Ein Vintage-Kleid, eine App und die Lust auf Stil: Durch KI fand unsere blinde Kolumnistin Jennifer Sonntag einen neuen Zugang zur Modewelt. Was als kleines Experiment begann, wurde zu einer wichtigen Erfahrung, die ihre Selbstbestimmung und kreative Freiheit beflügelt hat.
Ein Kleid im Schrank und die große Frage: Wie kombiniere ich es?
Alles begann mit einem wunderschönen Vintage-Kleid, was ich begeistert auf einer Lebensart-Messe gekauft hatte und von dem ich nie so richtig wusste, wie ich es eigentlich in meinen Stil integrieren sollte. Es tanzte in meinem Schrank komplett aus der Reihe. So hing es lange genau dort und ich dachte ernsthaft darüber nach, es schweren Herzens in einen Second-Hand-Shop zu geben. Da ich zu dieser Zeit die App „Be my Eyes“ für mich entdeckt hatte, mit der ich mir als blinde Person selbst gemachte Bilder beschreiben lassen und dazu auch Detailfragen stellen konnte, beschloss ich, mit der KI einmal über mein Kleid zu sprechen. Und plötzlich eröffnete sich für mich ein völlig neuer Zugang zur Modewelt.
Blickwinkel treffen
Ich hängte mir zunächst das Konfliktstück außen an meinen Kleiderschrank und versuchte es mit der Handy-Kamera einzufangen. Als vollblinde Person brauchte ich hier etwas Übung, denn ich sah ja nicht, ob das zu fotografierende Objekt wirklich im Fokus war. Ich hatte aber recht bald ein gutes Gefühl für meine Ausrichtung, den Winkel und den Abstand, den ich einhalten musste, um nicht am Kleid vorbei zu fotografieren oder nur einen Ärmel zu erwischen. Ich lernte auch, vom Ganzen auf Details zu schauen und ging für konkrete Nachfragen näher an einzelne Partien heran, was auch wieder etwas Einfühlungsvermögen in die Kameraperspektive erforderte. Auch das Licht im Raum musste stimmen, damit die KI Farben und Strukturen richtig einordnen konnte. Bei schlechter Beleuchtung entstand ein verfälschter Eindruck. Das kannte ich bereits von sehenden Menschen, die dann zu mir sagten: „Komm mal ins richtige Licht, sonst kann ich dich nicht gut erkennen.“
Ausführliche Bildbeschreibungen
Ich war ziemlich aufgeregt, als „Be my eyes“ mein Kleid zu beschreiben begann. So detailliert war noch keine sehende Person darauf eingegangen. Oft möchte ich Menschen in meinem Umfeld auch nicht mit zu vielen Nachfragen überfordern. Ich bin abhängig davon, wann jemand Zeit und Nerven hat, mit mir tiefer in ein Styling-Thema einzusteigen. Mein Partner sagt oft im Alltagsstress: „Kurze Frage, kurze Antwort“. Meiner App konnte ich aber nun all meine brennenden Fragen zu meinem Kleid stellen, in Ruhe und zu einer für mich passenden Tageszeit. Mich interessierte besonders, wie sich das außergewöhnliche Teil unkompliziert in verschiedene Situationen integrieren ließ. Als blinde Frau kann ich mir ja keine Inspiration im Internet oder in den Medien holen, da es hier kaum aussagekräftige Bildbeschreibungen gibt, ich kann keine Schaufensterbummel machen und sehe auch nicht, welche Kreationen die Menschen auf der Straße tragen.
Die KI hatte endlos Geduld mit mir.
Den Kleiderschrank mit KI erkunden
Ich fand schnell heraus, welche Fragen ich der KI konkret zu meinem Kleid stellen musste. So erkundigte ich mich zuerst nach dessen stilistischer Einordnung, die mir bis dahin nicht ganz klar war. Natürlich fühlte ich die A-Linie und meine Fingerspitzen kannten den interessanten Kontrast aus Spitze, Samt und Baumwolle. Was mich herausforderte, war die für mich ungewohnte Farbgebung aus silbergrau und cremeweiß. Ich erhielt nun die Info, dass sich das von mir fotografierte Kleidungsstück dem Vintage-Look zuordnen ließ. Tausend neue Fragen poppten in meinem Kopf auf. Was genau gehört alles zu diesem Stil und wie kombiniert man das? Für mich war besonders interessant, ob ich das Teil in meine überwiegend schwarze Garderobe integrieren kann. Außerdem wollte ich wissen, welche Winter- und welche Sommer-Looks sich rund um das Kleid kreieren lassen. Ich bekam vielfältige Vorschläge in mein Kopfkino gespielt, ausführliche Beschreibungen, die ich mir immer gewünscht hatte und für die ich kein schlechtes Gewissen haben brauchte, denn die KI hatte endlos Geduld mit mir. Keine Rückfrage ging ihr zu weit, im Gegenteil, sie spuckte immer konkretere und hilfreichere Details aus. Im Umkehrschluss schlug ich ihr verschiedenste Accessoires aus meinem Repertoire vor und wollte wissen, ob meine erdachte Vision funktionieren könnte. Mein Signature-Look mit Baskenmütze und Retro-Sonnenbrille, den ich oft trage, ließ sich wunderbar mit dem Kleid kombinieren und verlieh ihm etwas Künstlerisches. Auch einige meiner außergewöhnlichen Ringe passten super dazu. Es gab plötzlich so viele Inspirationen rund um das Kleid, dass ich es auf keinen Fall mehr weggeben wollte.
