Wo ist der*die Dr. Sommer für Menschen mit Behinderung?

Aufgeschnittene Blutorange.
Häufig wird Obst als typisches Symbol für die Vulva verwendet. Foto: Klara Kulikova | unsplash.com
Lesezeit ca. 7 Minuten

Seit Jahrzehnten betreibt „Dr. Sommer“ in der Jugendzeitschrift BRAVO Aufklärungsarbeit und beantwortet Fragen rund um die Themen Liebe und Sexualität. Auch Menschen mit Behinderung treiben diese Themen um. Gleichzeitig fehlt es aber immernoch an diesen Perspektiven. Wo sind Anlaufstellen für behinderte Menschen? Ein offener Blick unserer Autorin Marei Beckermann auf Tabus, Unsicherheiten und den Wunsch nach Normalität in der Liebe.

Ich habe da mal eine Frage für alle Doktor*innen „Sommer“ dieser Welt: Wann ist der Punkt gekommen, an dem man dem Date sagt, dass es bei einem selbst im Intimbereich „anders“ ist?

Oder sagt man es am besten gar nicht beziehungsweise nicht für eine lange Zeit? Und wie lange ist diese Zeit? Oder sollte man lieber direkt mit der Tür ins Haus fallen, um die andere Person vorzuwarnen? Hat die Person, die man datet, ein Recht darauf, so etwas frühzeitig zu erfahren? Es sollte eine*n Doktor*in Sommer geben, der*die auf Dating von und mit Menschen mit Behinderung spezialisiert ist. Natürlich interessiert auch mich, wie ich „meinen Schwarm auf mich aufmerksam mache“ und „welche Kusstechniken diesen Sommer besonders angesagt sind“. Aber all das bleibt im Hintergrund, wenn man noch nicht einmal weiß, ob man auf sich aufmerksam machen und Kusstechniken ausprobieren sollte, weil das Damoklesschwert der Behinderung über einem schwebt. Häufig habe ich das Gefühl, ich bin es der anderen Person quasi schuldig, sie darüber zu informieren, was da eventuell auf sie zukommen könnte. Und gleichzeitig fällt es Menschen ohne Behinderung schon schwer, über sexuelle Intimitäten zu sprechen.

Der erste Kontakt mit den Themen Behinderung und Sexualität in einem Kontext war gemeinsam mit meinen Eltern und einem Arzt. Wie alt ich da war? Keine Ahnung; jedenfalls noch nicht alt genug, als dass ich damals schon ernsthafte Fragen in Bezug auf diese Thematik gehabt hätte. Sowieso hat eine ganze Zeit lang meine Mutter für mich gesprochen, was auch insofern in Ordnung war, als es mich stark entlastet und mir Sicherheit gegeben hat. War mein Vater dabei, musste ich mir noch weniger Gedanken machen, denn wenn sich jemand nach allen Eventualitäten erkundigt, dann ist das mein Vater. Also waren da noch mehr Fragen und noch mehr Antworten zu allen möglichen Themen, Ausgängen, Theorien, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Doch Fragen und Antworten meiner Eltern, so wichtig sie auch waren, waren eben nicht die meinen. Mit zunehmendem Alter wurde mir immer mehr Verantwortung übertragen: Ich habe immer mehr Besuche bei Ärzt*innen alleine gemacht und immer mehr für mich gesprochen. Ein sehr entscheidender Punkt auf diesem Weg war tatsächlich mein betreuender Nephrologe: Eines Tages hat er entschieden, dass es nun so weit sei, bei Terminen grundsätzlich mich anzusehen, anzusprechen und zu fragen anstelle meiner Eltern. Das mag banal klingen, aber gerade in der Kindermedizin sind viele Personen darauf gepolt, mit den Eltern zu kommunizieren und eben nicht mit den Kindern. Als ich nun begann, selber mit meinen Ärzt*innen zu kommunizieren, war ich äußerst ungeübt darin. Man mag sagen, das sei ja insofern unproblematisch, als man das einfach üben könne und Übung bekanntlich den*die Meister*in mache. Doch als all diese Fragen für mich relevant zu werden schienen, waren sie kein Thema mehr in den Sprechstunden. Sicher hätte ich den Raum und die Zeit dafür einfordern können, aber dazu fehlte mir der Mut und ehrlich gesagt auch die Kraft. Denn ja, auch Menschen mit Behinderung sind sexuell aktiv und interessiert – entgegen vieler Annahmen nicht zwangsläufig zu einem geringeren Grad als Menschen ohne Behinderung. Aber es sind eben mit einer Behinderung manchmal zahlreiche andere Themen verbunden, sodass die Sexualität häufig hinten ansteht.

