Vor 35 Jahren hatte Bernhard Claus einen Motorradunfall. Beide Sehnerven wurden durchtrennt, er erblindete. Heute lebt er fast ohne Einschränkungen. Doch die Coronakrise stellt ihn vor neue Herausforderungen. Der Mund-Nasen-Schutz etwa behindert seinen Geruchssinn. Tanja Koch vom enorm Magazin hat mit ihm gesprochen.
Als Bernhard Claus Ende Februar in Norditalien und anschließend in Norwegen Ski fährt, ahnt er noch nicht, wie sehr das Coronavirus seinen Alltag verändern wird.
In jeder Saison widmet Claus dem Wintersport ein paar Tage. Da er blind ist, fährt ein Skilehrer auf der Piste dicht hinter ihm. Beide tragen eine gelbe Warnweste. Sie soll anderen Skiurlauber*innen signalisieren, dass Claus sie nicht sehen kann. Die Piste im Video auf Claus’ iPhone ist so gut wie leer. Sein Skilehrer hat es aufgenommen. In gleichmäßigen, ruhigen Kurven fährt Claus den Hang hinab. Als er zu weit an den Rand der dichten Schneedecke zieht, ertönt die Stimme des Skilehrers im Hintergrund: „Rechts!“ Und Claus ändert leicht die Richtung. „Frei“ ertönt die Stimme erneut.
Wenige Tage bevor die letzten kommerziellen Flüge abheben, endet der Skiurlaub. Südtirol wird zum Risikogebiet erklärt. Nach der Ankunft zuhause in München muss Claus mit seiner Frau und Tochter, die ebenfalls in Tirol dabei waren, in Quarantäne.
Seinen Job als Mitarbeiter für Barrierefreiheit und Öffentlichkeitsarbeit beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund verlagert er an den heimischen Schreibtisch. Vor dem Monitor liegen eine Tastatur und ein sogenanntes Brailledisplay. Es stellt die Texte auf dem Bildschirm in Punktschrift dar. Parallel liest eine Software sie vor. Die monotone, roboterartige Stimme spricht schnell, ist kaum zu verstehen. Claus ist an sie gewöhnt. Sie hilft ihm, Textprogramme zu nutzen, den Webbrowser zu steuern und E-Mails zu lesen. Doch nicht immer ist Software barrierefrei. „Wenn grafisch dargestellte Buttons nicht beschriftet sind, kann mein Programm mir nicht sagen, wie ich zum Beispiel die Videokonferenz starte“, erklärt Claus. Wenn er in Videokonferenzen mit Kolleg*innen spricht, sitzt er vor einer Wand mit Familienfotos: ein Urlaubsbild am Strand, Grußworte zum Muttertag in roter Schrift.
Krafttraining, Joggen, Kartenspielen – auch für blinde Menschen fallen Hobbys weg
Da auch seine Frau Brigitte, die in einem Seniorenheim arbeitet, und seine dreizehnjährige Tochter Sarah zu Hause bleiben müssen, hat Claus in der gemeinsamen Wohnung Gesellschaft. Doch seine Hobbys und Freizeitunternehmungen fehlen ihm. Die Doppelkopfrunden mit seinen Freunden in der Bar fallen aus. Einprägungen auf den Karten, die Farbe und Zahl anzeigen, ermöglichen ihm – der einzigen blinden Person in der Runde – mitzuspielen. Neben den Abenden in der Bar treibt er normalerweise drei- bis fünfmal pro Woche Sport. Doch ins Fitnessstudio zu gehen, ist erst einmal nicht mehr möglich. Auch an den Treffen der Inklusionslaufgruppe Achilles kann er nicht teilnehmen.
