„Wir brauchen einen positiven Bezug zu unserer eigenen Sexualität“

Zwei Grundschulkinder aus der Vogelperspektive. Sie liegen nebeneinander, die Füße in entgegengesetzte Richtungen und sehen sich an. Ein Mädchen hat längere blonde Haar und ein Shirt mit Schriftzug und Blumenmotiv, das andere hat dunkelbraune, längere Haare und trägt ein pinkes Shirt.
Es ist wichtig, seine eigenen Grenzen zu kennen und diese zu kommunizieren. UBSKM | Foto: Barbara Dietl
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Prof. Dr. Julia Gebrande ist Professorin für soziale Arbeit an der Hochschule in Esslingen und Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs. Sie beschäftigt sich seit über 20 Jahren fachlich mit dem Thema sexualisierte Gewalt, hat unter anderem die Fachberatungsstelle Wildwasser Esslingen e.V. mit aufgebaut und zu Möglichkeiten der Begleitung des Bewältigungsprozesses bei Gewalterfahrungen promoviert. Mit unserer Redakteurin Carolin Schmidt spricht sie über den Zusammenhang von sexueller Selbstbestimmung und Prävention, dem Umgang mit Grenzverletzungen und mögliche Folgen des Ampel-Aus auf die Kommission.

Inhaltshinweis

In diesem Text geht es um sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen und um die sexualisierte Gewalt an Menschen mit Behinderung. Das kann belastend sein. Unter der Telefonnummer 0800 2255530 können Betroffene das Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch anrufen. Die Online-Beratung finden Sie hier. Weitere Informationen zu Beratungsstellen finden Sie in der Info-Box unter dem Interview.

Informationen zur Arbeit von Dr. Julia Gebrande in Leichter Sprache gibt es hier.

Carolin Schmidt: Guten Morgen Frau Gebrande. Möchten Sie sich vielleicht selbst kurz vorstellen und erzählen, wie Sie zum Thema sexualisierte Gewalt gekommen sind?

Julia Gebrande: Ich bin während meines Studiums der Sozialen Arbeit zu Wildwasser Esslingen gekommen, was damals noch eine ehrenamtliche Projektgruppe war. Als ich in den Beruf eingestiegen bin, habe ich die Fachberatungsstelle mit aufgebaut und über zehn Jahre dort gearbeitet, immer für Betroffene sexualisierter Gewalt. Ich habe dann auch in diesem Bereich promoviert. Daher beschäftige ich mich seit über 20 Jahren mit dem Thema sexualisierte Gewalt. Natürlich gibt es da auch immer wieder Überschneidungen zum Thema Menschen mit Behinderungen und das ist mir als Erfahrungsexpertin auch ein besonderes Anliegen. Ich habe von Geburt an eine seltene Körperbehinderung, Arthrogrypse – eine Gelenkversteifung. Mein Vater hat damals eine Interessengemeinschaft als Elterninitiative gegründet und inzwischen ist es eine große Selbsthilfegruppe, in der viele andere Selbstvertreter*innen und ich aktiv sind. Ich habe mich dennoch in meinem Leben dafür entschieden, das Thema Behinderung nicht als meinen fachlichen Schwerpunkt zu wählen und ich verweigere mich auch immer, wenn mir das Thema zugeschrieben wird…

… was absolut legitim ist und zeigt, dass es noch zu wenig Sichtbarkeit für Menschen mit Behinderung in allen Berufen gibt, auch abseits des Themas Behinderung.

Ja, alle denken, ich wäre Expertin für Behinderung, aber das bin ich in keiner Weise. Hier bin ich Erfahrungsexpertin. Meine wissenschaftliche Expertise habe ich im Thema der sexualisierten Gewalt.

Der November ist aufgrund des „Internationalen Tages zur Beseitigung der Gewalt an Frauen“ der Monat, an dem viele Initiativen, Vereine und Einzelpersonen auf geschlechtsspezifische Gewalt hinweisen und verschiedene Aktionen stattfinden. Kennen Sie spezifische Projekte, die sich gegen die sexualisierte Gewalt gegen Kinder richten?

