch mit einem zeitgenössischen Roman aufwarten: “Schon immer ein Krüppel” von Benjamin Schmidt und ein Buchprojekt von ihm und Franziska Appel “Fuck[dis]Ability” beides bei Edition Outbird. Ersteres gar als E-Book.
Liebe Grüße Dirk Rotzsch
Danke, Dirk Rotzsch für den Hinweis. Interessant, werde ich reinschauen.
Hans-Willi Weis
Ein weiterführender Artikel zum Thema Behinderung in Filmen (englisch):
https://www.theguardian.com/news/2023/mar/14/the-disabled-villain-why-sensitivity-reading-cant-kill-off-this-ugly-trope