Ich wünsche mir sehr, dass ich als Frau mit Behinderung nicht ständig und in allen Lebenslagen auf meine Einschränkungen reduziert werde. So war meine Begeisterung stets groß, wenn mich Frauenzeitschriften zu Themen einluden, bei denen auch ich mitreden wollte: Mode, Stil, die persönliche Signatur und Selbstbestimmung darin, das innere Spiegelbild, auch die Abgrenzung von Modediktaten. Es versteht sich von selbst, dass dies nicht die einzigen Inhalte sind, die mein Schaffen ausmachen, aber ich persönlich kann das Unschöne gestärkter beim Kragen packen, wenn ich das Schöne genieße. Was meine Sinne verzaubert, muss aber nicht unbedingt dem Mainstream gefallen.
Inspiriert wurde ich von der mexikanischen Malerin Frida Kahlo, die selbst auch mit einer Behinderung lebte. Sie hatte einen sehr prägenden Stil, der eine starke Strahlkraft entwickelte. Mode ist für mich Fempowerment und ein Gefühl in mir ganz persönlich, was mir Halt und Haltung gibt. Mit meinen besonderen Schmuck- und Kleidungsstücken verbinde ich Stimmungen oder Statements. Auch durch meine jeweiligen Szenezugehörigkeiten ist Kleidung für mich immer eher Ausdruck meiner Gesinnung geblieben und ich sah mich nie als Fashion-Victim. Diesen Teil meiner Weiblichkeit lebe ich aus, weil er mir behinderungsbedingt eine lange Zeit abgesprochen wurde und ich einfach reichlich Nachholbedarf habe. Meinem feministischen Anspruch widerspricht das nicht. Mir macht es Spaß, mich auszutoben und ich fühle mich in diesem Punkt nicht vom Patriarchat in irgendeine Rolle gezwungen, sondern kann hier eher kreativ, befreit und selbstwirksam sein. Aus meiner Sicht ergänzen sich Fempowerment und Fashion also ganz wunderbar.
Früher war ich Punkerin, trug schwere Schnürstiefel zu zerfetzten Hosen und an meiner Lederjacke rasselten martialische Ketten. Da hatte ich als jugendliches Leichtgewicht ganz schön zu schleppen. Meine Haare hatten von pink bis blau alle Farben gekostet und generell war vieles an mir kunterbunt. Später glitt ich in die Gothic-Szene über, kleidete mich vorzugsweise schwarz und betont weiblich. Mit zunehmender Erblindung konnten sich meine Fingerspitzen für elegante Stoffe wie Spitze, Samt und Satin, aber auch Kontraste wie Lack und Latex begeistern. Heute zitiere ich in meinen Outfits noch immer gern diese Szene, habe viele einzigartige Kleider, Röcke und Oberteile, ergänze aber auch gern Vintage-Stücke oder Rockabilly-Looks, da mir die Schnittformen gut stehen. Natürlich schnüre ich mir nur zu besonderen Anlässen ein Korsett und ich sitze auch nicht täglich mit Federboa und Opernhandschuhen auf dem Balkon, aber ich versuche schon auch im Alltag Teile zu kombinieren, die meine Welt widerspiegeln.
Stil mit Gefühl
Manche Menschen wundern sich über meine Looks, weil sie glauben, einer blinden Frau müsste es egal sein, wie sie aussieht. Aber stell dir vor, du wärst blind, würdest du dich dann nicht mehr pflegen und deinen Style nicht mehr leben? Einige Outfits würden sich vielleicht als unpraktischer erweisen als andere, aber würdest du grundsätzlich aufhören, Kleidungs- und Schmuckstücke zu tragen, die dir vorher gefallen haben?
Ich bin erst mit Anfang 20 durch eine Augenkrankheit erblindet, ich kenne also die Gesetze der sehenden und die der blinden Welt. Es verunsichert mich noch heute, dass ich überhaupt keine visuelle Kontrolle mehr habe. Am Anfang meiner Erblindung war das aber deutlich schlimmer. Nicht, weil ich besonders gut aussehen wollte, sondern weil ich meine Identität im Spiegel verlor. Wenn alle Menschen blind wären, würde ich ehrlicherweise wirklich eine Sache weglassen, weil sie nur im Zusammenspiel mit Sichtbarkeit Sinn ergibt: meinen geliebten roten Lippenstift!