Der Schwerpunkt dieser „Orange Days“ liegt grundsätzlich auf der Gewalt gegen Frauen. Mädchen und Frauen sind häufiger betroffen, da die Geschlechterverhältnisse in unserer Gesellschaft immer noch dazu beitragen, dass Männer oft in mächtigeren Positionen sind und diese Macht auch ausnutzen können. Es gibt viele individuelle Schwerpunkte in den Initiativen. In Esslingen gibt es zum Beispiel am 25. November eine große Aktion, bei der unterschiedliche Organisationen wie etwa Frauen helfen Frauen oder Wildwasser Esslingen e.V. zusammenkommen und am Bahnhof die Gesellschaft sensibilisieren, Informationen verteilen und Veranstaltungen organisieren.

Sie sind die Vorsitzende der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, die beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend angesiedelt ist. Wie genau sieht Ihre Arbeit in der Kommission aus?

Im Zentrum unserer Arbeit in der Aufarbeitungskommission steht, dass wir Menschen dazu einladen, uns ihre Lebensgeschichte anzuvertrauen. Das heißt, alle Menschen, die in ihrer Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erleben mussten oder auch Zeitzeug*innen sind, können sich an die Kommission wenden und ihre Geschichte teilen. Das können sie entweder schriftlich, in einer Videokonferenz oder auch bei einem persönlichen Termin in einer sogenannten vertraulichen Anhörung tun.

Auf dem Porträtfoto trägt Julia Gebrande ein lila Oberteil mit Blumenprint, einen türkisen Schal, eine Brille mit lila Fassung, kinnlanges, graues Haar und dezenten Lippenstift. Sie lächelt leicht in die Kamera.

Prof. Dr. Julia Gebrande

beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit Fragen nach der individuellen und kollektiven Bewältigung sexualisierter Gewalt. Nach ihrem Studium der Sozialen Arbeit baute sie die Beratungsstelle Wildwasser Esslingen e.V. mit auf und arbeitete dort viele Jahre: in der Beratung, in Präventionsprojekten, in einer Stabilisierungsgruppe, im Ringen mit Politik und um Öffentlichkeit. 2010-2014 promovierte sie an der Universität Hildesheim und arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschung und Lehre der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim. 2014 arbeitete sie als Professorin an der Hochschule Esslingen für „Soziale Arbeit im Gesundheitswesen“. Seit 2022 ist sie Mitglied der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, dessen Vorsitz sie 2024 übernahm. Foto: Photothek

Wie kann ich mir so eine Anhörung vorstellen?

Eine vertrauliche Anhörung ist ein Gespräch, das ganz selbstbestimmt in einem sicheren Rahmen abläuft. Betroffene können entweder mit uns Kommissionsmitgliedern oder einer Person aus dem Team von Anhörungsbeauftragten sprechen, die in ganz Deutschland dezentral mit uns zusammenarbeiten. Das sind meistens Rechtsanwält*innen oder Psycholog*innen, die qualifiziert sind, diese Gespräche durchzuführen. Betroffene oder auch Zeitzeug*innen haben dann die Möglichkeit, genau zu erzählen, was ihnen widerfahren ist, wer der Täter oder die Täterin war, wie sie vorgegangen sind oder auch welche Abhängigkeitsverhältnisse ausgenutzt wurden. Es interessiert uns aber auch, welche Folgen aus dem Missbrauch entstanden sind und wie das Umfeld damit umgegangen ist.

Und was passiert dann mit den Geschichten?

Wir sammeln sie und sensibilisieren damit die Öffentlichkeit. Es gibt ein Geschichtenportal mit über 100 Geschichten von Betroffenen, wo beispielsweise viele unterschiedliche Tatkontexte beschrieben werden. Natürlich gehen wir vertraulich mit allen Daten um, das heißt, dass sie immer pseudonymisiert sind – wir nennen keine Namen von Personen und es gibt auch keinen Rückschluss auf den Ort oder die genaue Zeit. Gleichzeitig haben wir die Möglichkeit, die inzwischen über 3000 persönlichen Geschichten auch wissenschaftlich auszuwerten und Empfehlungen auszusprechen für Institutionen und die Politik.

Wir schauen in die Vergangenheit und lernen daraus für das Heute und die Zukunft.

Warum lohnt es sich für Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, sich an eine staatliche Institution zu wenden, die keine rechtlichen Schritte einleiten kann?

