In Teil 1/3 ihrer Kolumne erzählt Autorin Jennifer Sonntag darüber, wie ihre Selbstwahrnehmung als Frau durch Fremdwahrnehmung geprägt wurde, welche internalisierten Vorurteile sie selbst beschäftigt haben und welche Auswirkungen das auf ihre Partnerschaften und der Frage nach Mutterschaft hatte.
„Eine richtige Frau?“ – Ableismus im Alltag
„Haben Sie mal darüber nachgedacht, sich eine richtige Frau zu suchen?“, fragte die Fernsehjournalistin meinen verdutzten Partner während der Dreharbeiten zu einem Beitrag für die ARD. Auch ich war eine Frau vom Fernsehen und der Sender wollte meine Arbeit als blinde TV-Moderatorin begleiten. Ein kleines bisschen Privatleben sollte auch dabei sein. Wir suchten mein Lieblingsschmuckgeschäft auf und mein Freund sollte mir vor der Kamera eine extravagante Kreation nach der anderen zum Ertasten in die Hand reichen. Die Fernsehjournalistin, selbst bekennend auf Partnersuche, fand das sehr rührig und stellte natürlich „nur im Interesse der Zuschauer*innen“ die obige Frage. Ich hatte mehrere Tage daran zu knabbern und mein Partner auch. Immerhin hatten wir für den Beitrag mehrere meiner Wirkungsstätten besucht und gezeigt, was ich als „richtige“ Frau, als Sozialpädagogin, Autorin, Journalistin und Aktivistin auf die Beine stellte. Was aber blieb, war die unvollkommene Weiblichkeit aufgrund meiner Behinderung.
Mehr leisten müssen
Gerade das war viele Jahre lang der Grund für meinen unbewussten Antrieb gewesen, immer mehr leisten zu müssen als andere, um etwas wert zu sein. Das galt für meine Bildung, meine Berufe und Berufungen, mein Äußeres und auch für meinen Anspruch an mich selbst, wie ich als Partnerin zu sein hatte, um keine Erwartungen zu enttäuschen, auch die von denen nicht, die meine Beziehung gar nichts anging. Aber egal wie ich mich engagiert hatte, ich hätte mich wohl auch überhaupt nicht erst erblindend durch Abitur, Studium, anspruchsvolle Berufe und Qualifikationen kämpfen müssen, am Ende blieb scheinbar für einen großen Teil derer, die sich ein Bild von mir machten, die fehlerhafte Frau. Oder war ich gerade deshalb fast schon eine Provokation für die vermeintlich „richtige“ Frau, weil ich als behinderte Geschlechtsgenossin einiges erreicht hatte und aus der Schablone ausgebrochen war?
Internalisierter Ableismus
Wenn ich mich auch über den Gedankengang dieser Journalistin sehr ärgerte, hatte ich ihn selbst, bedingt durch eigene Prägungen, viele Jahre verinnerlicht. Das fiel mir auf, als ich kürzlich für die Vorbereitung einer Lesung in meinen frühen Büchern stöberte.
Ich entdeckte an meinem jüngeren Ich Denkmuster und Glaubenssätze, die man heute als internalisierten Ableismus bezeichnet. So schrieb ich in „Verführung zu einem Blind Date“, dass ich mir selbst keine Partnerschaft mit einem blinden Mann vorstellen könne und furchtbar in Resonanz geriete, wenn mich Menschen immer wieder fragten, ob mein Freund auch blind sei. Es störte mich, dass man mir keinen sehenden, keinen richtigen(?) Mann zutraute. Hätte ich meine Gefühle damals nicht aufgeschrieben, würde ich heute nicht glauben, dass ich so etwas gedacht habe. Die Auseinandersetzung mit internalisiertem Ableismus hat mir sehr dabei geholfen, besser zu verstehen, wie sich Abwertungen durch die Gesellschaft auf das Selbstwertgefühl behinderter Menschen auswirken können. Auch erleichterte es mich sehr, dass in den letzten Jahren auch andere Menschen mit Behinderungen darüber sprachen, was es mit ihnen gemacht hat, dass sie sich früher z.B. manchmal sogar dafür geschämt haben, inmitten einer Behindertengruppe im Stadtbild gesehen zu werden. Man konnte sich aufwerten, wenn man sich in Begleitung nicht behinderter Freund*innen zeigte. Ist das nicht schmerzlich und traurig? Heute habe ich diese Gefühle nicht mehr und schäme mich für Menschen, die sich ableistisch verhalten. Aber das erforderte einen Prozess in mir und Bewusstseinsbildung in der Gesellschaft, was sich eben gegenseitig bedingt. Ich befand mich damals selbst in eigenen Bewältigungsphasen und blinde Männer spiegelten wider, was ich an mir „noch“ nicht annehmen konnte, weil ein Stigma darauf lag. Mittlerweile irritiert es mich aus anderen Gründen, wenn wildfremde Menschen mich vollkommen unvermittelt fragen, ob mein Partner auch blind ist. Das wäre in etwa so, als würde man eine Person of Color (PoC) fragen, ob sie auch mit einer PoC verpartnert ist. Das kann sein, muss aber nicht.
Mutter oder nicht?