Manchmal habe ich das Gefühl, dass Menschen mit Behinderung Sexualität und Intimitäten regelrecht verwehrt oder nicht als ein wichtiges Thema zugestanden werden. Vielmehr sollen wir uns erst einmal auf medizinische Art und Weise um unsere Körper kümmern – um den Homecare-Service, Krankenkassenabrechnungen, Rehas und Sanitätshäuser. Und dann soll das erst einmal reichen, denn „es gehe einem ja gut“. Auch bei mir war der Anspruch auf Sexualität und Intimität von innen gefühlt erst einmal vorbei. Und gleichzeitig frage ich mich, warum es bei mir und anderen Menschen mit Behinderung ein Anspruch und bei Menschen ohne Behinderung ein normales, menschliches Bedürfnis sein soll. Es ist kein hoher Anspruch, sich wie andere Menschen im gleichen Alter ausprobieren, selber erkunden und neue Erfahrungen machen zu wollen. Und gleichzeitig erschien es mir immer wie einer, ohne dass es jemals eine Person ausgesprochen hätte. Im Nachhinein glaube ich, dass ich meinen eigenen Körper immer sehr medizinisch, als etwas rein Physisches, das gar nicht so recht zu mir gehört, betrachtet habe. Es war etwas, das behandelt, operiert und versorgt werden musste. Und wenn ich dann Bilder von vergangenen Operationen gesehen habe, dann sah ich eben nicht mich, sondern eine Person, die operiert worden war; mein Körper war für mich getrennt von meiner Persönlichkeit. Daher ist es auch nicht sonderlich verwunderlich, dass es für mich lange Zeit weder ein Bedürfnis noch eine Normalität war, mich über die medizinischen Bedürfnisse heraus groß um mich zu kümmern. Das gilt zum einen für Ruhephasen, zum anderen aber eben auch für das Thema der Selbstbefriedigung. Bis heute kann ich den Drang, sich sexuell befriedigen zu wollen, schwer nachvollziehen. Dies geht so weit, dass Selbstbefriedigung eine Aufgabe war, die meine Therapeutin mir gegeben hat, um mich mir selbst, meinem Körper und meiner Sexualität anzunähern. Es klingt vielleicht paradox, dass eine Person, die schon lange über die Pubertät hinaus ist, so etwas als eine „Aufgabe“ erhält, die sich nicht wie etwas anfühlte, auf das es sich zu freuen galt. Aber wie sollte ich mich selbst als sexuelle Person, um die ich mich außermedizinisch kümmern darf und sollte, sehen, wenn ich im nächsten Moment im Sanitätshaus Rumpfkompressionshosen anprobieren musste und eine neue Operation geplant wurde? Es gab keinen Raum dafür. Und so ist es bis heute: Mit fast zweiundzwanzig Jahren kann ich an einer Hand abzählen, wie häufig ich mich selbst befriedigt habe.

Hinzu kommt die Scham in Bezug auf meine Behinderung. Grundsätzlich stellt sich für mich jedes Mal, wenn ich eine Person – auch nur freundschaftlich kennenlerne – die Frage, bis zu welchem Grad ich sie in meine Probleme und Themen involviere. Denn natürlich hat jede Person ihr Päckchen zu tragen. Und gleichzeitig werde ich wohl nie ganz das Gefühl loswerden, dass mein Päckchen von den Menschen in meinem Leben einfach mehr verlangt als die Päckchen anderer Menschen. Denn wenn man in mein Leben tritt, dann sind da Dinge wie Traumata, lebenslang stattfindende Termine bei Ärzt*innen und Aufenthalte in Krankenhäusern, mit denen man, wenn auch nur in zweiter Reihe, konfrontiert werden wird. Ich weiß, dass all das zu mir gehört und jede*r, der*die damit nicht umgehen kann, auch zwangsläufig kein*e gute*r potenzielle*r Partner*in für mich ist. Gleichzeitig möchte ich auch nie jemanden, der*die mit mehr Zeit damit klarkommen würde, abschrecken, indem ich das alles zu schnell erzähle.