Es ist uns durchaus bewusst, dass es belastend sein kann, die eigene Lebensgeschichte zu erzählen. Gleichzeitig berichten uns sehr viele Menschen, die in eine vertrauliche Anhörung gekommen sind, dass es für sie auch eine Entlastung war und erleben es als positiv, dass sie von einer staatlichen Stelle die Anerkennung für das erfahrene Unrecht erhalten. Viele Menschen haben ja auch gar keine Möglichkeit mehr, eine Anzeige bei der Polizei zu stellen, weil die Taten bereits verjährt sind. Zudem möchten viele Menschen, dass das, was ihnen passiert ist, heute Kindern und Jugendlichen nicht nochmal passiert. Das ist auch unser Bestreben durch die Empfehlungen an die Politik: Was muss sich verändern? Wie müssen sich Präventionsstrukturen, aber auch Hilfestrukturen verändern, damit Betroffenen geglaubt und geholfen wird?

Gibt es ein konkretes Beispiel für eine Empfehlung an die Politik? 

Wir können aus den Geschichten der Betroffenen beispielsweise ableiten: Wie müsste ein gutes Schutzkonzept in Einrichtungen der Behindertenhilfe aussehen? Wie gehen Täter oder Täterinnen klassischerweise vor und was kann man tun, um das zu verhindern? Unsere Grundidee ist, dass wir in die Vergangenheit schauen, um daraus für heute und die Zukunft lernen zu können. Zum einen, was die Versorgung von erwachsenen Betroffenen heute, aber auch, was den Schutz von Kindern und Jugendlichen heute und in der Zukunft betrifft. Ein anderes Beispiel ist unsere Fallstudie Sport. Die Tätigkeiten in der Kommission haben mit dazu beigetragen, dass die Gesellschaft darauf aufmerksam wurde, dass der Bereich Sport, natürlich auch der Behindertensport, von Täter*innen genutzt wird, da sehr viele körpernahe Aktivitäten stattfinden und es besondere Abhängigkeitsverhältnisse gibt. Wir haben eine öffentliche Anhörung durchgeführt und eine Fallstudie in Auftrag gegeben. Gerade ist ein Zentrum für Safe Sport in Vorbereitung, das sich ganz gezielt dieser Thematik im Bereich Sport annimmt.

Was wird da entwickelt?

Beispielsweise eine unabhängige Anlaufstelle für Betroffene und Personen, die Hinweise zu sexualisierter Gewalt im organisierten Sport geben können. Das Zentrum soll aber auch Sanktionen auf Grundlage eines Safe Sport Code erteilen können. Das ist ein Regelwerk für Sportler*innen sowie Trainer*innen und alle anderen Mitarbeitenden in Sportvereinen und Sportverbänden, der gerade vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) entwickelt wurde. Diese Code gibt unter anderem die allgemeinen Umgangsregeln vor, auch wie in einen Gewaltfall zu handeln ist und dass es Beschwerdestellengeben muss für den Fall, dass ein*e Trainer*in übergriffig geworden ist. So etwas erhoffen wir uns auch für Einrichtungen der Behindertenhilfe. Deshalb sprechen wir im Moment ganz gezielt Menschen mit Behinderung an, die in ihrer Kindheit und Jugend sexualisierte Gewalt erlitten haben, denn je mehr Betroffene uns ihre Geschichte erzählen, desto mehr können wir erkennen, wie Täter*innen vorgehen, in Einrichtungen oder anderswo. Nur so können wir Verbesserungsvorschläge für Schutzkonzepte machen und dazu beitragen, die Einrichtung für Kinder und Jugendliche zu einem so weit wie möglich sicheren Ort zu machen. 

Wie stellen Sie den Kontakt zu den Communities her?

Wir sind viel auf Social Media unterwegs, sprechen Verbände und Initiativen an. Am 18. Februar 2025 wird es ein Fachgespräch geben, wo es ganz gezielt um die Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen in der DDR geht. Das ist ein wichtiges Thema, bei dem sich die Aufarbeitungskommission mit den Beauftragten für das SED-Unrecht zusammengetan hat und in allen Bundesländern im Osten Fachgespräche durchführt.

Wie sieht es in Bezug auf die Barrierefreiheit aus bei den Gesprächen?

