Unsere Autorin Sophie Lierschof ist mit der Geschichte nationalsozialistischer Krankenmorde aufgewachsen – ihre Großtante Irma Sperling wurde 1944 in der Wiener Kinderfachabteilung „Am Spiegelgrund“ ermordet. Einer der Ärzte, die Kinder dorthin schickten, war Hans Asperger. Bis heute trägt eine Diagnose seinen Namen. Für Lierschof ist das ein Skandal: Es zeigt, wie wenig Medizin und Medien ihrer historischen Verantwortung nachkommen – und wie Täter noch immer geehrt werden, während die Opfer im Schatten bleiben.
Inhaltlicher Hinweis
Der folgende Beitrag thematisiert NS-Krankenmorde, darunter auch unter die Ermordung von Kindern. Das kann sehr belastend sein. Wenn Sie Hilfe benötigen, können Sie sich beispielsweise an das Sorgentelefon wenden unter der Adresse www.telefonseelsorge.de oder unter der kostenfreien Nummer 0800 1110111.
Diesen Text gibt es hier auch in Einfacher Sprache.
Meine Großtante Irma Sperling wurde 1944 im Alter von 14 Jahren in der Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund in Wien ermordet. Mit diesem Wissen bin ich aufgewachsen. Seit meiner Kindheit setze ich mich deshalb mit den nationalsozialistischen Krankenmorden auseinander. Dass bis heute autistische Menschen nach Hans Asperger benannt werden, ist ein Skandal. Es macht mich wütend, dass Täter wie Hans Asperger geehrt werden, ebenso der Mörder meiner Großtante, Heinrich Gross. Über die Opfer wird geschwiegen.
Seit Jahren wende ich mich mit Beschwerdebriefen an Medien, die den Namen von Hans Asperger als Diagnosebegriff verwenden. Meistens erhielt ich keine Antwort, aber der SWR schrieb mir, man sehe die betreffenden Benennungen als berechtigt, da sie aus „Zeitdokumenten“ stammen. Ein nachträglicher Umschnitt sei „nicht immer möglich“, stattdessen wolle man künftig einen Warnhinweis davor setzen.
Ein Name, der Opfer verhöhnt
Historische Forschungen wie die von Herwig Czech oder Edith Sheffer zeigen auf, was eigentlich schon lange bekannt sein müsste: Hans Asperger begutachtete Kinder, die er für „nicht bildungsfähig“ und „nicht verwertbar“ hielt, und schickte sie bewusst in die Wiener Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund in den sicheren Tod. Die Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund in der Klinik Am Steinhof war zentrale Einrichtung der NS-Kinderkrankenmorde zur Ermordung an rund 800 Kindern. Dabei zeigt sich an Aspergers Forschung besonders deutlich die menschenverachtende Ideologie der Medizin in dieser Zeit. Seine Beobachtungen an autistischen Kindern ordnete Asperger nach einer „Verwertbarkeitslogik“ ein: Ist eine Eigenschaft für die Gesellschaft „von Nutzen“ oder nicht? Hatten für Asperger die Eigenschaften, die er als Belastung für die Gesellschaft ansah überwogen, hat er seine Patient*innen wohlwissend, was ihnen Am Spiegelgrund bevorstand, in den Tod geschickt.
Auch wenn Asperger vermutlich kein ideologischer Nazi war (Sheffer, 2018), war er ideologischer „Rassenhygieniker“. Also Vertreter einer pseudowissenschaftlichen Lehre, die vorgab, die „Erbgesundheit“ der Bevölkerung zu verbessern, tatsächlich aber Zwangssterilisationen, Menschenversuche und Ermordungen rechtfertigte. Das hatte er von seinem Vorgesetzten und überzeugten Nationalsozialisten Franz Hamburger gelernt. Er war Direktor der Wiener Universitätskinderklinik und Wegbereiter der „Rassenhygiene“ in der Kinderheilkunde. Zusammen mit Franz Hamburger, Erwin Jekelius und weiteren NS-Tätern gründete Asperger die Heilpädagogische Gesellschaft, die explizit steuern sollte, wie mit schwerbehinderten Kindern umzugehen sei im Sinne der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“. In der Heilpädagogischen Gesellschaft war Jekelius Präsident und Asperger Vizevorsitzender.
