Schönheit als Stärke, Lippenrot als Statement, Rebellion gegen Rollenbilder: In Teil 3 erzählt Jennifer Sonntag, wie sie sich als erblindende Frau gegen normierte Vorstellungen von Weiblichkeit, Sexualität und Behinderung aufgelehnt hat – mit Stil, Kunst, Eigensinn und einer Prise Parfum.
Styling als Selbstermächtigung
Ich befasse mich gern mit Schönem, um das Unschöne besser beim Kragen packen zu können. Deshalb möchte ich auch manchmal in Lippenstiftfarben denken und mir ein Parfum auftragen, was mich optimistisch durch den Tag trägt. Ich bin in einem Reha-System aufgewachsen, in dem einige Pädagog*innen der alten Schule es nicht so gern sahen, wenn man sich als sehbehindertes Mädchen für Mode und Styling interessierte. „Quadratisch, praktisch, gut“ war die Devise. Kurze Kleidchen, lange Haare, auffällige Ohrringe, alles nicht gerade erwünscht. Sicher schwang bei unserem Erziehungspersonal auch immer die Angst vor sexuellem Missbrauch mit, was nicht ganz unbegründet war, denn den gab es auch an unserer Schule, ausgeübt von einem der damaligen Internats-Pädagogen. Dennoch mochte ich meinen „Mädelskram“, denn ich sah mich nicht mit den Augen erwachsener Männer. Ich war ein Girl mit BRAVO-Sozialisation, nur eben mit Sehbehinderung, was dazu führte, dass ich von nicht behinderten Gleichaltrigen abgelehnt wurde.
Abgrenzung aufgrund von Ausgrenzung
So erlebte ich auf dem Regelgymnasium Ausgrenzung und Mobbing. Zu den Markenmädels konnte ich nicht dazugehören und ich litt zunehmend unter ihrem Tussi-Overload. Als Reaktion auf diese Erfahrung lehnte ich nun konsequent alles ab, was Mädchen in der Mainstream-Welt so trugen und machten. Ich ging in die Punkszene. Schwere Stiefel, Lederjacke mit Baumarktketten, krasse bunte Haare – das kaschierte meine Dioptrien. Inzwischen war kaum zu unterscheiden, ob ich Junge oder Mädchen war, unisex, Was manch alter Reha-Pädagogin hätte entgegenkommen müssen. Aber mit diesem extremen Look stellte ich, zurück an der Sehbehindertenschule, natürlich einen neuen Störfaktor dar. Später glitt ich von der Punk- in die Gothic-Szene über und kleidete mich wieder betont feminin und der Subkultur entsprechend auch betont schwarz. Diese Zeit war eine sehr bildungsintensive Phase in meinem Leben und meine Kleidung war der Ausdruck einer tiefgründigen und sinnlichen Auseinandersetzung mit der Welt um mich herum und meinem eigenen Erblindungsprozess. Ich kreierte meinen Look jedoch nicht für Männer, von denen sich manche durch meine extravagante Aufmachung nun übertrieben angezogen fühlten. So erlebte ich viele „falsche Engel“, die mir nicht nur über die Straße, sondern am liebsten auch gleich ins Schlafzimmer geholfen hätten.
Halt und Haltung
Mir wurde bewusst, dass ich diese Erfahrungen als sehende Frau nicht in einer so extremen Weise machen würde. Aber sollte ich mich deshalb in Sack und Asche hüllen? Sollten die Reha-Pädagoginnen der alten Schule doch Recht behalten? Als junge Frau bekam ich nun nochmal mehr zu spüren, was das Mädchen damals in seiner kindlichen Naivität noch nicht reflektieren konnte. Ja, es machte mir Angst, mit zunehmender Erblindung schlechter aus heiklen Situationen fliehen zu können. Aber es war eigentlich egal was ich tat und wie ich mich kleidete, Gewalt war immer ein Thema und Menschen hatten sich mir gegenüber in verschiedensten Lebensphasen übergriffig verhalten: weil ich eine Behinderung hatte, weil ich der Punk- oder der Gothic-Szene angehört hatte, weil ich mal zu hübsch und mal zu hässlich angezogen war. Aber war ich deshalb „nicht richtig“? Erst mit über 40, in unserem Selbstverteidigungskurs für blinde Frauen, durfte ich lernen, dass eher an denen, die andere mobben, zusammenschlagen oder missbrauchen, etwas „nicht richtig“ ist. Halt und Haltung gab mir in den letzten Jahren, insbesondere seit ich zusätzlich mit starken Schmerzen und ME/CFS lebe, die Kunst der mexikanischen Malerin Frida Kahlo. Ich bedauere sehr, dass ich das Gesamtwerk, was sie hinterließ, nicht sehen kann. Ihre Art, die eigene Behinderung und die damit verbundenen Schmerzen sowohl in ihr kreatives Schaffen als auch in ihren Modestil zu integrieren, empowert mich immens und stärkt mein Selbstbewusstsein.