Die Anhörungen können in Leichter Sprache oder auch in Deutscher Gebärdensprache stattfinden, die Räumlichkeiten sind barrierefrei und wir fragen am Anfang auch immer die persönlichen Bedarfe ab. Unsere Informationen auf der Internetseite gibt es ebenfalls in Leichter Sprache und in Deutscher Gebärdensprache. Statistisch müssen wir davon ausgehen, dass Menschen mit Behinderungen häufiger von sexualisierter Gewalt in Kindheit und Jugend betroffen sind und dass es auch häufiger noch im Erwachsenenalter vorkommt. Trotzdem haben sich bisher noch nicht viele Menschen mit Behinderungen an die Kommission gewandt und das möchten wir gerne ändern.

Eine weiß positionierte Frau im braunen Oberteil und rosefarbenen Schal gebärdet und schaut zur Seite, ihre dunklen Haare sind nach hinten gebunden. Im linken Bildvordergrund ist unscharf der Anschnitt einer männlichen Person zu sehen.
Häufig ist die fehlende Barrierefreiheit, etwa Angebote in Gebärdensprache, ein Grund für fehlende Teilhabe. Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Wie divers ist Ihr eigenes Team aufgestellt?

Wir wollen uns gerne so divers wie möglich aufstellen. Ich trete als Frau mit einer sichtbaren Behinderung in die Öffentlichkeit und mache damit auch meine Lebensgeschichte und meine Erfahrungen sichtbar. Wir haben aber natürlich die Themen Sichtbarkeit und Diversität auch gerade, wenn wir Menschen mit Einwanderungsgeschichte stärker ansprechen wollen. In der Hinsicht gibt es noch Luft nach oben.

Was ist Ihr Eindruck, was die Ansprache von Menschen mit Behinderung durch Vereine und Initiativen betrifft, die sich gegen sexualisierte Gewalt einsetzen?

Ich bin auch im Vorstand von Wildwasser Esslingen e.V.. Die Fachberatungsstellen vor Ort werden meistens von sehr kleinen Vereinen getragen und deshalb sind die Strukturen in den einzelnen Städten ganz unterschiedlich. Fast alle sind im Zuge der Frauenbewegung ab den 1980er- und 1990er-Jahren entstanden, aber nicht alle heißen Wildwasser. Trotzdem vereint diese Beratungsstellen, dass sie parteilich für Betroffene von sexualisierter Gewalt arbeiten und es gibt inzwischen auf der Bundesebene eine Bundeskoordinierungsstelle für all diese Fachberatungsstellen. In der letzten Vollversammlung stand das Thema Inklusion im Mittelpunkt. Das heißt, dass die Fachberatungsstellen im Moment auf unterschiedlichen Ebenen damit beschäftigt sind, sich möglichst barrierearm aufzustellen. Viele Fachberatungsstellen sind aber leider finanziell nicht gut ausgestattet. Momentan gibt es eher wieder Bestrebungen, Gelder zu kürzen und das ist ein großes Problem, vor allem wenn es darum geht, Zielgruppen anzusprechen und die Kooperationen mit Communities zu stärken, die im Moment noch nicht so stark im Blick sind, wie zum Beispiel Menschen mit Behinderungen. 

Können Sie mir etwas zur Gründung der Kommission erzählen, ihrer Anbindung an die aktuelle Regierung und könnte das Aus der Ampel-Regierung Einfluss auf die Arbeit der Kommission haben?  

Das ist eine sehr wichtige Frage, für die ich etwas weiter ausholen muss. 2010 haben zum ersten Mal viele Betroffene den Mut gefasst, öffentlich über sexualisierte Gewalt zu sprechen und die Medien haben das Thema aufgegriffen. Seitdem haben wir viele Erkenntnisse über sexualisierte Gewalt gewonnen, vor allem im institutionellen Bereich, wie zum Bespiel in Einrichtungen der Kirchen, des Sports oder der Schule. Daraufhin haben drei Ministerinnen der damaligen Bundesregierung, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger aus dem Justizministerium, Dr. Kristina Schröder aus dem Familienministerium und Prof. Dr. Annette Schavan aus dem Wissenschaftsministerium gemeinsam den Runden Tisch gegründet und das Amt des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs geschaffen. Die Kommission selbst gibt es seit 2016, weil deutlich wurde, dass es eine bundeszentrale Anlaufstelle für die Aufarbeitung in Deutschland braucht. Wir haben vom Bundestag den Auftrag bekommen, die sexualisierte Gewalt in Deutschland seit 1949 sowohl für die DDR als auch für die BRD aufzuarbeiten. Die aktuellen politischen Entwicklungen sind für uns besonders problematisch, weil eigentlich jetzt gerade erst ein Gesetz auf den Weg gebracht wurde, in dem u.a. die Unabhängige Aufarbeitungskommission entfristet und gesetzlich verankert werden soll.

