Frust, Scheitern, Inklusion. Warum wir unseren Kindern nicht zu früh die Türen schließen dürfen

Eine große Hand hilft einer kleinen Hand, den Schlägel auf ein buntes Xylophon zu halten, darunter ein bunter Teppich.
Was hat Scheitern mit Inklusion zu tun? Foto: Anna Spindelndreier | Gesellschaftsbilder.de
Lesezeit ca. 7 Minuten

Alle Eltern wollen ihre Kinder schützen – vor Enttäuschung, Ausgrenzung, Scheitern. Doch gerade dieser Schutz kann zur Falle werden: Wer behinderte Kinder vorschnell in Schonräume wie Förderschulen verweist, nimmt ihnen Chancen, Perspektiven und Selbstbestimmung. Inklusion bedeutet nicht, Frust zu vermeiden – sondern allen Kindern zuzutrauen, daran zu wachsen.

„Ich möchte meinem Kind Frust ersparen.“

„Ich habe Angst, dass mein Kind scheitern könnte.“
„Ich möchte ihm nicht eine Welt vormachen, in der es alles erreichen kann.“

Das sind Gedanken, die viele Eltern bewegen. Besonders dann, wenn es darum geht, ob ihr behindertes Kind eine Regelkita oder spätestens danach eine Regel- oder Sonderschule besuchen soll. Neben infrastrukturellen Fragen wie der nach Barrierefreiheit, einem Inklusionskonzept, nach Aufnahmebedingungen, Fahrtwegen oder der Betreuung spielt dabei oft eine zentrale Sorge mit: Was, wenn mein Kind scheitert? Wenn es Frust erlebt, an Grenzen stößt, ausgegrenzt wird?

Diese Gedanken sind verständlich. Eltern wollen ihr Kind schützen. Vor Schmerz, Enttäuschung, Überforderung, vor der Härte der Welt. Und doch führt genau der Schutzgedanke oft in die Irre. Denn er folgt einer gefährlichen Logik: Frust ist schlecht. Scheitern ist gefährlich. Also meiden wir Situationen, in denen das passieren könnte.

Dahinter steckt Ableismus. Einem behinderten Kind wird damit nämlich weniger Frustrationstoleranz und Resilienz zugetraut als einem Kind ohne Behinderung. Scheitern wird zu einer fundamentalen Gefahr, statt einer Möglichkeit, zu lernen. 

Und so landen viele Kinder in Sonderschulen. Aus dem Wunsch heraus, sie vor Enttäuschung zu bewahren.

Der Irrtum vom frustfreien Schonraum

Die Annahme: In Sonderschulen ist das Lernen besser angepasst. Es gibt weniger Überforderung, weniger Mobbing. Mehr „geschützte“ Räume. Weniger Frust.

Aber das stimmt nur bedingt und hat einen hohen Preis. Studien zeigen, dass auf Sonderschulen bereits mitgebrachtes Wissen häufig verkümmert, deutlich seltener Schulabschlüsse erreicht werden (nur etwa 28 % im Vergleich zu 46,6 % auf Regelschulen) und diese Abschlüsse oft kaum Zugang zu qualifizierten Berufen bieten. Dadurch schwindet auch die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben in der Zukunft. Die Perspektive für viele: Arbeit in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Ein Weg, den viele Kinder nicht wählen würden, wenn man sie wählen ließe. Frusterfahrungen in den Schulen sind daher hoch und führen unter anderem zu einem Schulklima, das Gewalt begünstigt.

Was als Schonraum beginnt, endet oft in Isolation

Dr. Brigitte Schumann spricht hier von der Schonraumfalle: Räume, die Schutz versprechen, aber in Wahrheit ausschließen. Im Falle von Sonderschulen dienen sie damit vor allem der Regelschule – und somit der Gesellschaft selbst, – weil sie sich nicht mehr mit den Bedürfnissen der an Sonderschulen unterrichteten Kinder befassen müssen.

Und so erleben Kinder mit Behinderung erst recht Frust. Nur anders: nicht, weil sie in Mathematik vielleicht nicht mitkommen, sondern weil ihnen Chancen verwehrt werden. Weil sie ausgeschlossen werden. Weil ihnen kaum jemand zutraut, mehr zu wollen oder zu können. Weil sie nicht herausgefordert werden und lernen, sich gegenüber Nicht-Behinderten behaupten zu können.