Schönheit als Akt der Selbstfürsorge
Auch wenn ich mich nicht als besonders oberflächlichen Menschen bezeichnen würde, ganz im Gegenteil, spielt auch das Thema Beauty in meinem Leben eine nicht unerhebliche Rolle. Sehende Kundinnen fragten manchmal neugierig meine Kosmetikerin oder Nageldesignerin, warum sich „die Blinde“ diesen Behandlungen unterzöge, wenn sie doch ohnehin nichts mehr sehen könne. Ich verstehe diese Gedanken nicht. Hört Frau auf sich zu pflegen, nur weil sie erblindet ist? Gerade bei schwindender Augenkontrolle kann es doch sinnvoll sein, diese Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, um sicher zu gehen, dass alles im Rahmen ist. So traue ich mir z.B. nicht mehr zu, mir vollblind allein die Haare zu färben. Es gibt jedoch viele Handgriffe im Beauty-Bereich, die ich sehr wohl selbstständig bewältigen kann und darüber habe ich ein Buch geschrieben. In „Der Geschmack von Lippenrot“ biete ich blinden Frauen eine Schminkschule für den Spürsinn und einen Image-Ratgeber an und gehe mit ihnen von Körperkult bis Kleiderschrank durch viele Themen, die unser inneres und äußeres Spiegelbild betreffen. In den insgesamt 20 Jahren, die ich überwiegend sozialpädagogisch tätig war, kamen immer wieder Mitblindinen auf mich zu und baten mich, meine Selbststärkungskurse speziell für die Bedürfnisse blinder Frauen zuzuschneiden. So entstanden umfangreiche verschriftlichte Workshop-Sammlungen.
(Fehlende) Vorbilder
Bemerkenswert ist, dass es bereits 50 Jahre her ist, als erstmals eine erblindete Frau für andere blinde Frauen eine Handreichung zum blinden Schminken veröffentlicht hatte. Das war das Pirozzi-Papier. Sehende Frauen werden im Gegensatz dazu täglich mit neuen Beauty-Tipps überschwemmt, die für uns blinde Anwenderinnen jedoch anders geschrieben werden müssen. Natürlich möchte ich auch blinde Männer und generell alle blinden Menschen ansprechen, die sich für meine Themen interessieren. Gleichermaßen respektiere ich aber auch blinde Frauen, die gar nichts mit Mode am Hut haben und denen der Lippenstift getrost gestohlen bleiben darf. Das ist auch vollkommen ok. Mir ist nur wichtig, dass jede von uns selbstbestimmt wählen kann und nicht verbittert, weil sie sich fühlt wie der Fuchs, der nicht an die Trauben kommt. Mir fehlten als junge erblindende Frau behinderte Vorbilder aus der Popkultur, besonders andere Frauen, mit denen ich mich identifizieren konnte. So entwickelte ich mich in einer visuell geprägten Welt stets aus mir selbst heraus, egal ob vor Foto- und Fernsehkameras, auf Lesebühnen oder vor meinen Seminargruppen.