Was ist das für ein Gesetz und was beinhaltet es?

Es heißt Gesetz zur Stärkung der Strukturen gegen sexuelle Gewalt. Die erste Lesung im Bundestag und die Sachverständigenanhörung haben schon stattgefunden. Eigentlich hätte in diesen Wochen die zweite und dritte Lesung stattfinden und das Gesetz verabschiedet werden sollen. Und durch die Ampel, die jetzt zerbrochen ist, ist im Moment tatsächlich unklar, was aus diesem Gesetz werden wird. Wir hoffen sehr, dass es trotzdem noch auf den Weg gebracht werden kann oder dass es dann in der nächsten Legislaturperiode ganz schnell wieder herausgeholt und verabschiedet wird. Es wäre eine riesige Katastrophe für Betroffene und für die Aufarbeitung in Deutschland, wenn dieses Gesetz gar nicht kommen würde. Es soll dazu beitragen, nachhaltige Strukturen auf Bundesebene aufzubauen, die sexuellen Kindesmissbrauch gezielt bekämpfen, systematisch aufarbeiten und verhindern.

Könnte ein Regierungswechsel die Kommission absetzen?

Die Laufzeit der Kommission ist nur noch bis Ende 2025 finanziert. So lange ist der Kabinettsbeschluss, unsere Beauftragung sozusagen, noch vorhanden. Aber wenn das Gesetz nicht kommt, wissen wir nicht, wie es weitergeht.

In dem Gesetz geht es um sexualisierte Gewalt. Wie würden Sie diese grundsätzlich definieren, wo tritt sie häufig auf und ab wann können sich Menschen bei Ihnen melden?

Also grundsätzlich können sich alle Menschen an uns wenden, die sexuelle Übergriffe in Kindheit und Jugend erlebt haben, egal in welchem Bereich. Etwa 70 % aller Menschen, die sich an die Kommission wenden, berichten von sexuellem Missbrauch in ihrer eigenen Familie oder im nächsten sozialen Umfeld. Das heißt, ausgerechnet der Ort, von dem wir nach wie vor eigentlich denken, dass Kinder dort Geborgenheit und ein Zuhause erfahren, ist für viele Menschen ein Ort, an dem sie Gewalt erleben. Aber eben auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Kinder- und Jugendhilfe, in Kindergärten, Schulen, Internaten, überall dort, wo Kinder und Jugendliche betreut werden, gibt es Autoritätspersonen, die ihre Position oder auch ein Vertrauensverhältnis zu den Kindern und Jugendlichen ausnutzen können, um ihre eigenen sexuellen Bedürfnisse auf Kosten der Kinder und Jugendlichen zu befriedigen. 

Grenzen sind etwas ganz Individuelles.

Wie könnte in diesen Einrichtungen die Prävention aussehen?

Wir brauchen eine stärkere Sensibilisierung: Wie nehme ich Grenzen wahr? Meine eigene Grenze, aber auch die Grenze des Gegenübers. Und wie kann ich sagen, was mir angenehm und was unangenehm ist? Grenzen sind etwas ganz Individuelles. Für die eine Person ist es angenehm, wenn sie am Rücken gestreichelt wird. Und die andere Person empfindet das vielleicht schon als eine Grenzüberschreitung. Menschen sind unterschiedlich und es geht immer darum, über das Thema Grenzen ins Gespräch zu kommen.

Wie unterscheidet man zwischen Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt?

