Auf den Seiten 68, 69 und 70 gibt es den Text: “Zurück in die Zukunft: Warum wir Digitalisierung jetzt barrierefrei gestalten müssen”.
Zurück in die Zukunft: Warum wir Digitalisierung jetzt barrierefrei gestalten müssen
Wenn es um Barrierefreiheit geht, steht die deutsche Bundesregierung mit beiden Beinen auf der Bremse – das gilt für die physische wie für die digitale Welt. Geht nicht, können wir nicht – das ist das Motto. Treiber von Gesetzesinitiativen für eine barrierefreie Gesellschaft sind stattdessen die UN und die EU, auf nationaler Ebene wird davon nur das mindeste umgesetzt oder gar blockiert.
In Deutschland endet die Vorstellungskraft digitaler Barrierefreiheit bei der Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (die nächstes Jahr übrigens 20 Jahre alt wird). Und nicht mal diese wird konsequent umgesetzt: Ausschreibungen für digitale Produkte oder Dienstleistungen lassen Vorgaben zur Barrierefreiheit schmerzlich vermissen. Im besten Fall wird versucht, fertig programmierte Webseiten oder Apps im Nachhinein zähneknirschend noch irgendwie barrierefrei zu machen. Dabei könnte es so einfach sein: Die Technologie ist da und bietet alle Möglichkeiten, um Digitalisierung barrierefrei zu gestalten. Man muss es einfach nur machen!
Klingt nicht nach Raketenwissenschaften
Huch, warum klingelt denn der Wecker heute Morgen 30 Minuten früher? Ah, der Aufzug zur U-Bahn, den ich auf dem Weg zur Arbeit benutzen muss, ist kaputt und der Umweg dauert länger. Also raus aus den Federn und rein in den Rollstuhl. Unterwegs noch schnell die Karte für das Konzert nächste Woche buchen. Hat die Columbiahalle eigentlich ein Bodenleitsystem? Sonst wird das für meine Freundin Katrin doof mitzukommen. Ich google das mal schnell. Super, gibt es — und den Rollstuhlplatz konnte ich auch direkt online buchen, ganz ohne Anruf!
Diese Zukunftsvision hört sich gar nicht so visionär an, oder? Für jede zehnte Person in Deutschland würde sie aber einen gravierenden Unterschied machen und eines ermöglichen: Eine gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ohne Barrieren, ohne Sonderwünsche, ohne spezielle Bedürfnisse. In der Zukunft muss jede*r bei einer Hotelbuchung genauso einfach ein barrierefreies Bad online buchen können, wie ein Zimmer mit Meerblick. Und ob ein Video Untertitel hat oder eine Website in Leichter Sprache verfasst ist, ist keine Frage der Barrierefreiheit mehr. Es ist so selbstverständlich wie die Tatsache, dass in Zügen nicht geraucht wird. Die Züge haben bis dahin natürlich alle mehr als einen rollstuhlgerechten Platz.
Demokratie geht nur barrierefrei
Digitalisierung kann nur dann einen demokratischen Anspruch stellen, wenn sie barrierefrei ist. Das sollte 2030 eine Selbstverständlichkeit sein. Denn in dem Moment, wo durch Technik Menschen ausgeschlossen werden, ist der demokratische Grundansatz nicht gegeben.
Um dem entgegenzuwirken, müssen folgende Dinge passieren: Als Erstes etwas ganz Grundlegendes: Alle Menschen haben ein Recht auf gleichberechtigte Teilhabe in allen Bereichen des Lebens, sowohl im digitalen als auch im analogen. Das heißt: Barrierefreiheit ist nicht nice to have, sondern ein Menschenrecht! Jede*r Mensch hat ein Recht darauf, umfassenden Zugang zu einer Gesellschaft zu haben. Um das zu garantieren, braucht es umfassende gesetzliche Vorgaben, die Standards für Barrierefreiheit festsetzen — auch für die Privatwirtschaft.
Zweitens: Gesetze und Vorgaben sind ein erster Schritt. Aber ihre Umsetzung und Einhaltung muss überprüft werden. Hierfür braucht es Behörden mit Expertise in Sachen Barrierefreiheit. Außerdem brauchen sie Befugnisse, damit sie bei Missachtung von Verpflichtungen auch eingreifen können.
Barrierefreiheit muss Mainstream werden
Drittens: Es braucht nicht nur die gesetzliche Peitsche zur Umsetzung, sondern auch das Zuckerbrot in Form von Subventionen. Barrierefreier Umbau sollte genauso gefördert werden, wie die Photovoltaikanlage auf dem Dach oder das E-Lastenrad.
Viertens: Solange Barrierefreiheit als Nischenthema betrachtet wird und bei Gesetzesinitiativen nur als Nebengedanke auftritt, kann sie ihr Potenzial als Teilhabemotor nicht entfalten. Eine Ombudsperson für Barrierefreiheit in jedem Ministerium wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Nur so können wir erreichen, dass Menschen mit Behinderungen etwa bei Klima-, Verkehrs- oder Digitalpolitik von Anfang bis Ende mitgedacht und beteiligt werden.
Und Fünftens: Barrierefreiheit und Zugänglichkeit hilft allen Menschen. Jeder Mensch nutzt gerne einen Aufzug, statt Treppen zu laufen. Jeder Mensch mag automatisch öffnende Türen und ganz viele haben sich sicher schon über Untertitel im Video gefreut, wenn sie in der U-Bahn sitzen. Barrierefreiheit ist für alle da und genau den Stellenwert braucht das Thema in Politik und Gesellschaft. Das ist disability mainstreaming. Und das ist die Zukunft.
Sarah Krümpelmann
ist studierte Politikwissenschaftlerin. Vor allem aber recherchiert sie hingebungsvoll und bemüht sich, politisches Geschehen in seinen Kontext einzuordnen.