Und dann ist da die Sache mit den wirklichen physischen Konditionen. Ich wurde im Rahmen meiner chronischen Erkrankung mit einem sogenannten „Tethered Cord“ geboren, der im Laufe meines Lebens noch zwei weitere Male entstanden ist. Kurz gesagt hatte er eine Schädigung meiner Nerven inklusive Taubheitsgefühle abwärts der Lendenwirbel sowie eine Blasen- und Darminkontinenz zur Folge. Damit ist auch beim Sex und anderen Berührungen und Kontakten im vaginalen Bereich alles ein bisschen taub. Schön ist dies zwar trotzdem für mich, aber durch die verletzten Nerven ist es auch schwieriger, dass ich einen Orgasmus erlebe und ich kann nicht so einfach äußern, welche Berührungen mir besonders gut gefallen. Das hat bei Sexualpartner*innen nicht nur für Verwirrung, sondern auch häufig für Unverständnis gesorgt, sodass bis zu einem gewissen Grad eine Scham über mein entsprechendes „Unvermögen“ und Unwissen in Bezug auf meine sexuellen Vorlieben entstanden ist. Natülich gibt es auch viele Menschen ohne Behinderung, die nicht wissen, was ihnen sexuell gefällt, jedoch ist dies bei mir besonders der fehlenden Betrachtung meiner selbst als Mensch mit Behinderung, der auch sexuell ist, und meinen physischen Konditionen geschuldet. Darüber hinaus war ich immer schon voller Sorge, dass sich der Sex nicht nur für mich, sondern auch für meine*n Partner*in anders als beim Sex mit einem Menschen ohne Behinderung anfühlen würde. Ein besonders hohes Level erreichte diese Angst, nachdem ich 2017 mit vierzehn Jahren mit einem Gebärmuttervorfall diagnostiziert und auch daran operiert wurde. Die Diagnose allein war schon insofern erschreckend, als ein Gebärmuttervorfall nur äußerst selten bei Personen in meinem Alter vorkommt und ich daher auch lange Zeit mit einer falschen Diagnose, Schmerzen und Ungewissheit gelebt habe. Die Operation war nötig, aber bedeutete eben auch, dass die sexuell intimste Stelle meines Körpers bereits mit 14 Jahren mit Narbengewebe versehen sein würde. Ab diesem Zeitpunkt stieg die Gewissheit, dass in Zukunft gynäkologisch noch einiges abzuklären sein wird und eine natürliche Schwangerschaft problematisch werden könnte. Doch darüber spricht niemand mit einer 14-Jährigen; die Ängste bleiben bei mir allerdings trotzdem. Ich hätte mir jemanden gewünscht, der*die mit mir darüber spricht, inwiefern meine unsichtbare Schwerbehinderung auch mein Sexualleben und meine Familienplanung betreffen könnte. Jemanden, der*die mir sagt, ob ich meine chronische Erkrankung vererben kann und jemals Kinder bekommen könnte und welche Folgen es gegebenenfalls für das Kind geben könnte. Jemanden, der*die auf Gynäkologie und Sexualität bei Spina Bifida spezialisiert ist. Doch das Problematische ist: Dieser Jemand fehlt. Das mag wohl an verschiedenen Aspekten liegen. Zum einen werden Sexualität und Intimität ohnehin noch wenig und wenn dann häufig schambehaftet in der Gesellschaft thematisiert. Zum anderen stehen bei Menschen mit Behinderungen meist erst andere, medizinisch bedeutsame und kritische physische Konditionen im Raum, mit denen es sich zu beschäftigen gilt. Und es fehlt die Interdisziplinarität: Es bräuchte ein umfassenderes Verständnis von Behinderung, mit dem ein Bewusstsein dafür verbunden ist, dass eine Behinderung mehr bedeutet, als eine rein physische Kondition. Eine Behinderung bedeutet häufig auch eine Reduzierung auf die eigenen Diagnosen. Ein Absprechen von menschlichen, für andere als normal verstandenen Bedürfnissen nach Intimität und Sexualität. Ein gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper und der eigenen Libido. Eine Unwissenheit über all das, was interdisziplinär mit der eigenen Erkrankung zusammenhängt. Und wie häufig bedeutet eine Behinderung eben auch Scham, vor allem in diesem Kontext.

Vielleicht gibt es eines Tages eine*n Doktor*in Sommer, der*die auch die Fragen von Menschen mit Behinderung beantworten kann. Vielleicht kommen wir als Gesellschaft aber auch an den Punkt, an dem wir Menschen mit Behinderung endlich genauso sexuell aktiv denken und wahrnehmen wie Menschen ohne Behinderung. Ich hoffe es.

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Eine Antwort

  1. Liebe Marei,

    Vielen Dank für deinen Artikel ! Mit deinen Worten machst du auf ein unglaublich wichtiges Thema aufmerksam, Sexualität wird in unsere Gesellschaft insgesamt viel zu sehr tabuisiert und ist mit vielen Erwartungshaltungen verbunden. Für mich ist es unglaublich schade, dass die Gesellschaft in welcher wir Leben uns so erzieht uns zunächst zu Fragen „Wie mache ich meinen Schwarm auf mich aufmerksam?“ und „welche Kusstechniken sind angesagt?“, als das wir uns fragen „Was bedeutet Konsens?“, „wie kommuniziere ich über meine Wünsche und Bedürfnisse?“.

    Während meine Gedanken häufig bei dem Problem der Tabuisierung und Stigmatisierung geblieben sind, hat dein Artikel mir geholfen warum es so wichtig ist weiter zu denken, damit weitere Barrieren erkannt und benannt werden können. Ich denke, dein Artikel ist eine Ermutigung für alle Menschen mit Behinderung und ein „Augenoffner“ für alle Menschen ohne Behinderung.
    Ich bin mir sicher mit deinen Worten trägst du entscheidend dazu bei unsere Welt ein bisschen Toleranter und Offener zu machen und zeigst auf, warum es wichtig ist sich gegenseitig zuzuhören und zu akzeptieren.
    Vielen Dank dafür !

    Mit lieben Grüßen Ronja 🙂

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