Grenzverletzungen können immer wieder im Alltag unbewusst passieren, wenn Menschen miteinander leben, arbeiten oder eben auch lernen. Bei sexualisierter Gewalt gehen die Täterinnen und Täter in der Regel sehr strategisch vor. Das heißt, Menschen wählen zum Beispiel ganz gezielt auch Berufe, in denen sie sich Kindern und Jugendlichen nähern können und Bedingungen vorfinden, die es ihnen leicht machen, ihre Grenzen zu überschreiten. Und das tun sie dann ganz bewusst, nehmen sich vielleicht sogar Zeit für den sogenannten „Grooming-Prozess“, also sich immer mehr anzunähern und den Kontakt zu dem jeweiligen Kind oder Jugendlichen zu vertiefen , und fangen dann an, ihr Verhalten immer weiter zu sexualisieren, bis es dann wirklich zum sexuellen Übergriff kommt. 

Gibt es noch weitere Täter*innen-Strategien, etwa auch wenn es darum geht, die Gewalt zu vertuschen?

Häufig wird das Ganze als Geheimnis deklariert. Die Betroffenen werden dazu verpflichtet, das Niemandem weiterzuerzählen. Oder noch viel schlimmer, sie werden aus ihrem Umfeld isoliert und es wird dazu beigetragen, dass niemand ihnen glaubt. Das kommt auch häufig bei Menschen mit Behinderungen vor, dass dann Betreuer*innen oder Täter*innen sagen: Was glaubst du eigentlich, wem jemand glauben würde? Dir oder mir? Du hast doch eine Einschränkung, in welchem Bereich auch immer und damit bist Du doch nicht glaubwürdig.

Im Bereich Bildung gibt es etwa die Kampagne Schule gegen sexuelle Gewalt. Hat sich hier schon etwas verändert?

Wir sind gerade dabei, im Bereich Schule eine Fallstudie zu erstellen und sind mit der Kultusminister*innenkonferenz im Austausch, wie die Erkenntnisse aus der Studie in den Schulkontext übertragen werden können. Die Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Kerstin Claus, hat zum Beispiel ein kostenloses Fortbildungsprogramm für Lehrer*innen entwickelt, das online besucht werden kann. Wir gehen davon aus, dass in jeder Schulklasse, in jeder Kindergartengruppe, in jeder Jugendgruppe und wahrscheinlich eben auch in jeder Wohngemeinschaft mindestens ein betroffenes Kind dabei ist. Aber das sind Schätzungen. Um dasgenauer herauszufinden, soll es laut dem Gesetzesentwurf ein Forschungszentrum geben, das regelmäßig Kinder und Jugendliche befragt. 

Es ist wichtig, dass Präventionsbotschaften für alle Kinder in den Alltag einfließen.

Es ist nie leicht, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Wie gehen wir da als Bezugspersonen, Eltern, Pädagog*innen heran?

Diese Vorstellung, die wir früher hatten, dass es irgendwann zu einem Zeitpunkt im Leben ein Gespräch gibt, das Kinder sexuell aufklärt, ist komplett überholt. Es ist wichtig, dass Präventionsbotschaften für alle Kinder in den Alltag einfließen. Gefühle sind da ein ganz wichtiger Bestandteil. Wir sollten vermitteln: Gefühle sind richtig und wichtig und du darfst deinen Gefühlen vertrauen. Und dann mit den Kindern gemeinsam zu schauen: Was fühlt sich gut an? Was fühlt sich nicht gut an? Wie können wir dabei den Körper miteinbeziehen? Das kann schon im Säuglingsalter und dann im Kindergartenalter losgehen, indem Kinder etwa Begriffe für ihre Genitalien haben und dass sie wissen, mein Körper gehört mir.

Das ist vermutlich gerade für Menschen mit Behinderung nicht immer einfach.

Absolut. Wenn ich in meine Vergangenheit schaue, habe ich nie erlebt, dass mein Körper mir gehört hat. Ich war ein medizinisches Objekt der Fürsorge. Es wurden ganz viele Dinge auch gegen meinen Willen oder gegen das, was sich gut angefühlt hat, umgesetzt. Ich musste Nachtschienen tragen, hatte Operationen und Gipse und was weiß ich, was noch alles. Den Grundsatz „Mein Körper gehört mir“ konnte ich überhaupt nicht verinnerlichen. Ich habe das große Glück gehabt, dass es keine*n Täter*in gab, der*die das ausgenutzt hat. 