In Wien war zu dieser Zeit schon längst bekannt, dass Jekelius und seine Kollegen mörderischen Tätigkeiten nachgingen (Sheffer, 2018) und Jekelius selbst für die Ermordung tausender Menschen verantwortlich war. Jekelius war zu dieser Zeit schon Leiter der Kinderfachabteilung Am Spiegelgrund. Außerdem war er Wiener Beauftragter der Kanzlei des Führers und koordinierte die Selektionen und Deportationen in die Tötungsanstalt Hartheim, Teil der „Aktion T4“, bei der über 30.000 Menschen mit Behinderung und andere Menschen aus sozial benachteiligten Familien ermordet wurden.
Ebenso wie Asperger profitierte auch Heinrich Gross, einer der Mörder meiner Großtante Irma Sperling, nach dem Krieg weiter von seiner Rolle im Mordprogramm. Gross forschte noch jahrzehntelang an den Gehirnen und Rückenmarkspräparaten der Kinder. Auch das Gehirn und Rückenmark meiner Großtante Irma Sperling wurden nach ihrem Tod für „wissenschaftliche Zwecke“ missbraucht. Gross wurde bis 1998 hoch geehrt und mit wissenschaftlichen Preisen ausgezeichnet. Er war bis dahin meistbestellter Gerichtspsychiater Österreichs und missbrauchte weiterhin seine Macht an wehrlosen Menschen, obwohl bekannt war, dass er Teil dieser Mordmaschinerie war.
Auch Asperger machte nach dem Krieg Karriere. Er galt als „der gute Kinderarzt“, der sich fürsorglich um seine Patient*innen kümmerte, ganz entgegen der NS-Ideologie. Aber er baute seine Karriere und sein Ansehen auf den „rassenhygienischen“ Selektionen auf, die er mit geschaffen hatte.
Dass Menschen im Autismus-Spektrum, gerade solche mit Inselbegabung, heute immer noch nach ihm benannt werden, ist eine Verhöhnung seiner Opfer. Es verleiht diesem Täter Sichtbarkeit und Anerkennung, die ihm nicht zusteht. Der Name Asperger gehört ausschließlich in die kritische Aufarbeitung von NS-Medizinverbrechen und nicht in die Bezeichnung einer neurologischen Diagnose. An dem Fall Asperger wird deutlich sichtbar, wie es Henry Friedlander betonte: Viele Ärzte und Wissenschaftler mussten nicht gezwungen werden, sondern beteiligten sich bereitwillig und nutzten die Gelegenheit, ihre Ideen umzusetzen.

Von einem Spektrum zu sprechen ist nicht nur medizinisch korrekt, sondern auch respektvoller gegenüber Betroffenen.
Immer noch ein strukturelles Problem
Medizinisch widerspricht die Verwendung des Begriffs „Asperger“ dem aktuellen wissenschaftlichen Stand. Heute wird vom Autismus-Spektrum gesprochen, da Autismus verschiedene Ausprägungen hat und keine starren Hierarchien und Kategorien. Von einem Spektrum zu sprechen ist nicht nur medizinisch korrekt, sondern auch respektvoller gegenüber Betroffenen.
Seit der Einführung des Diagnosekataloges DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) im Jahr 2013 wird in den USA in der Diagnostik der Begriff „Asperger“ nicht mehr verwendet. Einerseits sicherlich, da die Taten von Hans Asperger auch in der Medizinerwelt bekannter wurden, andererseits aber vor allem, da er dem aktuellen Stand der medizinischen Forschung nicht entspricht. Durch meine persönliche Erfahrung wissen bis heute leider viele Ärzt*innen und Psycholog*innen nicht, wer Asperger war. Im in Europa immer noch gebräuchlichen Diagnosekatalog ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), den Diagnosekriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) findet sich unter F84.5 weiterhin der veraltete Begriff, der das überholte Verständnis von Autismus widerspiegelt. In der ICD 11 wird endlich auch in der Diagnostik im deutschsprachigen Raum von Autismus-Spektrum-Störung gesprochen, aber die ist leider noch nicht verbindlich und deshalb wird sie nicht immer angewendet.
