Frauen mit Behinderung sind häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen – das können wir dagegen tun

Der Schatten eines Rolstuhls ist in einem Zimmer an einer weißen Tür zu sehen.
Frauen mit Behinderung sind zwei bis drei Mal häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen, als Frauen ohne Behinderung. Bild: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
Lesezeit ca. 4 Minuten

Die einen nennen den 8. März den Internationalen Frauentag und gratulieren. Die anderen bezeichnen ihn als feministischen Kampftag und zeigen auf, wie viel in Sachen Gleichberechtigung noch zu tun ist. Frauen mit Behinderung werden in diesen Debatten noch zu selten mitgedacht. Tanja Kollodzieyski von der Initiative Mädchen sicher inklusiv erklärt im Interview, warum behinderte Frauen häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen sind und welche präventiven Maßnahmen ergriffen werden können.

Triggerwarnung

Dieser Text enthält Passagen über sexualisierte Gewalt. Anlaufstellen für Menschen mit Gewalterfahrungen sind: 

  • Suse-hilft.de ist ein Angebot von „Suse − sicher und selbstbestimmt − Im Recht.“ Dies ist ein Projekt des bff: Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe
  • weisser-ring.de hilft, wenn du Opfer von Kriminalität und Gewalt geworden bist: Über das Opfer-Telefon 116 006, der Onlineberatung oder bundesweit persönlich vor Ort.

Informationen in Einfacher Sprache

In diesem Text geht es um sexualisierte Gewalt. Diese Gewalt betrifft Frauen mit Behinderung häufig. Tanja Kollodzieyski berät behinderte Frauen darin, wie sie sich schützen können. Sie arbeitet bei Mädchen sicher inklusiv. 

Die Neue Norm: Frauen mit Behinderung sind häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen, woran liegt das?

Tanja Kollodzieyski: Dass Frauen und Mädchen häufiger von sexualisierter Gewalt betroffen sind, ist ein trauriger Fakt, der viele verschiedene Gründe hat. 

Frauen mit Behinderung sind oft von Mehrfachdiskriminierungen betroffen. Das heißt, sie werden sowohl diskriminiert, weil sie eine Frau sind und Sexismus erleben, aber eben auch, weil sie als behinderte Person von Ableismus betroffen sind. Bei manchen Frauen kommen auch noch weitere Diskriminierungsfaktoren hinzu. Behinderten Menschen allgemein werden oft jegliche Selbstbestimmung und Grenzen abgesprochen, insbesondere wenn das Thema Sex eine Rolle spielt. Frauen mit Behinderungen sind davon noch im stärkeren Maße betroffen, weil ihre Sexualität leichter vom Umfeld übergangen werden kann, da die körperlichen Anzeichen nicht so sichtbar sind, wie bei Männern. Hinzukommt, dass die Möglichkeit einer Schwangerschaft je nach Behinderung beim Umfeld der Frauen oft als Gefahr wahrgenommen wird, die es unter allem Umständen zu vermeiden gilt. Auch das führt dazu, dass viele Frauen mit Behinderung kaum die Gelegenheit bekommen, über ihre eigene Sexualität zu sprechen und Fragen, Wünsche oder Grenzen zu formulieren.

Ein Bild einer Frau im Rollstuhl. Sie lächelt in die Kamera.

Tanja Kollodzieyski

lebt und arbeitet in Bochum. Sie hat einen Master in Allgemeiner Literaturwissenschaft und Germanistik. Online arbeitet sie mit Menschen und sozialen Netzwerken. Offline hält sie Vorträge über Inklusion und intersektionalen Feminismus. Auf Twitter teilt sie gerne ihre Begeisterung über Vielfalt, Kultur, Feenstaub und Elfenglitzer.

Dadurch, dass viele Frauen mit Behinderung kein Vertrauen in die eigenen Grenzen entwickeln können, ist für sie auch nicht immer die Frage geklärt: Woran erkenne ich überhaupt sexualisierte Gewallt und wie kann ich mich dagegen wehren? Außerdem sind Frauen mit Behinderungen, die sexualisierte Gewalt erleben, nicht selten abhängig von den Täter*innen. Statistiken zeigen, dass die Täter*innen sich oft entweder im Familienkreis aufhalten oder Mitarbeiter*innen von Einrichtungen sind. Aber auch Bewohner*innen untereinander können in Einrichtungen übergriffig werden. Bei vielen Frauen mit Behinderung ist das Erleben in vielen Situationen ähnlich: Sie können den sexualisierten Übergriffen nicht ausweichen, weil es keine Schutzräume für sie gibt. 

