Kommen Geschwister von Kindern mit Behinderungen in der Familie zu kurz? Bárbara Zimmermann berichtet von ihren eigenen Erfahrungen aus Muttersicht und spricht mit Geschwistern von Kindern mit Behinderung.
Einfache Sprache
In diesem Text geht es um Geschwister von Kindern mit Behinderung. Diesen Text hat eine Mutter von drei Kindern geschrieben. Sie heißt Barbara. Sie hat ein Kind mit Behinderung. Und sie hat zwei Kinder ohne Behinderung. Manchmal macht sie sich Sorgen: Kommen meine Kinder ohne Behinderung zu kurz? Bin ich zu sehr beschäftigt mit meinem Kind mit Behinderung? Barbara findet: Nein, das ist sie nicht. Sie gibt allen ihren Kindern genug Liebe und Unterstützung.
Das Leben ist ein Schiff, das uns auf seiner Fahrt mitnimmt. Mal glauben wir das Schiff im Griff zu haben, mal haben wir den Eindruck, dass das Meer am Steuer ist. Mal ist das Wasser ruhig, klar und warm. Mal kommen großen Wellen, der Himmel wird dicht und wir wissen nicht mehr, wohin die Fahrt geht.
Wenn bei Kindern eine Behinderung diagnostiziert wird, sorgen sich Eltern oft auch um die Geschwisterkinder: Werden sie nicht zu kurz kommen? Wie wird die Geschwisterbeziehung sein?
Auch wenn das Leben keine Matheaufgabe ist, hat der Tag nur 24 Stunden. Als Dreifachmutter muss ich zusammen mit meinem Partner schauen, wie gut wir die Bedürfnisse unserer Kinder unter einen Hut bekommen. Eins meiner Kinder hat eine Behinderung und rein mathematisch nimmt die Pflege eines behinderten Kindes sehr viel Zeit, Aufmerksamkeit und Kraft in Anspruch. Das kann am Leben einer Familie stark rütteln. Wenn weitere Kinder Teil der Familie sind, muss diese Mathematik auch für sie gut passen.
Ein Manifest
Das Familienleben ist dieses Schiff, das uns Eltern und unsere Kinder durchs Meer trägt. Je nach Wind, je nach Welle, je nach innerer und äußerer Konstitution der Passagiere und Struktur des Schiffes brauchen sie mehr oder weniger von unserer Unterstützung. Viele Einflussfaktoren können die Fahrt angenehm und positiv für alle machen: Die Ausstattung des Schiffes, die Wetterlager, eine sichere Route, die innere Stärke durch Herausforderungen zu gehen, wenn sie kommen und gewiss auch einige Abenteuererlebnisse. Aber was jede*r Passagier*in am Ende der Fahrt als Erinnerung von dieser Erfahrung in sich tragen wird, bleibt für uns ein Rätsel.
Ich selber bin keine Schwester eines behinderten Geschwisterkindes. Ich kann hier nur aus der Mutterperspektive schreiben. Um diesen Text reicher und ehrlicher zu machen, möchte ich hier zwei Frauen zu Wort kommen lassen, die Geschwister mit Behinderung haben: Subodhi Schweizer, die auch ihre Sicht als System- und Psychotherapeutin einfließen lässt, und Tabea Mewes, die zusammen mit ihrem Bruder Mari der Welt zeigen will, dass das Leben mit Down Syndrom alles andere als down ist.
„Kinder, egal welche, wollen gesehen werden. Das sage ich als Schwester und als Therapeutin. In meinem Fall hatte ich Eltern, die mich und meine Not gesehen haben. Genauso haben sie meine Schwestern gesehen, beide, nicht nur die behinderte. Unsere Eltern hatten uns drei als Priorität, nicht nur das behinderte Kind. Sie widmeten Zeit für uns drei und alles war gerecht geteilt: Geschenke, Süßigkeiten, Klamotten. Gleichzeitig war ich als Kind doch wahrsinnig wütend darüber, dass meine behinderte Schwester mehr Aufmerksamkeit brauchte als ich. Aber ganz tief in mir wusste ich, dass ich gesehen und geliebt war, und das ist was zählt“
Subodhi Schweizer
Tabeas Erfahrungen, die sie in dem Podcast Vollkommen Unperfekt teilt, sind in bestimmter Hinsicht ähnlich:
„Es war natürlich so, dass Mari viel Aufmerksamkeit bekommen musste und für ihn bestimmte Sachen geklärt werden mussten. Er hat eine gezielte Förderung bekommen, aber es war z.B. nie so, dass Tilman [der andere Bruder, d. Red.] und ich dachten, wir sind neidisch darauf. Weil auch für uns von vorneherein klar war: Natürlich bekommt er das. Wir tun als Familie, als Geschwister, alles dafür, dass unser Bruder das bestmögliche Leben in unserer Familie, in dieser Gesellschaft, auf dieser Welt führen kann. Das haben wir nie in Frage gestellt. Das war für uns wie ein Manifest. [...] Wir wissen nicht, wie genau Mama und Papa das hinbekommen haben. [...] Wir haben aber nie das Gefühlt gehabt, dass wir vernachlässig wurden“.