Ich schrieb in den vergangenen Jahren mehrfach an das ZDF, die ARD, den SWR, das 37-Grad-Team, In aller Freundschaft und auch an eine Klinik, da unter anderem in diesen Serien, Kindersendungen, Webseiten und Mediatheken der Name „Asperger“ als Diagnosebegriff unkritisch verwendet wird. Jedes Mal habe ich auf die historische Belastung hingewiesen, auf die wissenschaftlich veraltete Begrifflichkeit und auf meine Familiengeschichte. Meistens erhielt ich keine Antwort. Manchmal nur das vage Versprechen, „man werde es prüfen“. Doch geändert hat sich bislang nichts.
Besonders problematisch ist die Verwendung dieses Begriffs in Kinderformaten, wie etwa der ARD-Serie Tiere bis unters Dach. Dort wird nicht nur der Begriff für ein autistisches Kind verwendet, sondern auch rassistische Begriffe für Roma, Sinti und indigene Menschen. In einer Kinderserie der öffentlich-rechtlichen Sender ist das besonders kritisch, da diese einen klaren Bildungsauftrag haben.
Der SWR schrieb, Fernsehsendungen mit rassistischen Begriffen seien als „Zeitdokument“ und zu sehen und Kindersendungen „spiegeln in vielerlei Hinsicht gesellschaftliche Einstellungen und damit die Sprache spezifischer Epochen wieder“. Anstatt diesen Aspekt in den folgenden Drehbüchern zu berücksichtigen, entsprechende Folgen zu schneiden oder aus der Mediathek zu nehmen, will man „zu Beginn der Angebote aktiv mit Informationstafeln“ darauf hinweisen. Das schützt aber kein Kind davor, diskriminiert oder „geothered“ zu werden.
Nun bleibt der Name dieser Schlüsselfigur der NS-Verbrechen als Diagnose und sogar der rassistische Begriff für Roma und Sinti in einer Kindersendung in der Mediathek unkritisch und ohne Kontext stehen. Das ist kein Einzelfall, sondern ein Problem, für das vor allem die öffentlichen Medien noch nicht sensibilisiert sind.
Genauso sollte auch die Sensibilisierung und historische Bildung von Mediziner*innen und Psycholog*innen einen größeren Stellenwert bekommen. Es gibt zwar seit gut 25 Jahren eine verpflichtende Vorlesung aller medizinischen Fakultäten in Deutschland zu Ethik und Medizingeschichte. Doch die besondere Verantwortung dieser Berufsgruppen im Umgang mit der NS-Geschichte muss ernster genommen werden.
Wer Täter ehrt, macht die Opfer unsichtbar.
Verletzung, Trauma und Stigmatisierung
Wie wir über Menschen im Autismus-Spektrum sprechen, beeinflusst auch, wie wir über sie denken. Wenn Kinder und Erwachsene weiterhin hören, dass Autist*innen nach einem NS-Täter benannt sind, verharmlost das die Verbrechen dieses Mannes und würdigt ihn. Es vermittelt auch ein falsches und klischeehaftes Bild von Neurodiversität. In Serien und Filmen werden Autist*innen oft als schrullige Genies, Außenseiter mit Superfähigkeiten und fehlender Empathie gezeigt. Das ist eindimensional, stigmatisierend und respektlos. Das verletzt nicht nur die Opfer und Angehörigen der NS-Krankenmorde. Es verletzt auch die Würde neurodivergenter Menschen.
