Wie will ich leben? Was ist ein gutes Leben für mich? Verheiratet mit zwei Kindern und einem Mittelschicht-Job im Einfamilienhaus? Nein. Nicht für mich. Das wäre mir eine zu kleine Gemeinschaft: zu viel Abhängigkeit von Arbeit und Kernfamilie, zu wenige Care- und Vertrauens-Menschen für die Kinder und zu eingegrenzte politische und intime Beziehungen im Alltag für mein eigenes Wachstum. Das war mir schon klar, bevor ich mit 20 Jahren behindert wurde. Ich verstehe hier Behinderung als gesellschaftliche und medizinische Kategorie: Mein Körper ist seit einem Unfall vom Hals abwärts gelähmt bzw. behindert. Behindert werde ich aber auch durch die Gesellschaft, durch fehlende Barrierefreiheit, Vorurteile und ableistische Strukturen. Seit ich behindert bin, erfahre ich die Welt anders, wie ein zweites Leben. Ich begegne anderen Menschen, bewege mich an anderen Orten und erkenne Diskriminierungsstrukturen, die zuvor aufgrund meiner Privilegien unsichtbar waren.
Ich lebte als Kind in einer alternativen Hof-Gemeinschaft. Das Gemeinschaftsleben bei uns fühlte sich frei und vertraut an, das Familienleben meiner Schulfreunde im Vergleich dazu oft eingeengt und einsam. Das gute Leben beginnt für mich in inter-familiären Gemeinschaften.
In meinem zweiten Leben als tetraplegischer Rollstuhlfahrer, begriff ich, dass meine Ablehnung der Einfamilienhaus-Idylle für viele Menschen arrogant und weltfremd wirkt. Ich verstand, dass Millionen von Menschen – behinderte Menschen, Alte, Geflüchtete, Obdachlose, Waisen, u.a. – in Deutschland ohne Familie und ohne Gemeinschaft leben: Viele von ihnen in Heimen und Wohngruppen. Circa 1,2 Millionen Menschen leben laut Statista in Deutschland in Pflegeheimen, Behindertenheimen, Jugendheimen, psychiatrischen Einrichtungen und Obdachlosen- und Flüchtlingsunterkünften.
Als Rollstuhlfahrer werde ich in der Öffentlichkeit immer wieder von fremden Menschen angeredet, die meistens auf der Straße oder in Heimen leben. Durch diese Gespräche lerne ich eine Vielzahl an Lebensgeschichten kennen. Ein Heim ist für einen Großteil dieser Menschen alternativlos: Entweder es ist gesetzlich erzwungen oder die Menschen haben keine ihnen offen stehenden Familien bzw. Familien, die in der Lage sind, zusätzliche Care-Arbeit zu leisten. Und wer möchte schon als Volljähriger bei den Eltern wohnen? Oder als alternder Mensch den überarbeiteten Kindern zur Last fallen?
Irgendwann im Oktober 2015, als ich gerade den dritten Härtefall-Verlängerungs-Antrag im Studentenwohnheim gestellt habe, begriff ich, wie schwierig es für mich werden würde, meinen Wunsch nach gemeinschaftlichem Wohnen zu verwirklichen. Alle Hausprojekte, alle alternativen Gemeinschaften, alle hippen Studenten-WGs, die ich kannte, waren für mich nicht barrierefrei, also nicht bewohnbar.
Damals, ebenso wie heute, organisierte ich mein Leben über ein von mir selbst angestelltes Assistenzteam, das mich unterstützt und alles übernimmt, was ich nicht alleine kann. Das Problem daran: Ich hatte – wie so viele behinderte Arbeitgeber – mal wieder einen Mangel an Assistenzis. Es ist schwierig, ein wertschätzendes Wort zu finden für Menschen, die bezahlte Care-Arbeit leisten, das nicht nach Krankenhaus klingt. “Assistenzi” ist hier mein Lieblingswort. Behinderten-Assistenz ist gesellschaftlich kein hoch angesehener Job. Für einen Heilerziehungspfleger in einem Behindertenheim zahlt der Staat rund 25 Euro pro Stunde – für selbstorganisierte Assistenz hingegen nur 14 Euro pro Stunde. Ein Glück für die behinderten Arbeitgeber, dass die Arbeitsbedingungen in der Pflegebranche so schlecht sind: viele Menschen arbeiten lieber schlecht bezahlt, aber gut gelaunt als andersherum.
So kam es eines Herbstmorgens, dass ich nach einer Ich-Mach-Party-Und-Denk-Nicht-An-Morgen-Nacht aufwachte, auf die Uhr schaute (es war schon 12 Uhr), hastig nach meinem Handy griff (die Batterie war leer) und mit Schrecken begriff, dass heute kein Morgenschicht-Assistenzi kommen würde (beide waren verreist). Das bedeutete: ich konnte nicht aufstehen, nichts essen, nichts trinken, nicht aufs Klo und mit niemandem kommunizieren, außer den Fliegen an der Decke. Als meine Mitbewohnerin irgendwann am Abend von der Arbeit zurückkam, waren mir drei Dinge klar geworden:
- Es braucht selbstverwaltete, solidarische Gemeinschaftsprojekte, in denen ausgegrenzte Menschen und privilegierte Menschen familiär zusammenleben.
- In dem Projekt muss das alltägliche Zusammenleben und die alltägliche Unterstützungsarbeit von vornherein zusammengedacht werden.
- Ich muss jetzt sofort damit anfangen, das für mich selbst umzusetzen.
So wurde ich zusammen mit anderen Freund*innen zum Gründer des Vereins “Gemeinwohlwohnen”. Wir arbeiten an dem Aufbau eines solidarischen Wohnprojektes in dem Menschen mit Behinderung, Geflüchtete und Geringverdiener*innen zusammenleben, einander unterstützen und sich selbst verwalten. Inzwischen haben wir ein Grundstück und bauen darauf bis Mitte 2025 ein Haus. Wie genau wir das machen, welche Hürden uns stellen und welche Vorstellung einer Zukunft ohne Heime wir haben, werden wir euch in der kommenden Zeit hier erzählen.