Beinahe ein Jahr haben behinderte Menschen gegen das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG) von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn protestiert. Nun ist es im Bundestag verabschiedet worden. Constantin Grosch mit einer Chronik des Widerstands.
Wo wird mein Zuhause zukünftig sein? Diese existentielle Frage stellten sich im Sommer 2019 viele Menschen mit Behinderungen, die auf Beatmung angewiesen sind. Grund war ein Ende Juli 2019 öffentlich gewordener Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums. In diesem sollte die sogenannte häusliche Krankenpflege für Intensivpflegepatienten neu geordnet werden. Insbesondere Menschen, die einer Beatmung oder anderweitigen ständigen Behandlung und Pflege bedürfen, hätten nur noch in Kliniken und Heimen untergebracht werden sollen.
Selbstbestimmt leben wird nicht zugetraut
Noch im August riefen die sechs Vereine NITSA, ForseA, AbilityWatch, akse, ALS-mobil und die Sozialhelden zu einer Protestkundgebung gegen das Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz (RISG), wie es damals noch hieß, auf. Am 18. August – dem Tag der offenen Tür des Gesundheitsministeriums – versammelten sich an die hundert Betroffene und besetzten zwischenzeitlich die Bühne im Foyer des Gebäudes. Erst als Gesundheitsminister Spahn die zunehmend gereizte Versammlung begrüßte und Gespräche mit Vertreter*innen zusagte, verlagerte sich die Kundgebung vor das Ministeriumsgebäude.
Die Äußerungen des Ministers erweckten den Eindruck, als sei ihm gar nicht klar, das ein selbstbestimmtes Leben mit hohem intensivpflegerischen Bedarf möglich und erstrebenswert sei. Auch in den folgenden Gesprächen zwischen Aktivist*innen und Referenten des Ministers zeigte sich, dass gar nicht daran gedacht wurde, dass Menschen durch persönliche Assistenz oder Pflege von Angehörigen auch in der eigenen Häuslichkeit leben können.
Waren es bis zum Herbst ausschließlich Einzelpersonen und kleine Vereine, die überhaupt auf die Problematik des Gesetzesvorhaben hinwiesen, wachten nun auch die großen Verbände auf. Der Sozialverband Deutschland (SoVD), der in einer ersten Ad-hoc Stellungnahme Ende Juli 2019 das Vorhaben begrüßte, ging nun auf die Kritik der Betroffenen ein. Auch der Deutsche Behindertenrat und die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe kritisierten das Vorgehen des Ministeriums. Eine Petition fand über 200.000 Unterstützer*innen und unterstrich, dass es sich nicht nur um Einzelschicksale handelte.
Entwürfe, Umbenennungen, Änderungsanträge
Dem steigenden Druck begegnete das Ministerium mit immer wieder neuen Entwürfen und dem Umbenennen des ungeliebten Projekts: aus RISG wurde das Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG). Inhaltlich schien der Minister einer Salami-Taktik zu folgen. Mit jedem Entwurf – am Ende waren es fünf – wurden kleinste Veränderungen vorgenommen, die zur Befriedung der Kritik gedacht waren, ohne aber an der grundsätzlichen Richtung des Gesetzes etwas zu verändern. In der gesamten Zeit konfrontierten Betroffene den Minister bei jeder sich öffentlich bietenden Gelegenheit. Trotzdem wurde die Problematik und das Gesetzesvorhaben in der Öffentlichkeit kaum debattiert. Eine mediale Berichterstattung fand praktisch nicht statt.
Dies verschärfte sich im Frühjahr 2020. Nachdem das Gesetzgebungsverfahren wiederholt verschoben wurde, führte nun die Corona-Zeit zu einer neuen Absurdität. Obwohl Verbände und Betroffene seit annähernd einem Jahr gegen das Gesetz protestierten, wurde die entscheidende Anhörung von Expert*innen im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages faktisch ohne Öffentlichkeit durchgeführt.