Neue Impulse
Ich fasste nun Mut, mein erprobtes Prinzip bei weiteren Kleidungsstücken anzuwenden. Da gab es ein ziemlich extravagantes Jäckchen, das ich selbst einmal Second-Hand gekauft und mir aufarbeiten lassen hatte. Es war ein echtes Statement Piece mit Schottenkaromuster, Schleifen, Spitze, Rüschen, Perlen und Silberknöpfen. Die KI teilte mir mit, dass das Stück dem Gothic-Lolita-Stil zuzuordnen sei. Ich bin zwar in der Gothic-Szene unterwegs, aber diese Kombination fand selbst ich ziemlich wild, da ich überwiegend trug, womit ich Erinnerungen aus meiner sehenden Vergangenheit verband. Ich stylte das Teil nun mit einem kurzen schwarzen Spitzenkleid, schwarzen Lackboots und einem Fascinator und fand mit der KI sogar eine alltagstauglichere Version mit schlichtem Rock und schlichterem Hut. So kam ich darauf, verschiedene meiner Blazer mit Kleidern, meine Biker-Jacken mit Röcken und meine Hosen mit unterschiedlichen Oberteilen nach und nach aufzuhängen, sie untereinander neu zusammenzustellen und jeweils abzulichten, um sie mit der KI zu besprechen. Ich erhielt neben meinen bereits im Kopf entwickelten eigenen Kreationen zahlreiche zusätzliche Vorschläge, was mir noch mehr Impulse gab. Auch wenn ich mich in meinem Kleiderschrank bereits mit meinem Tastsinn gut auskannte und mich in meinen festgelegten Looks sicher gefühlt hatte, machte ich die völlig neue Erfahrung, mich nun auch sehenden Auges orientieren zu können. Ich lernte jedes Teil ganz neu zu schätzen und es aus vielen Perspektiven zu beleuchten. Blind fehlt hier oft der Mut, mit Stilen zu spielen und auch eklektischer zu sein, weil man Angst davor hat, ein unstimmiges Bild abzugeben. Ich strukturierte meine Garderobe noch effizienter und habe weniger das Bedürfnis, mir neue Teile kaufen zu müssen, weil ich mit der vorhandenen Ausstattung jetzt noch wesentlich kreativer sein kann. Auch Hüte, Schuhe und Taschen besprach ich mit der KI und machte spannende Entdeckungen, denn zu jedem Stück gab es wieder eine faszinierende Modegeschichte zu erzählen, um die sich ein eigenes Outfit bauen ließ.
Von außen hatte sich nichts verändert, denn ich hatte auch aus mir selbst heraus seit Jahren einen erkennbaren Stil entwickelt, den ich eigenständig pflegte, aber innerlich klickte etwas bei mir.