Tabea Mewes im Podcast "Vollkommen Unperfekt"
Als Mutter sind solche Stimmen wie ein Leuchtturm für mich.
Alle wollen und sollen gesehen werden
Aber ich weiß auch, dass leider nicht jedes Kind so eine positive Erfahrung macht. Die Daten der Stiftung Familien Bande zeigen, dass in Deutschland ca. zwei Millionen Kinder und Jugendliche mit einem schwer chronisch kranken oder behinderten Geschwisterkind leben. Auf vielen gesunden oder nicht behinderten Geschwistern kann oft der Druck lasten, funktionieren zu müssen, weil die Umstände die Familie bereits genügend fordern. „Doch dieser Belastung halten nicht alle Geschwisterkinder stand”, heißt es auf der Webseite der Stiftung.
Hinzu kommt der Begriff „Schattenkinder“, der bei Internetsuchen nach „Geschwistern von behindertem Kind“ am häufigsten auftaucht. Ich habe eine starke Abneigung gegen diesen Begriff, denn er gibt mir das Gefühl, dass Geschwister von behinderten Kindern per se vernachlässigt werden, dass Eltern per se überfordert sind und die Behinderung allein DIE Ursache für diese komplexe Familienkonstellation ist. Wie ein Schatten, den man nicht loswird.
Ich fragte mich, ob ich den Begriff nicht mochte, weil ich vielleicht selbst Schattenkinder habe und die Tragweite des Themas nicht anerkennen wollte. Obwohl ich keine perfekte Mutter bin und auch nicht den Anspruch habe, eine zu sein, weiß ich tief in mir, dass mein Mann und ich gute Eltern sind und dass es allen unseren Kindern gut geht.
Ich fragte auch Subodhi, was sie von dem Begriff „Schattenkinder“ hält:
„Ich würde nie diesen Begriff nutzen. Er gibt mir das Gefühl, als ob da jemand falsch ist, entweder die Eltern, das behinderte Kind oder das nicht-behinderte Kind. Bei einer Familie mit einem behinderten Kind ist einiges einfach anders. Natürlich fühlt man als Kind oft mehr Verantwortung, aber Schattenkinder würde ich nie sagen“.
Subodhi Schweizer
Das Familienleben ist diese Schifffahrt. Und behinderte Geschwister sollten nie als das Ungeheuer gesehen werden, vor dem die Passagiere Angst haben und das die ganze Fahrt zerstören kann. Behinderung gehört zum Leben, wie große und kleine Wellen. Diskriminierung und Vernachlässigung sind die echten unerwünschten Ungeheuer.
Kinder gut begleiten
Unerwartet fragte mich meine mittlere Tochter, ob jedes Baby, das geboren wird, zur Intensivstation muss. Sie strahlte viel mehr mit der Frage aus als eine bloße Neugier. Bei unserem Gespräch konnte ich spüren, dass das eine Art der Verarbeitung der Geburt ihrer kleinen Schwester war, die zu dem Zeitpunkt dieses Gespräch mittlerweile schon fast zwei Jahre alt war. Im Bad beim Zähneputzen, bevor sie ins Bett ging, umarmte ich sie mit viel Liebe und Zärtlichkeit und erzählte ihr, dass viele Babys, wie sie damals bei ihrer Hausgeburt, direkt in die Arme ihrer Eltern können. Ich saß auf dem Hocker und machte nach, wie ich sie damals in den Arm nahm. In diesem Moment ging es nur um sie.
Geschwister von behinderten Kindern werden automatisch mit existenziellen Fragen konfrontiert, wie z.B. über den Tod, über Gesundheit, über Anderssein. Die starken Gefühle können das Kind verwirren. Deswegen sind Begleitung und offene Gespräche sehr wichtig, damit sie über ihre Ängste, ihre Sorgen, Bedürfnisse und eventuell Schuldgefühle sprechen können. Dieser Verarbeitungsprozess ist sehr individuell und kann Jahre dauern.
Ein verbreitetes Thema unter Eltern von Kindern mit Behinderungen ist die Unsicherheit, wenn das nicht-behinderte Kind plötzlich anfängt, sich für das behinderte Geschwisterkind zu schämen. Wie können wir sie gut dabei begleiten, ohne moralisch zu sein, frage ich Subodhi.
„Als Therapeutin würde ich Eltern raten, das nicht-behinderte Kind zu fragen: ‚Schämst du dich für deine*n Schwester*Bruder? Warum? Weil sie*er nicht wie die anderen ist? Ich kann dich verstehen. Auf eine Weise ist sie*er anders als deine Freund*innen, richtig? Aber es ist auch okay, wie sie*er ist. Und wie kann ich dich damit unterstützen, oder ist das okay so für dich?‘ Eltern sollten immer mit Verständnis und Neugier darauf reagieren und nie sagen, dass dieses Gefühl falsch ist“.