Die Sehende in mir verfügt über optische Erinnerungen, die mir dabei helfen, mir Farben vorzustellen. Geburtsblinde Menschen nähern sich Farben eher assoziativ an. Mir geht es inzwischen auch manchmal bei neuen Farbbezeichnungen wie taupe, mauve, zyklam oder ecru so. Auch nude stelle ich mir komisch vor, denn glaube ich dem Begriff, würde ich dann in einer nude-farbenen Leggins wirken, als hätte ich keine Hose an? Meine Lieblingsfarben sind Schwarz und verschiedene Rottöne. Das macht es für mich auch leichter, passende Kombinationen auszuwählen.
Mein Dialog mit dem Kleiderschrank
In meinem Kleiderschrank herrscht strikte Ordnung, da darf auch keine sehende Person eingreifen. Alles hat einen festen Platz. Da auch sehr ausgefallene Outfits dabei sind, ist es sinnvoll, diese bereits als passende Kombinationen aufzuhängen. Teile, die in Stapeln liegen, kann ich schlecht ertasten. Deshalb organisiere ich meine Looks auf zwei Kleiderstangen. Ich suche systematisch nach Krägen, Rüschen und Knöpfen, eben nach den tastbaren Charaktereigenschaften der Kleidungsstücke. Damit komme ich persönlich am besten zurecht. Mittlerweile gibt es auch für das Smartphone Farberkennungs-Apps, die aber nicht so genau sind, wie ein Farberkennungsgerät. Das hält man auf das entsprechende Teil und bekommt die Farbe angesagt. Es gibt auch Kleideretiketten, die man besprechen kann, verschiedenförmige Markierungsknöpfe zum Einnähen oder man bringt sich eine Braille-Notiz am entsprechenden Kleiderbügel an.
Mir passieren aber auch Fehlgriffe. Ich besitze das gleiche Kleid in Rot und in Schwarz und das habe ich auch schon mal vertauscht. Als jemand auf einer Lesung „Ganz schön feurig!“ zu mir sagte, ahnte ich, dass ich wohl zum roten gegriffen hatte. Dasselbe ist mir auch schon bei Dreharbeiten mit meinen Fernsehschuhen passiert. In der Eile hatten sich die Schuhe gleich angefühlt, waren aber verschiedenfarbig. Ich habe auch einmal versehentlich bei einer eher seriösen Veranstaltung eine Leoprint-Strumpfhose getragen und ein Kollege meinte: „Aufregende Strümpfe hast du da an!“ Da dachte ich: „Was ist denn mit dem los?“. Deshalb mache ich mir inzwischen einen Knoten in auffällige Teile. In diesem Video sprechen Gracia Schade, Laura Günther und ich darüber, ob Frauen mit Behinderung wohl mehr Platz im Kleiderschrank brauchen.
Blindenkollektionen und Braille-Stickerein
Ich werde oft von jungen Designerinnen kontaktiert, die gern spezielle Mode für blinde Frauen entwerfen möchten. Dem stehen ich und meine blinden Modefreundinnen eher skeptisch gegenüber, denn hier haben sehende Menschen manchmal befremdliche Vorstellungen davon, wie Mode für uns gestaltet sein muss. Wir möchten uns in der Vielfalt der Modewelt umschauen und einen eigenen Stil definieren, aber keine extra Blindenkollektion. Wenn es gut gemacht ist, habe ich jedoch nichts dagegen, wenn die Brailleschrift als Statement oder Orientierungshilfe integriert wird. Vor vielen Jahren unterstützte ich ein Projekt rund um die Kunststickerin Antje Kunze, die unsere Lieblingszitate auf bestehende Designerstücken aufstickte. Eine andere Idee ist, die Informationen der Wäscheschilder in Braille direkt in die entsprechenden Kleidungsstücke zu integrieren, was einige blinde Frauen aus praktischen Gründen durchaus begrüßen. Kontrovers diskutiert wurde aktuell ein Shirtdesign, bei dem in Brusthöhe der Schriftzug „Feel me“ zu sehen und zu ertasten ist. Die blinde Journalistin Amy Zayed setzt sich in ihrem Blogbeitrag kritisch mit der doppeldeutigen Botschaft auf dem Statement-Shirt auseinander.