Wie lassen sich hier bessere Präventionsmaßnahmen ergreifen?

Für Menschen mit Behinderung ist es schwieriger, diese Präventionsbotschaften zu verankern, weil sie in ihrem Alltag eigentlich ständig übergangen und ihre Grenzen wenig respektiert werden. Meine Erfahrung ist, dass in vielen Einrichtungen und Schulen für Menschen mit Behinderung das Thema Sexualität grundsätzlich tabuisiert wird. Mit Sexualität und Behinderung sind häufig zwei gegensätzliche Stereotype verbunden: Entweder, dass Menschen mit Behinderung asexuelle Wesen seien, die gar kein Bedürfnis danach haben oder, dass sie völlig triebgesteuert seien und ihre Sexualität nicht kontrollieren können. Beides ist extrem gefährlich, weil es Menschen mit Behinderung ein selbstbestimmtes Leben und eine selbstbestimmte Sexualität versagt.

Marei Beckermann hat kürzlich bei uns zu diesem Thema einen Artikel veröffentlicht. Sie plädiert für eine*n Dr. Sommer für Menschen mit Behinderung.

Den habe ich gelesen und fand ihn super (lacht). Auch Menschen mit Behinderung haben natürlich ein Recht darauf, Sexualität zu leben und sich attraktiv zu fühlen, Zärtlichkeiten auszutauschen. Es ist wichtig, dass darüber gesprochen wird. Wir dürfen Kinder und Jugendliche mit Behinderung nicht in Watte packen. Auch sie müssen ein Recht darauf haben, sich auszuprobieren. Ich glaube, die beste Prävention besteht darin, dass Menschen Ansprechpersonen haben, mit denen sie über diese Themen sprechen können. Sonst ist es für Täter*innen einfach, diese Neugier oder auch dieses Bedürfnis nach Zärtlichkeit und nach Sexualität ausnutzen, um ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.

Was können wir alle besser machen, wenn es um die Prävention geht? 

Häufig werden diese Themen gegeneinander ausgespielt, also dass man sagt, entweder man ist für Sexualität oder man ist für den Schutz von Kindern und Jugendlichen. Ich glaube, wir brauchen beides. Nur wenn man eine selbstbestimmte Sexualität leben kann, kann man auch dafür sorgen, dass sexualisierte Gewalt verhindert und eingedämmt wird. Erst einmal brauchen wir den positiven Bezug zur Sexualität, das Kennenlernen des eigenen Körpers. Gleichzeitig müssen wir aber auch darüber sprechen, dass es Menschen gibt, die genau das ausnutzen. 

Ich glaube, das Leben ist sehr viel tiefer und authentischer, wenn man sich auch mit dem Leid beschäftigen kann und das nicht nur ausblendet oder verdrängt.

Das sind sehr wichtige und mitunter auch lebensbestimmende Themen, mit denen Sie sich seit vielen Jahren professionell beschäftigen. Wie achten Sie auf Ihre Psychohygiene? 

Es ist in diesem Bereich, wie in vielen anderen Bereichen übrigens auch, sehr wichtig, auf Selbstsorge zu achten. Ich erlebe das Thema zwar einerseits als Belastung, gerade wenn Geschichten davon erzählen, dass Betroffene schreckliches Unrecht erlebt haben, ihnen häufig auch im Nachhinein nicht geglaubt wurde und sich daher Folgen auf das ganze Leben erstrecken. Gleichzeitig möchte ich aber auch betonen, dass die Menschen, die uns ihre Geschichten erzählen, überlebt haben. Sie bringen eine unglaubliche Stärke und Kraft mit, was mich häufig sehr beeindruckt. Das sollte uns auch als Gesellschaft anregen, Solidarität zu zeigen und Verantwortung zu übernehmen. Ich finde es deshalb wichtig, dass wir auch dieses vielfältige Bild von Betroffenen in die Öffentlichkeit tragen. Ich glaube, das Leben ist sehr viel tiefer und authentischer, wenn man sich auch mit dem Leid beschäftigen kann und das nicht nur ausblendet oder verdrängt. 

Da gibt es in Sachen Aufarbeitung sicherlich noch viel zu tun.