Der Frage nach meiner Partnerschaft schloss sich nicht selten auch gleich die Frage zu meiner Mutterschaft an. Als ich besonders damit haderte, wegen einer unheilbaren Augenkrankheit auf beiden Augen vollständig erblinden zu müssen, konnte ich mir kein eigenes Kind vorstellen. Ich wollte ihm ersparen, was ich selbst zu dieser Zeit als die unfairste Zumutung der Welt empfand. Während sich blinde Mütter oft dafür rechtfertigen mussten, wie sie sich als behinderte Frau überhaupt erlauben konnten, ein oder gleich mehrere Kinder in die Welt zu setzen, musste ich mich oft dafür erklären, warum ich es damals nicht wollte. Egal wofür wir uns entscheiden, Frauen mit Behinderungen sind oft einer viel stärkeren Bewertung ausgesetzt als Frauen ohne Behinderungen. Mit Kind sind sie nicht „richtig“ und ohne irgendwie auch nicht. Nachdem ich mich auch hier durch einen farbenfrohen Prozess der Blindheitsverarbeitung getastet hatte, änderte sich meine Einstellung über die Jahre. Die Lebensfreude eines Kindes würde nicht davon abhängen, ob es sehen kann oder nicht. Viel schlimmer als die Tatsache zu erblinden, waren für mich im Nachhinein Erfahrungen wie Mobbing oder verhinderte Zugehörigkeit. Nicht das behindert-sein, sondern das Behindert-werden verursachte mir die schmerzhaftesten Lebensbrüche. Im Laufe der Zeit wurden behinderte Menschen, auch Mütter, durch die sozialen Medien sichtbarer und ich erlebte dadurch einen wahren Empowerment-Schub. Auch gab es inzwischen mehr Möglichkeiten, abklären zu lassen, ob meine Augenkrankheit überhaupt meine Nachkommen betreffen würde. Ich hatte einen Mann gefunden, bei dem ich erstmals das tiefe Gefühl verspürte, mit ihm ein Kind haben zu wollen. Aber auch er, als nicht behinderter Part, brachte seine Geschichte mit, wozu bereits zwei Kinder gehörten und alle emotionalen und finanziellen Herausforderungen, die mit seiner Trennung einhergegangen waren. Wo ich noch hin wollte, war er längst gewesen und für die Gründung einer neuen Familie war er alles andere als frei. Mein aufflammender Kinderwunsch wirkte deplatziert. Heute betrauere ich, dass dieses Kapitel den Umständen zum Opfer fiel. Als sich seine Situation stabilisiert hatte, kam die schwere neuroimmunologische Erkrankung ME/CFS in mein Leben, die mir letztlich das körperliche Bewältigen einer Schwangerschaft verunmöglichte. Dass ich kinderlos bin, lässt mich mit einer Narbe zurück, nicht, weil ich mich dadurch als unvollkommene Frau fühle, sondern weil ich mich frage, ob ich die für mich jeweils richtigen Entscheidungen treffen konnte und welche Rolle Fremdbestimmung und internalisierter Ableismus in meinen Abwägungen spielten.
Klischee Küche
Aber gehört eine blinde Frau nicht, wie alle anderen „richtigen“ Frauen, an den Herd? Ironieschalter aus! Ich sage ja immer: Meine Kompetenz liegt im Essen, nicht im Kochen. Das lässt sich auch damit begründen, dass drei meiner Partner Köche waren. Ich schwöre bei aller Liebe zu meinem Blindenführhund: Das war reiner Zufall! Ich kenne allerdings viele blinde, wie auch sehende Frauen, die hervorragend kochen können und solche, die es nicht zu ihren größten Leidenschaften zählen. Anders war das bei mir beim Thema Heimwerken. Mein Vater hatte mich, als ich noch sehen konnte, immer als kleine Handwerkerin bezeichnet. Und die konnte ich nach meiner Erblindung wirklich schwer loslassen. Ich werkelte gern und beobachtete meinen Paps stundenlang interessiert bei allerlei Arbeiten, um von ihm zu lernen. Kleinere, besonders knifflige Reparaturen, übernahm ich auch gerne selbst. Wenn ich auch von blinden Menschen weiß, die sich an Säge und Bohrmaschine trauen, verlor ich mit schwindender Augenkontrolle die Freude am Heimwerken, was meine innere Handwerkerin noch heute sehr schmerzt. Als ich erblindete, lernte ich hilfreiche Techniken aus dem Bereich der lebenspraktischen Fertigkeiten kennen und hatte auch durchaus Spaß daran, kochen und backen zu lernen. Außerdem hatte ich auch das Gefühl, es wird von mir als gute blinde Frau erwartet, all diese Dinge zu können. Ich finde es wichtig, Menschen mit Behinderungen vielseitige Schulungsangebote zu machen, aus denen sie dann selbst Schlüsse für ihren Alltag ziehen können. Ich persönlich begriff irgendwann, dass ich auch als sehende Frau nicht die Heldin des Kochtopfs geworden wäre und konnte das Thema gut an den Mann am Herd abgeben. Wer glaubt, aus der Küche schnuppert es deshalb nach Helferkomplex, den nehme ich gern mit in den zweiten Teil meiner Kolumnenreihe.