Im Einklang mit meinen Behinderungen
Manchmal lasse ich mir auch außergewöhnliche Teile wie Petticoat-Kleider, Hüte, Gamaschen oder Korsagen anfertigen. Wenn ich darf, erfühle ich in den Ateliers der Schneiderinnen gern verschiedene Stoffe. Es gibt aber auch sehr extravagante Teile, bei denen mir die Blindheit Grenzen setzt. Sachen, mit denen man hängen bleiben kann, sind problematisch. Früher, wenn ich mit ausladenden Gothic-Outfits unterwegs war, habe ich mich damit schon in Dornenhecken verheddert oder landete mit dem schwingenden Ärmel im Suppenteller. Solche Kleidungsstücke trage ich nur noch sehr ausgesucht. Außerdem lebe ich mit einer zusätzlichen Behinderung, der Fibromyalgie. Das ist eine schwere Schmerzerkrankung. Ich muss Kleidung auswählen, die nicht schmerzverstärkend wirkt. Deshalb achte ich sehr auf Stoffe und Nähte. Und mein Schuhwerk muss stabil sein. High Heels trage ich nur im Sitzen, für Fotos oder Dreharbeiten. Laufen kann ich mit hohen Schuhen nicht, ich brauche den Tastkontakt zum Boden und liebe meine Boots und Sneakers.
Shopping, Inspiration und Fantasie
Von aktuellen Trends lasse ich mich nicht so stark verführen, weil ich meinen eigenen Stil habe. Dennoch verfolge ich die Entwicklung der Mode interessiert und wenn mir ein Trendteil gefällt, integriere ich es in meinen Kleiderschrank. Ab und zu bin ich schon traurig darüber, dass ich keine Schaufensterbummel machen kann, mir keine Looks in Modemagazinen anschauen und mich von anderen Frauen optisch inspirieren lassen kann, egal ob in den Medien oder auch einfach auf den Straßen. Es ist schon anstrengend, immer alles nur in meinem Kopf zusammenzustellen. Aber ich folge einigen Mode-YouTuberinnen, die gut beschreiben können. Am liebsten kaufe ich in Begleitung meines Partners in alternativen Läden oder auf Szenemessen ein. Er kennt meinen Geschmack und ich kann alles ertasten.
Onlineshopping ist leider noch wenig barrierefrei, weil es kaum hilfreiche Bildbeschreibungen gibt. Ich wähle besonders gern faire Mode und leider sind auch diese Shops im Netz selten inklusiv, was für mich unbedingt zu einem fairen Konzept dazugehört. Meistens bestelle ich nur, wenn ich ein Teil schon kenne, weil ich es vorher bei einer Freundin ausgeliehen und gefühlt habe.
Mein kleines schmutziges Geheimnis ist Teleshopping. Dort werden die Klamotten nämlich oft ausführlich besprochen und man kann am Telefon Detailfragen zum Produkt stellen. Meine Lieben müssen aber zum Schluss immer nochmal ein kritisches Auge drauf werfen und ich war auch schon betrübt, weil das bestellte Teil doch ganz anders aussah, als ich mir vorgestellt hatte. Insgesamt möchte ich Mode nachhaltig denken, kaufe auch gebrauchte Stücke, versuche meine Kleidung lange zu erhalten und immer wieder im eigenen Kleiderschrank zu „shoppen“.