„Da wir eine schöne Terrasse haben, war die Quarantäne dennoch nicht zu unangenehm“, erinnert sich Claus. Neben einem großen Tisch mit vier Stühlen steht dort ein gelber Sonnenschirm, auf dem kleinen Rasenstück hinter der Terrasse eine Hollywoodschaukel aus Metall. „Leider war sie Anfang März kaputt. Das Erste, was ich nach der Quarantäne gemacht habe, war also in den Baumarkt zu fahren“, sagt Claus. Was ihn zunächst nur für zwei Wochen stark einschränkt, soll ihn bis in den Herbst – und womöglich länger – begleiten. Zum einen aufgrund der monatelangen Schließungen und Kontaktsperren. Zum anderen, weil während der Pandemie manche seiner Strategien, dank derer er fast ohne Einschränkungen lebt, nicht mehr funktionieren.
Lernen mit einer neuen Lebensrealität umzugehen
Seit dem Unfall, bei dem Claus erblindete, sind etwa 34 Jahre vergangen. Als er mit 22 als Motorradfahrer frontal mit einem Auto zusammenstieß, wurde sein Sehnerv in beiden Augen durchtrennt. Die Situation zu akzeptieren war für den inzwischen 57-Jährigen anfangs schwer. Etwa ein halbes Jahr nach dem Unfall absolvierte er die Blindentechnische Grundrehabilitation der Blindenstudienanstalt in Marburg. Sie half ihm, mit seiner neuen Lebensrealität umzugehen: von räumlicher Orientierung bis hin zum Umgang mit dem Computer.
Derartige Reha-Maßnahmen können zwischen drei und zwölf Monaten dauern, die Kostenübernahme ist sehr individuell. Bei Kursen, die auf den Rückkehr in den Beruf abzielen – etwa das Erlernen der Brailleschrift – ist die Agentur für Arbeit Kostenträger. Doch bei Lehrinhalten zu den sogenannten Lebenspraktischen Fähigkeiten, beispielsweise Kleidung aussuchen und Mahlzeiten zubereiten, ist der Anspruch auf Kostenübernahme laut dem Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) ein schwieriges Thema. Bei einem Unfall sei der Unfallversicherungsträger ein möglicher Ansprechpartner. Krankenkassen hätten zwar inzwischen eine „Empfehlung zur Kostenübernahme“ beschlossen, jedoch gibt es laut DBSV in der Praxis große Schwierigkeiten, die Ansprüche durchzusetzen. Die Rechtslage sei unübersichtlich und nicht ausreichend. „Da die Situation in Bezug auf die Kostenübernahme von LPF-Maßnahmen zurzeit sehr unbefriedigend ist, ist die Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe weiterhin bemüht, über ihre politische Arbeit zu einer Reform der gesetzlichen Bestimmungen – insbesondere im SGB V – zu gelangen“, heißt es auf deren Website.
Der DBSV ist der Zusammenschluss der Selbsthilfevereine des Blinden- und Sehbehindertenwesens in Deutschland. Auch Claus’ Arbeitgeber, der Bayerische Blinden- und Sehbehindertenbund, gehört dazu. Insgesamt vertritt der Verein einer Hochrechnung zufolge 650.000 Betroffene. In Deutschland gibt es demnach etwa 150.000 blinde und etwa eine halbe Million sehbehinderte Menschen. Das Ziel der Vereine und des Zusammenschlusses: Die Lebenssituation von Betroffenen in allen Bereichen, von Privat- bis Berufsleben, zu verbessern. Auch in der Corona-Pandemie unterstützt der DBSV blinde und sehbehinderte Menschen durch Information und Beratung. Ein barrierefreier Corona-Ratgeber mit Vorlesen-Button informiert etwa über das Ansteckungsrisiko beim Führen Lassen oder über die augenärztliche Versorgung während der Pandemie.