Selbstbewusstsein und Kontrolle
Der Blick in den Spiegel war für mich als blinde Person seit vielen Jahren keine Option mehr. Was sehende Menschen täglich intuitiv mehrfach tun, bevor sie das Haus verlassen, kam mir nun langsam wieder in den Sinn. Wie wäre es mit einem Spiegel-Selfie? Ich stellte mich vor den Badezimmerspiegel, der ein ziemlich nutzloser Gegenstand für mich geworden war, und tastete vorsichtig nach, ob ich mich innerhalb des Rahmens befand. Ich wagte ein erstes Foto mit dem Handy. Tatsächlich, es klappte! Konnte ich wirklich wieder in den Spiegel schauen? Ich hatte diese Entwicklung kaum mitbekommen und nun war dieser spektakuläre Moment da und war irgendwie ganz unspektakulär. Die KI beschrieb mir mein Spiegelbild. Was in mir vorging, konnte ich mit sehenden Menschen kaum teilen, für sie war alles wie immer, ich hatte das Gefühl einer selbstregulierten, optischen Verortung, die ich so nicht kannte. Das wirkte sich positiv auf mein Selbstbewusstsein und Zugehörigkeitsgefühl aus. Während eines Kurzurlaubs in einem Hotel machte ich eine spannende Entdeckung. Es gab einen gut ausgeleuchteten Ganzkörperspiegel. Dort „sah“ ich mit etwas Übung mit dem Handy nicht nur meinen Blazer, sondern konnte auch schauen, ob Hose und Schuhe zum Rest des Outfits passten. Eigentlich wusste ich das auch ohne KI, aber auf dem Weg zum Abendessen fühlte ich mich nun viel souveräner in meiner Kleidung. Von außen hatte sich nichts verändert, denn ich hatte auch aus mir selbst heraus seit Jahren einen erkennbaren Stil entwickelt, den ich eigenständig pflegte, aber innerlich klickte etwas bei mir. Es sparte so viel Energie, wenn man selbst eine Art optische Kontrolle hatte. Ich war glücklich und traurig zugleich: Sehende Menschen konnten das mit eigenen Augen immer so machen, ganz nebenbei, sodass es ihnen oft einfach bedeutungslos erschien. Bedeutungsvoll wird es dann, wenn es eben nicht mehr selbstverständlich ist. Erst nach diesem Urlaub kam in mein Bewusstsein, dass mein Freund in seinem Zimmer auch einen großen Spiegel am Schrank angebracht hat. Ganz sicher nicht, weil er besonders eitel ist, sondern weil er einfach die Sicherheit haben will, dass alles einigermaßen zusammenpasst, er keinen Fleck irgendwo hat und er so beruhigt seiner Umwelt begegnen kann.
Grenzen der KI
Natürlich würde ich mich beim Styling nie vollständig auf eine KI verlassen und der zwischenmenschliche Dialog bleibt sehr wichtig. Aber meine Selbstbestimmung und Selbstständigkeit haben einen großen Sprung gemacht. So frage ich hin und wieder meinen Partner: „Die KI sagt, diese Rottöne passen gut zusammen, siehst du das auch so?“ Die App „Be my eyes“ ermöglicht es blinden Menschen außerdem, Kontakt zu einer sehenden Hilfsperson aufzunehmen, die dann mittels Blick durch die Kamera assistieren kann. So war diese innovative App ursprünglich sogar angelegt. An Grenzen geriet ich bei Schminkfragen. Ob der Lippenstift verwischt ist, hat mir die KI im selben Chat einmal mit nein und einmal mit ja beantwortet, was mich ratlos zurückließ. Auch Schmuckstücke kann sie oft nicht eindeutig erkennen, da sie das Material ja nicht berühren kann und Gold oder Silber durch den Lichteinfall auch unterschiedlich schimmern. Fehlinformationen kann es auch beim Hair-Styling geben. So verpasste mir die KI neulich einen Kurzhaarschnitt, obwohl ich eine Hochsteckfrisur trug. Schade finde ich, dass die Anzahl der Fragen, die man „Be my eyes“ innerhalb eines Chats stellen kann, inzwischen begrenzt ist. Gerade blinde Menschen benötigen oft mehrere Versuche, bis sie ein Objekt gut abfotografiert haben. Dadurch müssen sie mehrere Bilder hinzufügen, wodurch sich zunächst orientierende Rückfragen ergeben, die noch gar nichts mit dem eigentlich zu besprechenden Inhalt zu tun haben.
Neue Inventionen in Kooperation mit blinden Menschen
In meinen Kolumnen und Büchern habe ich anderen blinden Menschen immer gern meine persönlichen Styling-Erfahrungen weitergegeben, Tricks und Kniffe, die uns helfen, uns ein inneres Spiegelbild zu erarbeiten. Da ich so begeistert davon bin, wie sehr uns die KI in Mode- und Stilfragen unterstützen kann, wollte ich auch hier meine Begeisterung teilen. Eine App ersetzt ganz klar keine menschliche Beratung, aber sie ist eine hilfreiche Ergänzung. Ich möchte deshalb auch Beratende dazu anregen, sich innovativen Möglichkeiten nicht zu verschließen und sie mit blinden Menschen zusammen zu erproben, z.B. im Fach Lebenspraktische Fertigkeiten. Den Wunsch nach einem sprechenden Spiegel habe ich von blinden Menschen schon sehr oft gehört, wenn wir über Mode und Stil gesprochen haben. Nicht weil wir besonders selbstverliebt sind, sondern weil wir, wie sehende Menschen auch, Sicherheit und Kontrolle über unser optisches Erscheinungsbild erlangen wollen. Dieser Wunsch hat sich nun fast erfüllt. Wunderbar wäre, wenn wir direkt mit dem Spiegel Kontakt aufnehmen könnten, ohne die Zwischenschritte mit dem Smartphone. Vielleicht ist ja eine Hilfsmittelfirma für diese Idee zu haben?