Tricks beim Schminken
Ich habe auch Freude am Schminken. In meinem Image-Ratgeber „Der Geschmack von Lippenrot“ gebe ich anderen blinden Frauen nicht nur Tipps zu Mode und Stil, sondern auch zum Schminken mit Spürsinn. Für blinde Frauen sind die meisten optischen Ratgeber nicht barrierefrei anwendbar. Wir müssen viele Tricks und Kniffe für uns modifizieren. Da ich selbst auch 20 Jahre als Sozialpädagogin tätig war, befand ich mich auch immer wieder in engem Dialog mit ratsuchenden blinden Frauen, die sich für Beauty-Themen interessierten. Jede Anwenderin darf es natürlich so machen, wie es ihr am leichtesten von der Hand geht. Meine Anregungen sind nur Vorschläge und bewährte Techniken aus der Peer-Arbeit, bei der Betroffene andere Betroffene beraten. Es kann z.B. hilfreich sein, die Hand mit dem Mascara-Bürstchen ganz still zu halten und den Wimpernkranz daran „entlangzuzwinkern“, um die Farbe aufzunehmen. Beim Auftragen von Make-up gibt es systematische Massagevorgänge, um keinen Gesichtsbereich zu vergessen. Bei Rouge oder Lidschatten kann man abzählen, wie oft man mit dem Finger oder Pinsel über das Material gegangen ist. Lippenstift kann man vorsichtig von der Mitte zu den Mundwinkeln auftragen. Nützlich ist auch dieses eiförmige Schminkschwämmchen. Damit vollführe ich meine persönliche Sicherheitsrunde zum Schluss, weil ich damit alles schön verblenden kann und unbemerktes Make-up aufgenommen wird. Meine Fingernägel lasse ich im Nagelstudio in Schuss halten, weil ich weiß, dass man bei blinden Menschen auf die Hände schaut. Wir sind sehr aktiv mit unseren Fingerspitzen, ersetzen sie doch permanent unsere Augen. Selbst lackieren kann ich meine Nägel nicht, man weiß nie, ob man übermalt. Schminktechniken haben also auch Grenzen. Hier gibt es eine eigene Kolumne von mir zum blinden Schminken.
So viel wichtiger als Mode
Mode und Beauty spielen eine Rolle in meinem Leben, aber keine übergeordnete. Ich kann schon dazu raten, sich etwas weniger von optischen Eindrücken leiten zu lassen. Bei meinen Mitmenschen erlebe ich oft, dass sie Sichtbarkeit zur Hauptsache erklären. Dabei gibt es top gestylte Leute, die sich benehmen wie eine bekleckerte Jogginghose.
Wenn ich eine Person kennenlerne, achte ich darauf, ob sie sich schön verhält, nicht ob sie schön aussieht. Es kommt darauf an, wie jemand denkt, spricht und handelt. Ich konzentriere mich oft auf die Geschichten der Menschen, das sind für mich ihre Gesichter. In meinem Talk-Format „SonntagsFragen“ beim MDR-Fernsehen, durfte ich 10 Jahre lang prominente Gäste aus Sicht einer blinden Frau interviewen. Gerade eine nicht sehende Moderatorin Fernsehen machen zu lassen, war eine gewollte Kontroverse. Ich fragte meine Gäste am Anfang immer, wie sie sich optisch beschreiben würden. Obwohl viele von ihrem Aussehen lebten, viel ihnen das tendenziell schwer. Promis, die es gewohnt waren, durch ihre Optik zu wirken, mussten in der Interaktion mit mir konventionelle Denkräume verlassen. Das war gut, denn häufig haben Menschen, die stark auf ihr Aussehen reduziert werden, durchaus Tiefgreifendes zu sagen. Und ich begann meinen Gegenübern ganz eigene Duftcharaktere zuzuordnen. Attraktivität und Persönlichkeit haben für mich nämlich auch sehr viel mit Parfüms und Düften zu tun.
Mut zu Makel und Markenzeichen
Zumindest nach den Eindrücken, die ich mir aus meinem Umfeld zusammen stückele, habe ich das Gefühl, viele wollen individuell sein und sehen doch am Ende wieder alle gleich aus. Ich sehe die Wechselwirkung zwischen Trend und Social Media durchaus kritisch, möchte auch für die Gefahren darin sensibilisieren, generell auch auf die Schattenseiten und die Toxizität der gesamten Trend-, Lifestyle- und Modeindustrie aufmerksam machen.
Ich mag Menschen, die Makel und Markenzeichen haben und sich trauen, ihren eigenen Stil zu erschaffen. Lasst uns unsere Behinderung nicht als Manko sehen. Kopien gibt es schon genug, es ist so bereichernd, wenn wir unsere persönliche Signatur setzen, die uns einzigartig macht. Ich erfreue mich täglich an dieser Vielfalt von Menschen, deren Ausstrahlung ich spüren kann. Und es ist für mich ebenso ein starkes Statement, wenn jemand überhaupt nichts mit Mode am Hut hat!