Auf den Seiten 36, 37 und 38 ist der Text: “Warum Ableismus Nicht-behinderten hilft, sich „normal“ zu fühlen”
Warum Ableismus Nicht-behinderten hilft, sich „normal“ zu fühlen
Bei #AbleismTellsMe erzählten behinderte Menschen von Diskriminierung. Was genau Ableismus eigentlich ist und wo der Unterschied zur Behindertenfeindlichkeit liegt, erklärt Rebecca Maskos.
Able- was? Schon wieder so ein neues fancy word in den Social-Media-Timelines? Ableismus und sein englischsprachiger Ursprungsbegriff ableism leiten sich ab vom englischen Begriff ability, zu deutsch: Fähigkeit. Entstanden in der englischsprachigen Behindertenbewegung, wird der Begriff erst seit etwa zehn Jahren auch in Deutschland verwendet.
Mit dem Twitter-Hashtag #AbleismTellsMe hat es Ableismus nun auch in deutsche Mainstream-Medien geschafft. Nachdem die US-amerikanische, behinderte Studentin Kayle Hill Anfang September unter #AbleismTellsMe über ihre Erfahrungen mit Diskriminierung twitterte, ging der Hashtag vor allem in Deutschland durch die Decke. In hunderten von Tweets berichteten User*innen von zum Teil krassen Erfahrungen der Ausgrenzung und Benachteiligung, Ausdruck des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung.
Ableismus zeigt sich, wenn wir als kompetentes Subjekt auf Augenhöhe nicht vorkommen, wenn wir unsichtbar scheinen, wenn über unseren Kopf hinweg über uns entschieden wird. Wenn unsere Freund*innen und Partner*innen als unsere „Betreuer*innen“ angesprochen werden. Ableistische Denkmuster führen alles, was wir tun, auf unsere Behinderung zurück: Wir sind schlecht gelaunt, mürrisch und einzelgängerisch oder aber neugierig, freundlich und nett, vermeintlich weil wir behindert sind. Wir tun alles trotz unserer Behinderung – unser Leben sei einzig und allein darauf gerichtet, unsere Behinderung zu überwinden. Ableismus lässt uns als vielschichtige Person verschwinden, hinter einer Wand von stereotypen Annahmen. Zum Beispiel, dass unsere Behinderung uns verbittert und depressiv macht, und dass es deshalb viel Mut braucht, wenn wir ein „ganz normales Leben“ führen. Oder, dass wir in allen Lebensbereichen hilflos und unfähig sind. Ableistisch ist die Anerkennung, die es regnet, wenn wir „trotzdem rausgehen“, „auch auf der Party dabei sind“, „uns nicht von unserer Behinderung aufhalten lassen“, oder ihr „die Stirn bieten“. Ableistisch ist aber auch die Missgunst, die wir für Behindertenparkplätze, Schwerbehindertenausweise und zusätzliche Urlaubstage bekommen. Oder die Frage, ob unser Leben überhaupt lebenswert sei und wir nicht hauptsächlich eine Last für unsere Familien darstellen.
Die Überschneidungen mit Behindertenfeindlichkeit sind offensichtlich. Hass und Gewalt, die früher und heute behinderten Menschen entgegenschlagen, sind in der Tat behindertenfeindlich. Auch die Frage, wie viele „Pflegefälle“ sich eine Gesellschaft noch leisten will, oder ob man in Zeiten knapper Ressourcen im Gesundheitswesen nicht priorisieren müsse, wessen Leben man erhält und wessen nicht. Der Begriff Behindertenfeindlichkeit trifft die Abwertung behinderten Lebens in ihrer ganzen Schärfe. Und dennoch ist es sinnvoll, wenn ihm der Begriff Ableismus zur Seite steht.
Ableismus im Alltag
Zum einen ist die Praxis im Umgang mit Behinderung nicht immer feindlich. Oft kommt sie eher freundlich daher, als Gratulation zum „Lebensmut“, als das überbordende, nicht immer hilfreiche Helfen im Alltag oder in Gestalt von nett gemeinten Tipps, wie man die chronischen Schmerzen einfach los wird. Zum anderen ist Ableismus breiter als Behindertenfeindlichkeit. Wie Rassismus und Sexismus bildet der Begriff nicht nur die Praxis im Umgang mit einer Gruppe ab, sondern auch die gesellschaftlichen Machtverhältnisse, die diese Praxis hervorbringen. Ableismus zeigt sich nicht nur im schrägen Kommentar oder im Kopfstreicheln, sondern auch in der Treppe ohne Rampe, im fehlenden Aufzug, in den Geldern, die Veranstalter*innen für Gebärdensprachdolmetschen, Live-Streaming oder Leichte Sprache einfach nicht aufbringen wollen. Der Begriff Behindertenfeindlichkeit kann umgekehrt auch suggerieren, dass es reicht, einfach nur die eigene Haltung umzuwandeln – nämlich in eine „behindertenfreundliche“.
Rassismus und Sexismus sind genau wie Ableismus nicht nur Denk- und Handlungsmuster, sondern auch Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse, die alle Menschen betreffen – auf sehr unterschiedliche Art und Weise. Weiße Männer beispielsweise müssen sich mit den Zumutungen einer rassistischen und sexistischen Gesellschaft kaum auseinandersetzen und finden es deshalb oft schwer, sie überhaupt zu erkennen. Auch nichtbehinderte Menschen erscheinen in diesem Zusammenhang privilegiert: Den energieraubenden Kampf mit Barrieren und Vorurteilen können sie sich sparen. Behinderte Menschen hingegen müssen sich nicht nur mit dem Ableismus der anderen auseinandersetzen. Zusätzlich besteht auch die Gefahr, dass man den von außen herangetragenen Ableismus verinnerlicht, dass man sich irgendwann selbst als minderwertig, als Belastung für die Gesellschaft sieht.
Parallelen zu anderen “-ismen”
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zu anderen -ismen: Eine Identität als nichtbehinderter Mensch ist fragil. Spätestens im Alter sind wir alle mittendrin im behinderten Leben: Kein Leben geht ohne Beeinträchtigungen zu Ende. Und in den allermeisten Fällen haben wir alle vorübergehend kleinere und größere Beeinträchtigungen im Laufe des Lebens. Alle machen wir Erfahrungen mit Beeinträchtigungen – mit Krankheiten, mit Abhängigkeiten von anderen, mit Hilfsbedürftigkeit, ohne jedoch dadurch automatisch behindert zu sein. Dennoch: Ein schwerer Unfall reicht und zack ist man Teil des „Clubs der Behinderten“.
Vielleicht ist das ein Grund, weshalb Behinderung so viel Angst und Unsicherheit auslösen kann – sie ist in Wirklichkeit näher dran am nichtbehinderten Leben, als den meisten Leuten lieb ist.