Mediale Klischees
Auch in meiner Rolle als blinde Schriftstellerin, die erotische Texte schrieb, fühlte ich mich lange mit meiner Ambition allein. Warum war es mir überhaupt wichtig, neben meinen eher sozialpädagogisch und autobiografisch geprägten Büchern, dieses Genre zu bespielen? Es hatte mit gesellschaftlichen Denkmustern und reproduzierten Bildern in den Medien zu tun, mit denen ich nicht einverstanden war. Manchmal setzten Frauenzeitschriften wirklich gute Beiträge über mich um, häufig wurde jedoch vermittelt, dass behinderte Frauen ja froh sein könnten, überhaupt einen Partner abzubekommen. Der nicht behinderte Mann wurde dann als heiliger Samariter in den Himmel gehoben. Dieser Blick auf behinderte Frauen ließ mich auch künstlerisch wehrhaft werden. Hatten wir nicht eine ganz eigene Leidenschaft, Sinnlichkeit, einen eigenen Hunger und auch eigene Forderungen?
Eigene Projekte
Ich rief mit meinem Buch- und Lebenspartner Dirot das Kunst- und Literaturprojekt „Liebe mit Laufmaschen“ ins Leben. Darin geht es jedoch gerade nicht um uns als Paar, sondern um unsere Protagonist*innen, die alle eine symbolische „Laufmasche“, einen Lebensriss mitbringen, den wir jenseits von Behinderung reizvoll und diskutierbar finden. Parallel zu unserem Buch begann ich, Ideen für erotische Kohlezeichnungen zu entwickeln und diese sogar blind gemeinsam mit meinem sehenden Partner auf Papier zu bringen. Die Ergebnisse können sehende und auch blinde Betrachtende, mittels Bildbeschreibungen, auf der Plattform „Galeriegeflüster“ erkunden. Dort gibt es dank unserer Kreativfreundin Franziska Appel auch weitere digitale Ausstellungen verschiedener Inklusionsprojekte zu entdecken. In „Liebe mit Laufmaschen“ konnte ich zeigen, dass ich als blinde Frau ein lebhaftes Kopfkino besitze und aufregende und auch durchaus abgründige Reibungsfelder jenseits von Behindertenklischees erzeugen kann. Dabei erlebe ich es als spannend, doppelte Böden zu schaffen, Machtgefälle zu hinterfragen und Klischees ins Gegenteil zu verkehren. Heute würde ich deutlich woker schreiben als 2015, als wir das Buch veröffentlichten, aber viele Inhalte trafen schon damals den Nagel auf den Kopf. So erzähle ich z.B. in „Kaspertheater“ vom Umgang eines Rockstars mit seinen weiblichen Fans im Backstage und das war weit vor der Rammstein-Debatte. Im Gegensatz zu den meisten meiner anderen Bücher spielt das Thema Behinderung hier jedoch nicht mal eine Nebenrolle. Vielleicht brauchte ich jenen Befreiungsschlag als blinde Autorin, weil ich eben nicht permanent über meine Blindheit definiert werden wollte.
Rebellion gegen die Einengung durch Stereotype
In der Rückschau frage ich mich oft, ob ich als junge Frau auch diese starken Ausdrucksformen gesucht und gefunden hätte, wenn ich nicht erblindet wäre. Man könnte glauben, ein Mensch, der sein Augenlicht verliert, hat andere Prioritäten, als sich mit Stilfragen oder Sexualität zu befassen. Andere Sorgen hatte ich tatsächlich reichlich. Wie sollte ich jemals die Braille-Schrift und das Laufen mit dem weißen Langstock erlernen? Schon das Eingießen einer Tasse Tee war anfangs für mich eine kaum zu bewältigende Herausforderung. Die ganze Welt um mich herum wurde unsichtbar. Nichts funktionierte mehr wie zuvor und mein Sehvermögen wurde stetig schlechter, was mich während meines Abiturs, Studiums und späteren Berufseintritts immens forderte. Und ich bekam diesen heftigen Identitätsverlust von einer als sehend wahrgenommenen Person hin zur erblindeten, extrem zu spüren. Umso extremer wurde mein Output. Gerade als junge Frau, die voller Lust und Leidenschaft und Fragen an das Leben war, rebellierte ich gegen die Vorstellungen, die man von blinden Menschen hatte und von denen auch ich geprägt war. Diese Auflehnung erlebte ich als Aufwärtsbewegung in meiner Behinderungsverarbeitung, jenseits oktroyierter Erwartungshaltungen. Ich wollte genau mit den Inhalten sichtbar werden, die man einer blinden Frau absprach. Heute teile ich meine Themen als blind.feminista auf Instagram.