Im Zusammenhang mit dem NS-Täter Asperger gibt es noch ein weiteres Dilemma: Viele Menschen aus dem Autismus-Spektrum identifizieren sich schon jahrelang mit dieser Bezeichnung. Für manche von ihnen ist es schwer zu hören, dass dieser Begriff belastet ist, und es wirkt wie eine von außen aufgezwungene Kritik. Dieses Dilemma muss auch ich anerkennen und ich lerne, eine Unterscheidung zu machen, ob ihn ein Mensch auf dem Autismus-Spektrum als Selbstbezeichnung verwendet oder eine Institution. Auch da ist es wichtig, achtsam miteinander umzugehen.
Rassistische oder medizinische Begriffe und Namen können nicht dadurch legitimiert werden, dass sie in einem Zeitdokument vorkommen
Den öffentlich-rechtlichen Medien, Redaktionen und auch Kliniken muss endlich bewusst werden, dass bestimmte Begriffe und Namen aus der NS-Zeit nicht harmlos sind oder durch ein Zeitdokument legitimiert werden können. Bei Betroffenen und Angehörigen können sie triggern oder Wunden aufreißen. Dahiner können persönliche Geschichten von Gewalt, Verfolgung, Missbrauch oder Mord stehen. An der Antwort des SWR sieht man, wie wenig Bewusstsein für die Wirkung und Macht von Sprache vorhanden ist. Besonders in Familien, in denen viele Menschen misshandelt und ermordet wurden, wie in jüdischen Familien, Sinti und Roma Familien oder Widerstandsfamilien, wachsen Kinder mit dem Wissen und der Angst auf, selbst einmal dazuzugehören, falls diese Ideologien wieder mehr Fuß fassen. Menschen aus solchen Familien tragen diese Angst ein Leben lang mit sich. Und jedes Mal, wenn solche belasteten Begriffe in einem unkritischen Zusammenhang genannt werden, facht das diese Angst erneut an. Ich möchte dieses Leid nicht mit meiner Biographie vergleichen und dadurch verharmlosen, aber diese Angst kann auch ich etwas nachvollziehen. Ich bin mit dem Wissen aufgewachsen, dass Menschen aussortiert und als „unwertes“ Leben kategorisiert und ermordet wurden und jemand aus meiner eigenen Familie dazugehört hat. Jedes Mal, wenn dieser Begriff fällt, ist diese diffuse Angst wieder da.
Der Name Asperger hat in Diagnosen und auch im allgemeinen Sprachgebrauch und in den Medien nichts verloren. Er gehört ausschließlich in die kritische Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Wer Täter ehrt, macht die Opfer unsichtbar.
Im Beitrag erwähnte Literatur und Quellen:
- Czech, H. (2018). Hans Asperger, National Socialism, and “race hygiene” in Nazi-era Vienna. Molecular Autism, 9(1), 1–43. https://doi.org/10.1186/s13229-018-0208-6
- Sheffer, E. (2018). Asperger’s Children: The Origins of Autism in Nazi Vienna. New York: W. W. Norton & Company.
- Der Standard. (2018). Hans Asperger und die Kindermorde am Wiener Spiegelgrund. derStandard.at, https://www.derstandard.at/story/2000090621272/hans-asperger-und-die-kindermorde-am-wiener-spiegelgrund
- Der Spiegel. (2018). Hans Asperger – Täter oder Retter? Spiegel Online, https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose-asperger-hans-asperger-taeter-oder-retter-a-000000.html
- American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (5th ed.). Arlington, VA: American Psychiatric Publishing.
- Hamburg Frauenbiografien. (o. J.). Irma Sperling, https://hamburg-frauenbiografien.de/item/3394
- Hörstolpersteine. (o. J.). T4: Der Fall Irma Sperling, https://hoerstolpersteine.net/t4-der-fall-irma-sperling
- taz. (2012). Antje Kosemund – Schwester eines Euthanasie-Opfers, https://taz.de/Antje-Kosemund-Schwester-eines-Euthanasie-Opfers/!5148837/