Ein dritter und wichtiger Faktor ist, dass es kaum barrierefreie Beratungs- und Schutzangebote für behinderte Frauen gibt, die sich gegen sexualisierte Gewalt wehren.

Viele Beratungsstellen für Opfer sexualisierter Gewalt sind schlicht nicht barrierefrei zugänglich. Außerdem verfügen sie kaum über barrierefreie Kommunikationsangebote wie Gebärdensprache oder Leichte Sprache. Ein ähnlich erschütterndes Bild zeigt sich bei den Frauenhäusern. Auch sie können oft nicht die nötige Barrierefreiheit vorweisen.

Frauen mit Behinderung haben also oft keine Räume, um ihre Selbstbestimmung und ihre Grenzen zu entwickeln. Sie können der sexualisierten Gewalt oft nicht entfliehen, weil sie abhängig von den Täter*innen sind und es kaum Unterstützungsangebote für sie gibt. 

Was bietet das Mädchenhaus Bielefeld an? 

Mädchen sicher inklusivist eine Fachstelle für Gewaltprävention und Gewaltschutz für Mädchen und junge Frauen mit Behinderung/chronischer Erkrankung. Wir machen (Online-) Beratung & vermitteln barrierereduzierte Hilfeangebote in der Nähe, geben  Empowerment-Workshops und führen Infoveranstaltungen in NRW durch und machen Lobbyarbeit. 

Was können wir Mädchen und jungen Frauen zum Thema sexualisierte Gewalt schon ganz früh mitgeben?

Mädchen und Frauen mit Behinderung werden oft erst dann in den Blick genommen, wenn sie bereits schon Opfer von sexualisierter Gewalt geworden sind. Wichtig ist, dass behinderte Mädchen und Frauen schon früher sichtbar werden. Sie sollten erleben, dass ihr Empfinden, ihr Körper und ihre Grenzen wichtig sind. Sie haben das Recht auf Selbstbestimmung und darauf, dass sie immer und jederzeit Nein sagen können. Was außerdem oft vergessen wird, ist die andere Seite des Themas: Sex und körperliche Nähe können etwas Schönes sein – wenn es in gegenseitiger Zustimmung passiert. Das klingt so banal, aber oft wird Sex bei Mädchen und jungen Frauen mit Behinderung direkt mit Gewalt in Verbindung gebracht. Was durch die hohen Zahlen an Gewaltfällen in den Statistiken einerseits auch sicher eine Berechtigung hat, aber eben nicht das ganze Bild zeigt. Mädchen und junge Frauen mit Behinderung brauchen Strukturen, die ihnen besseren Schutz bieten, wenn nötig, sie aber auch dazu empowern, ihren eigenen Weg zu finden.    

Gibt es bei diesem Thema noch etwas, worauf du aufmerksam machen möchtest?

Mädchen und Frauen mit Behinderungen brauchen ein besseres und barrierefreieres Beratungsnetz, das im besten Fall schon greift, bevor Gewalttaten passieren. Im besonderen Maße gilt das vor allem auch für Mädchen und Frauen in Einrichtungen, die in vielen Fällen selbst dann kaum Handlungsoptionen haben, wenn sie sich gegen Gewalt wehren. Um ein besseres Beratungs- und Schutznetz aufzubauen, braucht es bessere Forschung und aussagekräftigere Zahlen, die unter anderem auch die Intersektionalität von behinderten Mädchen und Frauen berücksichtigen. Auch Geschlecht, Gender Sexualität, Herkunft, Hautfarbe und Klasse können Faktoren sein, die das Risiko, Gewalt zu erleben, bei Menschen mit Behinderung zusätzlich erhöhen. Das sollte zukünftig sowohl bei Schutzkonzepten als auch bei Beratungsangeboten deutlich mehr berücksichtigt werden.   

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