Auf jeden Fall, etwa auch bezüglich der Geschichte im Umgang mit Menschen mit Behinderungen, da müssen wir nicht nur in die Zeit des Nationalsozialismus schauen, sondern können auch danach noch die Einrichtungen in den Blick nehmen: Da ist so viel Gewalt und Unrecht geschehen und Leid ausgelöst worden. Gleichzeitig war es aber auch schon immer so, dass das Sprechen über das Leid, die Vernetzung und der Austausch zu Empowerment und Selbstermächtigung führt, wenn Menschen, die Ähnliches erlebt haben, zusammenkommen. Das kann sehr bereichernd sein. 

Wenn man sich anschaut, was die rechtlichen Konsequenzen betrifft, etwa durch das tolle Buch Gegen Gewalt an Frauen von Christina Clemm, ist das ja sehr ernüchternd. Ich könnte mir vorstellen, dass es besonders Menschen mit Behinderung schwer haben, in diesem ableistischen System Gehör zu finden. 

Ja, das ist sehr ernüchternd. Christina Clemm ist auch eine unserer Anhörungsbeauftragten. Ich habe mich sehr gefreut, als ich kürzlich davon gelesen habe, dass einer Frau mit einer Lernbehinderung recht gegeben wurde, dass es eine absolute Verletzung ihrer Menschenrechte gewesen war, dass ihre Glaubwürdigkeit vor Gericht so derart in Zweifel gezogen wurde. Sie hatte Übergriffe, die in einer Werkstatt stattgefunden haben, zur Anzeige gebracht und es kam zu einem Verfahren. Eine Gutachterin hat ihr dann mangelnde Glaubwürdigkeit bescheinigt aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen. Das ist absurd: Nur, weil jemand eine Lernbehinderung hat, heißt das doch noch lange nicht, dass die Glaubwürdigkeit der Aussage dadurch infrage steht. Und das ist etwa ein Aspekt, den wir durch unsere Sensibilisierung für diese Gesellschaft vermitteln können – Glaubwürdigkeit hängt nicht mit kognitiven Fähigkeiten oder mit einer bestimmten Form von Traumatisierung zusammen. 

Gibt es etwas, was Sie sich wünschen würden im Umgang mit dem Thema? 

Ich würde mir wünschen, dass alle Menschen, die mit Kindern, Jugendlichen oder auch erwachsenen Schutzbefohlenen arbeiten, bereits in ihrer Ausbildung oder in ihrem Studium darauf vorbereitet werden, über sexualisierte Gewalt zu sprechen. Dass sie sich damit auseinandersetzen, was man präventiv tun kann und dass sie ein Gespür dafür haben, welche Signale ein Kind aussendet. Kein Kind kommt zu einer Betreuer*in und sagt: Bitte hilf mir, ich werde sexuell missbraucht. Ich habe dafür in meiner Doktorarbeit den schönen Begriff „Landeplatz“ gefunden und ich wünsche mir, dass alle Menschen Landeplätze sind für die Botschaften von Kindern, Jugendlichen oder auch Erwachsenen, denen es vielleicht gerade schlecht geht. Dass die Menschen dann das Gefühl haben, da ist eine Person, die weiß, dass es so etwas gibt, die wird mir glauben, die wird mich ernst nehmen und nicht bagatellisieren.

Gibt es irgendwelche Bücher oder Websites, die Sie empfehlen können?  

Was ich Ihnen auf jeden Fall ans Herz legen kann, ist die psychoedukative Broschüre „Was ist los mit mir?“ – Stress und Trauma erklärt in leichter Sprache. Das ist für erwachsene Betroffene. Für Kinder und Jugendliche empfehle ich: das BeSt-Projekt – Beraten und Stärken. Das ist ein Präventionsprogramm speziell für Mädchen und Jungen mit Behinderungen entwickelt – es heißt Ben und Stella. Das können etwa Einrichtungen einsetzen, um mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen über das Thema sexualisierte Gewalt ins Gespräch zu kommen. Oder auch das Kummerbuch, das Menschen ohne oder mit nur eingeschränkter Lautsprache sowie mit kognitiven Beeinträchtigungen die Kommunikation über Gewalterfahrungen ermöglichen soll.

Vielen Dank für das Gespräch.

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