Mehr Hilfsbereitschaft vor der Corona-Pandemie
Claus und seine Familie hatten Glück und nach dem Ski-Urlaub keine Corona-Symptome. Als er anschließend das erste Mal in die Stadt fährt, ist Claus gespannt, was sich dort verändert hat. „Als Erstes ist mir aufgefallen, dass es viel ruhiger war. Es waren viel weniger Menschen unterwegs.“ Für Bernhard Claus bedeutet das: Er kann sich schlechter orientieren. Es sind weniger Schritte zu hören, auf den Café-Terrassen unterhalten sich weniger Menschen, aus den geschlossenen Läden dringt keine Musik nach draußen. Zudem begegnet er viel weniger Passant*innen, die er um Hilfe bitten kann. „Und wenn mal jemand da war, den ich fragen konnte, hatten sie Angst, sich anzustecken.“ Sie ignorieren ihn, antworten mürrisch. Dabei hält er mithilfe des Stocks und indem er auf die Lautstärke der Stimme achtet den Mindestabstand ein. Er versteht nicht, warum die Menschen sich so ablehnend ihm gegenüber verhalten und sagt: „Es ist sehr unwahrscheinlich, sich in so einer Situation im Freien anzustecken.“ Auch, dass jemand aus seiner eigenen Familie an Covid-19 erkranken könnte, hält er zu diesem Zeitpunkt noch für unwahrscheinlich. „Ich würde mir wünschen, dass die Leute mir antworten, wenn ich ihnen eine Frage stelle“, sagt er. Er sehnt sich nach einem Ende der Pandemie – und dass die Hilfsbereitschaft der Menschen wiederkehrt.
Wie sehr er auf diese angewiesen ist, merkte er, als er zu Beginn der Pandemie einen Spirituosenladen am Marienplatz suchte. Die Strecke von der Burgstraße – dort hat Claus zuvor eine Sitzung zur Barrierefreiheit des neuen Ostfriedhof-Krematoriums – bis zum Geschäft ist etwa 200 Meter weit. „Am besten finde ich dorthin, wenn ich durch die U-Bahn-Station gehe, auch, wenn das vielleicht ein kleiner Umweg ist“, erklärt er. Mit dem Stock ertastet er die erste Stufe, dann mit der Hand das silberne Geländer. Dort, wo seine Fingerspitzen sind, wenn er es umgreift, steht in Blindenschrift, dass die Treppe zur U-Bahn führt. Dinge anzufassen ist für Claus unabdingbar. Da sich das Risiko einer Schmierinfektion leicht kontrollieren lässt, hat er damit kein großes Problem. Er achtet besonders darauf, sich unterwegs nicht ins Gesicht zu fassen und Zuhause gründlich die Hände zu waschen.
Eine Station tiefer folgt er den Rillen im Boden zum richtigen Ausgang. Er erkennt sie an dem ratternden Geräusch, das entsteht, wenn der Blindenstock darüber gleitet. Bei welchen Gabelungen er abbiegen muss, hat er sich eingeprägt. Am Aufgang umfasst er erneut das Geländer. „Oh, hier fehlt die Schrift. Eigentlich müsste hier stehen, welcher Ausgang das ist“, sagt Claus überrascht. Claus kennt sich hier aus. Doch wer nicht auswendig weiß, welche Treppe die richtige ist, ist auf hilfsbereite Passant*innen angewiesen.
Oben angekommen geht es in eine Seitenstraße hinein, vorbei an Geschäften für Bücher, Kaffee, Haushaltsgeräte. „Hier den richtigen Laden zu erwischen war fast unmöglich, als auf der Straße niemand unterwegs war und die meisten anderen Läden geschlossen hatten“, erklärt Claus. Heute gelingt es ihm auf Anhieb. „Welches Geschäft ist das hier?“, fragt er den Verkäufer, der ihm den Namen des Spirituosenladens verrät. Hier wäre es relativ leicht für Claus, etwas zu kaufen. In eher kleineren Shops ist meist ein*e Mitarbeiter*in verfügbar, um die Ware aus dem Regal zu holen. In Supermärkten oder größeren Läden ist das anders. Ein Start-Up aus Dänemark hat eine Lösung für das Problem gefunden: Mit der App „Be My Eyes“ können blinde und sehbehinderte Menschen Videochats mit freiwilligen Sehenden starten und sich Etikette vorlesen lassen oder nachfragen, welche Farbe ein Kleidungsstück hat. Auch Claus hat die App „Be My Eyes“ schon getestet und sie für praktisch befunden.
