Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen. Wenn wir aber nicht den Zwergenaufstand proben, werden wir am Ende hinten runterfallen.
So etwa könnte man vielleicht die Situation der Behindertenbewegung beschreiben. Was sie in den letzten Jahrzehnten erreicht hat, das ist beeindruckend. Trotzdem bleibt immer noch viel zu tun. An dieser Stelle möchte ich gerne einige Personen herausstellen, die sich um die Rechte Behinderter verdient gemacht haben.
Als ich jung war, wurden Behinderte oft noch vor der Öffentlichkeit versteckt. Das galt nicht nur für Kinder mit einer geistigen Behinderung, sondern auch für Körperbehinderte und Blinde. Ich erinnere mich gut an eine Frau, die von ihren Eltern im Hinterzimmer vor den Nachbarn versteckt wurde und ihr Elternhaus zum ersten Mal im Alter von knapp 40 Jahren verließ.
Ich erinnere mich an meine Bekannte Jutta, deren Kinderarzt ihre Spina Bifida heimlich behandeln musste, weil sie sonst dem sogenannten “Euthanasie”-Programm “T4” der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen wäre. Die behindertenfeindliche Nazi-Ideologie vom angeblich “lebensunwerten Leben” war in meiner Jugend noch stark verbreitet, spukt aber auch heute noch im harmloseren Gewand einer neoliberalen Ideologie in viel zu vielen Köpfen herum.
Ich erinnere mich an den blinden Bundesrichter Dr. Hans-Eugen Schulze, der sehr viel Wert auf seinen akademischen Titel legte, mich später gelegentlich anrief, um mir nützliche Tipps zu geben, mit wem ich mich gewinnbringend vernetzen könne. Zeitlebens hat er gegen die Zwangssterilisation Behinderter angekämpft, die auch nach Ende des 2. Weltkriegs lange noch nicht vom Tisch war. Vermutlich war er eines ihrer Opfer.
Ich erinnere mich an Ernst Klee, der mir von seinem Freund erzählte, der nach Aussagen vieler Mitmenschen “an den Rollstuhl gefesselt” war. Gemeinsam mit ihm protestierte Klee auf den Gleisen von Straßenbahnen, in die kein Rollstuhl hineingelangen konnte.
Ich erinnere mich an Walter Schubert, der in Mainz bei Prof. Dr. Karl Holzamer studiert hatte. Der an Poliomyelie erkrankte Rollstuhlfahrer machte den späteren Gründungsintendanten des “Zweiten Deutschen Fernsehens” (ZDF) vertraut mit dem alltäglichen Leben eines Rollstuhlfahrers, was später das Engagement des ZDF für die damalige “Aktion Sorgenkind” begünstigte. Gemeinsam mit Walter Schubert und den “Club Behinderter und ihrer Freunde” (CeBeEf) habe ich in den 80er Jahren erfolgreich für barrierefreie Verkehrsmittel gekämpft.
Ich erinnere mich an den erst kürzlich verstorbenen Peter Radtke, der die Arbeitsgemeinschaft Behinderte in den Medien (ABM) in München gegründet hat. Neben gelegentlichen Treffen auf Veranstaltungen der Aktion Mensch erlebte ich ihn auch einmal auf einer Lesung in Marburg. Die biblische Gestalt des Hiob erweckte der Schauspieler bei dieser Lesung aus dem Alten Testament auf tief berührende Weise zum Leben.
Ich denke an mein Gespräch mit ChrisTine Urspruch, die ihr schauspielerisches Talent ohne Ansehen ihres Aussehens entfalten möchte. Im “Tatort” Münster muss sie sich als “Alberich” frotzeln lassen. Dabei könnte die große Schauspielerin mit der zierlichen Figur garantiert auch alle großen Rollen voll ausfüllen.
Ich denke an viele Begegnungen mit Ottmar Miles-Paul und die “Initiative Selbstbestimmt Leben” (ISL) in Kassel. Aus seinem Engagement entwickelte sich auch die sogenannte “Krüppel-Bewegung” der frühen 80er Jahre sowie die Umbenennung der vorherigen “Aktion Sorgenkind” in “Aktion Mensch”.
Ich denke an meine einstige Mitschülerin Sigrid Arnade. Insbesondere auch ihrem Einsatz ist die Verankerung des Artikels 3 Absatz 3 Satz 2 “Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden” zu verdanken.
Ich gedenke der kleinen Mia, die 2019 im Alter von 15 Jahren verstorben ist. Wegen des Pallister-Killian-Syndroms (PKS) konnte sie weder laufen, noch sprechen. Dennoch verbreitete sie einen Lebenswillen und eine Fröhlichkeit, die alle Behauptungen von einem angeblich “lebensunwerten Leben” Lügen strafte.
Viele Namen und viele Menschen könnte ich noch nennen. Viele Weggefährten fallen mir ein, ohne deren Engagement wir heute nicht so weit wären, wie wir jetzt sind. Beispielhaft nenne ich nur Mireille Henne, Jo Fisse und Jürgen Markus aus Marburg oder Keywan Dahesch aus Frankfurt.
Mitunter betrachte ich das Auftreten jüngerer Aktiver mit Skepsis, wenn sie wieder und wieder genau die Debatten führen, die ich schon hundertmal geführt habe. Manchmal betrübt mich, dass sie die Alten wenig würdigen, deren Vorarbeit ihnen die Grundlage liefert, auf der Basis des Grundgesetzes und der Behindertenkonvention der Vereinten Nationen (UNBRK) argumentieren zu können.
Dann wieder freut mich die Beharrlichkeit und der Mut der jungen Leute. Vielleicht lernen sie ja noch, dass die allergrößte Mehrheit der Behinderten älter als 60 Jahre ist und deswegen oft nicht nur eine einzige Beeinträchtigung aufweist. Gegen die Jungen sehen wir manchmal ja wirklich alt aus.