Subodhi Schweizer
Als Eltern sind wir für diese Aufgabe nicht fertig geboren. Wir haben keine Superkräfte – selbst wenn die Liebe viel vermag! Aber Liebe ist nicht immer genug. In dieser Lebenssituation, die uns besonders herausfordert, brauchen wir andere Menschen, die uns und unsere Familie unterstützen können. Manchmal reichen gute Freund*innen und die Familie. Manchmal ist eine professionelle Begleitung in Form von Therapie notwendig.
Vielfalt wird gelebt – auch zu Hause
Das Leben ist diese Schifffahrt. Kein Mensch kann versprechen, dass die Fahrt reibungslos verlaufen wird – selbst wenn sie gut geplant ist. Aber ein Wettbewerb ist sie sicherlich nicht. Es geht darum, wie wir gemeinsam die Fahrt gestalten und sie zusammen genießen. Es geht um die gesunde Spannung zwischen Zeit und Verantwortung für die Gruppe und für sich allein. Es geht um Respekt füreinander, um Solidarität, Resilienz und das Gefühl, dass mit geliebten Menschen der Sonnenuntergang am Meer viel schöner ist.
Meine behinderte Tochter hat den großen Schatz, ihre zwei (nicht-behinderten) Schwestern zu haben. Aber auch meine nicht-behinderten Kinder lernen unheimlich viel mit ihrer kleinen (behinderten) Schwester, auch durch ihre Behinderung. Die unkomplizierte Art, wie sie mit dem Thema umgehen, ist für mich sehr wertvoll. Nicht laufen zu können, auf Hilfe angewiesen zu sein und vieles mehr scheint für sie „normal“ zu sein.
Ich weiß nicht, wie die Geschwisterbeziehung zwischen meinen drei Kindern in Zukunft aussehen wird. Wer weiß das schon? Keine Rettungsweste kann uns vor herausfordernden Familiendynamiken retten. Die Suche nach Gewissheit kommt aus einem Bedürfnis nach Kontrolle, einer Ablenkung vom Schmerz, die diesem „Ding“ namens Leben innewohnt. Mit Neugier, vielen Gesprächen, mit afeto – der Bereitschaft und Offenheit für authentische und berührende Begegnungen (meinem Lieblingswort und Lebensmotto) – und manchmal auch mit professioneller Unterstützung, können wir in unbekanntes Wasser springen und dabei viel Freude miteinander erleben.
Mein Traum: Eine Welt ohne Vorwürfe
Ich träume von einer Welt, in der Familien mit behinderten und nicht behinderten Kindern gefeiert werden. Wo wir Eltern nicht den Vorwurf hören müssen, wir seien verantwortungslos, wenn wir in der Schwangerschaft JA zu unseren behinderten Kindern sagen. In der die Vielfalt des Menschenseins nicht als Belastung oder Fehler gesehen wird. Solange die Vielfalt als ein Problem betrachtet wird, kann die Abtreibung behinderter Babys immer noch als gute Lösung dagegen gelten.
Ich brauche eine Gesellschaft, die aktiv die Verantwortung für Inklusion trägt und uns als Familie damit nicht alleine lässt. Durch die Behinderung meines Kindes oder viel mehr durch die vielen Barrieren, die uns dieses gesellschaftliche Modell auf dem Weg stellt, begegne ich als Mutter tatsächlich einigen Herausforderungen in meinem Alltag. Aber ich wünsche mir kein anderes Leben, keine anderen Kinder. Mit der Behinderung einer unserer Töchter können wir glücklich leben! Was ich mir wünsche, ist eine solidarische und verantwortungsvolle Gesellschaft, die gleiche Chancen für alle meine Kinder bietet.
Ich plädiere für ein Narrativ, das auch die Chancen in solchen Konstellationen erkennt. Ich wiederhole mich hier: Nicht alle Geschwisterkinder machen schwierige Erfahrungen. Ich will allen meinen Kindern die Erfahrung geben, dass wir zusammen stärker sind und dass hier niemand ohne Unterstützung bleibt. Wenn wir nicht überfordert sind, können wir durch Herausforderungen wachsen. Außerdem kann echte Vielfalt in keinem Buch gelernt, sondern nur real gelebt werden.
Was wäre, wenn wir in einer inklusiven und vielfältigen Welt leben würden, wo dieser Text überhaupt nicht notwendig wäre? Wo die Geschwisterbeziehung zwischen Kindern mit und ohne Behinderung so selbstverständlich wäre wie die zwischen Mädchen und Jungs? Warum ist diese Art von Vielfalt akzeptabel und die andere nicht?
Das Leben ist wie ein Schiff. Jedes Schiff braucht einen sicheren Hafen, um ankern zu können. Jedes Schiff! Wie jedes Kind!
Eine Antwort
Ein sehr sehr guter Text, der meine ganze Zustimmung findet!!