Prompt startete in den sozialen Netzwerken eine Verhüll-Aktion. Beatmungspatient*innen verhüllten sich mit Decken. Sie würden nicht wahrgenommen und gehört werden in diesem Verfahren, so die Botschaft.
Ende Juni dann wurden die Parlamentarier*innen doch noch aktiv. Die Oppositionsparteien Die Linke, FDP und B90/DieGrünen legten einen eigenen Änderungsantrag vor und auch die Regierungsfraktionen einigten sich drei Tage vor der finalen Lesung im Bundestag auf Änderungen. Diesen zufolge könnten zumindest die größten Bedrohungen des Lebens in den eigenen vier Wänden abgewendet werden. Eine Lösung der Vermischung verschiedenster Hilfsstrukturen ist damit aber nicht erreicht. Denn nach wie vor werden selbstorganisierte Assistenzmodelle mit Pflegedienstleistern oder stationären Einrichtungen verglichen und ähnlichen Prüfungen unterzogen. Dem langjährigen Ziel, ambulante vor stationäre Versorgungsstrukturen zu stellen, ist man damit nicht näher gekommen – ganz im Gegenteil.
Gefahr noch nicht gebannt
So scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Menschen mit Behinderungen erneut um das Verbleiben in den eigenen vier Wänden bangen müssen. Werden sie frühzeitig von Angriffen auf ihr Selbstbestimmungsrecht erfahren und wird sich die Öffentlichkeit dann mehr für ihren Kampf interessieren?
Den heutigen Gesetzesbeschluss des Bundestages können die Betroffenen aber trotzdem als Erfolg für sich verbuchen. Sie haben nicht nur wichtige Aufklärungs- und Recherchearbeit betrieben, sondern sich in vielen Punkten gegen den Bundesgesundheitsminister durchgesetzt und Änderungen am Gesetz bis zum Schluss erkämpft.
Gewissermaßen ist Herr Spahn mit seinem Angriff auf die Selbstbestimmung behinderter Menschen an der Behindertenbewegung gescheitert. So sehr sich Betroffene über diesen Erfolg freuen dürfen, so deutlich wird aber auch eine grundsätzliche Problematik: Menschen mit Behinderungen mussten in den letzten Jahren nahezu ausschließlich Abwehrkämpfe führen. Ein Aufbruch zu mehr Selbstbestimmung und Teilhabe sieht anders aus.
3 Antworten
Hallo Constanin!
Auf keinen Fall dürfen wir dem Herrn Spahn den Eindruck vermitteln, dass er vor uns Ruhe hat. Ganz im Gegenteil sogar! Der Druck muss sich noch erhöhen und zur Not müssen wir vor das Bundesverfassungsgericht ziehen und eine eindeutige Änderung einklagen.
Erschreckt hat mich der Absatz: “Die Äußerungen des Ministers erweckten den Eindruck, als sei ihm gar nicht klar, das ein selbstbestimmtes Leben mit hohem intensivpflegerischen Bedarf möglich und erstrebenswert sei. Auch in den folgenden Gesprächen zwischen Aktivist*innen und Referenten des Ministers zeigte sich, dass gar nicht daran gedacht wurde, dass Menschen durch persönliche Assistenz oder Pflege von Angehörigen auch in den eigenen Häuslichkeit leben können.”
Das zeigt doch, man muß ganz von vorne anfangen…und es gibt einfach keine Berührungspunkte, oder?!
Vielen Dank für diesen Bericht über das Rehabilitationsstärkungsgesetz. Schade, dass nicht daran gedacht wurde, dass Menschen durch persönliche Assistenz oder Pflege von Angehörigen auch in der eigenen Häuslichkeit leben können. Meine Tante lebt mit einer Behinderung und hat zum Glück eine persönliche Assistenz, die ihr ermöglicht, den Alltag zu bewältigen.