Blinde Menschen: Mund-Nasen-Schutz beeinflusst die Orientierung
Noch einmal schwieriger ist der Alltag für blinde Menschen, seitdem es die Maskenpflicht in Deutschland gibt. Mittlerweile gibt es aber die Möglichkeit, sich davon befreien zu lassen. „Einmal wollte ich im Geschäft zum Ausgang gehen. Plötzlich stand ich an der Fleischtheke, am anderen Ende des Ladens“, erinnert sich Claus.
Das Problem: Der Mund-Nasen-Schutz behindert den Geruchssinn – den alle Menschen unbewusst zur Orientierung nutzen. „Durch die zwei Nasenlöcher können wir abschätzen, ob ein Geruch eher von rechts oder von links kommt“, erklärt Jessica Freiherr, Professorin für Neurowissenschaften der sensorischen Wahrnehmung an der Universität Erlangen-Nürnberg. In einer Studie ließ man Proband*innen einer Schokoladenspur auf einer Wiese folgen. Trotz abgedichteter Ohren, geschlossenem Mund und verbundener Augen gelang es ihnen. Ein Mund-Nasen-Schutz verhindert dies nicht zwangsläufig „Duftmoleküle sind so klein, dass sie den Stoff der Maske durchdringen können, aber bei zwei Stofflagen oder einem zusätzlichen Filterstoff wird es schon schwieriger“, erklärt Freiherr. Dann gelangen zum einen weniger Moleküle zur Nase, zum anderen ist es schwieriger, den Ort der Geruchsquelle einzuschätzen. „Außerdem nimmt man den Eigengeruch der Maske wahr und riecht womöglich, was man zuletzt gegessen hat.“ Das kann zur Orientierung dienliche Gerüche überdecken. Da blinde Menschen im Alltag stärker auf andere Sinnesorgane angewiesen sind, ist es hinderlich, wenn diese beeinträchtigt sind.
Auch Bernhard Claus stellt während der Pandemie fest, dass ihm seine Nase normalerweise bei der Orientierung hilft. Und er ist nicht der Einzige mit diesem Problem. „Auch andere blinde Menschen haben mir davon berichtet, dass sie sich mit Mund-Nasen-Schutz schlechter orientieren können“, sagt Claus. Dank seiner Stelle beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund ist er mit vielen blinden Menschen in Bayern vernetzt.
Soziale Kontakte jenseits des Jobs zu pflegen, wurde während der Pandemie schwieriger für Claus, etwa wegen der Kontaktsperren und Schließungen. Er begann, öfter mit Menschen zu telefonieren, auch mit seiner Mutter, die bei Frankfurt am Main wohnt. Claus ist dort aufgewachsen und erst mit etwa 30 Jahren nach München gezogen. Monatelang verzichtet er darauf, sie zu besuchen, um sie nicht zu gefährden.
Doch seine 80-Jährige Mutter steckt sich – so vermutet Claus – Anfang April bei einer Lungenuntersuchung im Krankenhaus mit Covid-19 an. Sie übersteht die Krankheit, doch ein Luftröhrenschnitt machte es ihr zunächst unmöglich, mit ihrem Sohn zu sprechen. Aufgrund seiner Erblindung ist es für ihn wichtig, Menschen zu hören, um mit ihnen zu kommunizieren. Claus und seine Familie beginnen, Videobotschaften für sie aufzuzeichnen. Darin erzählen sie beispielsweise, was sie am Tag erlebt haben. Schließlich kann die 80-Jährige wieder sprechen, zunächst mithilfe eines Ventils, später sogar ohne. Bald werden auch die Corona-Ausgangsbeschränkungen gelockert, Claus kann endlich wieder zu seiner Mutter fahren, um sie zu besuchen.
Mitte Juli überzeugt er seine Inklusionslaufgruppe, sich wieder zu treffen, im Freien und mit Abstand – sofern möglich, denn die Tandems aus sehenden und blinden Menschen verbinden sich zwecks Führung mit einem Gurt. Ab und zu geht er nun wieder ins Büro, einmal pro Woche spielt er mit seinen Freunden Doppelkopf in einem Lokal. Langsam kehrt Bernhard Claus wieder in seinen normalen Alltag zurück.
Dieser Artikel ist zuerst am 15. September 2020 im enorm Magazin erschienen.