Fehler dürfen sein – solange sie zu besseren Ergebnissen führen. Authentizität ist willkommen – solange sie das Betriebsklima verbessert, Mitarbeitende bindet und damit am Ende die Produktivität steigert. Freiheit im Arbeitsleben wird zugelassen, weil sie sich rechnet. Authentizität, die nicht in Gewinnmaximierung übersetzbar ist, wirkt dagegen bedrohlich.

Frust ist nicht das Problem, sondern, wie wir damit umgehen.

Wir alle erleben Frust. Fehler. Scheitern. Ablehnung. Niederlagen. Das gehört zum Leben. Und wir lernen oft mehr aus Misserfolgen als aus Erfolgen.

In unserer Gesellschaft sprechen wir mittlerweile offener über Fehler und Fehlerkultur. Wir lernen, dass es Mut braucht, sich verletzlich zu zeigen. Dass Authentizität heilsam ist. Dass es keine Schwäche ist, zu sagen: „Ich weiß es nicht.“ Oder „Ich kann das (noch?) nicht.“
Und dennoch: Gerade bei Kindern mit Behinderungen wollen viele vermeiden, dass sie genau diese Realität erleben.

Warum eigentlich?

Vielleicht, weil diese Werte meist fest im Rahmen der Leistungsgesellschaft verankert bleiben: Fehler dürfen sein – solange sie zu besseren Ergebnissen führen. Authentizität ist willkommen – solange sie das Betriebsklima verbessert, Mitarbeitende bindet und damit am Ende die Produktivität steigert. Freiheit im Arbeitsleben wird zugelassen, weil sie sich rechnet. Authentizität, die nicht in Gewinnmaximierung übersetzbar ist, wirkt dagegen bedrohlich.

In unserer Gesellschaft ist Zugehörigkeit eng an (vermeintliche) Leistungsfähigkeit geknüpft. Wer etwas „schafft“, gehört dazu. Wer „nicht mithalten“ kann, wird schnell als schwach angesehen (und Schwäche als Gegenteil von Leistungsfähigkeit). Viele nicht-behinderte Eltern haben selbst gelernt, dass sie Anerkennung für Leistung, Konkurrenzfähigkeit, strikte Arbeitsmoral oder ihren finanziellen Status erhalten. Sie sind es gewohnt, nach diesen kapitalistischen (und somit auch ableistischen) Maßstäben bewertet zu werden und ihren Platz in der Gesellschaft buchstäblich „zu verdienen“. Diese Eltern erleben bei ihren behinderten Kindern eine Art Bruch: Sie merken, dass ihr Kind diesen Anforderungen vielleicht nicht entsprechen kann – und daraus entsteht Angst. Angst vor Ausschluss, Angst vor Abwertung, Angst davor, dass dem Kind das Gleiche verwehrt bleibt, was ihnen selbst Zugehörigkeit verschafft hat. Angst vor Versagen, vor Armut und vor dem Scheitern im kapitalistischen System – mit all den Konsequenzen, die das mit sich bringt. Förderschulen und Werkstätten wirken wie eine „sichere“ Lösung, parallel zum System. 

Zutrauen und Begleiten

Das ist Ableismus. Wenn einem Kind nicht zugetraut wird, Teilhabe auf seine eigene Weise zu gestalten, sondern es vorsorglich geschont oder ausgegrenzt wird. Wenn es heißt: „Das ist eh nichts für dich.“ Dabei übersehen wir, dass Kinder – auch mit Behinderungen – nicht automatisch am Spielfeldrand stehen wollen. Sie wollen dazugehören, mitmachen und Erfahrungen sammeln. Nicht unbedingt, indem sie Leistung nach normativen Maßstäben erbringen, sondern indem sie ihre eigenen Wege finden.

Der eigentliche Spiegel ist also nicht für das Kind, sondern für uns Erwachsene: Wir müssen uns fragen, wie sehr wir Zugehörigkeit an Leistung knüpfen. Und ob wir bereit sind, ein anderes Verständnis von Teilhabe zu entwickeln – eines, das nicht auf Konkurrenz, Leistung und „Maximierung“ beruht, sondern bei dem jeder Mensch einen Platz hat – ob die Veranlagungen konkurrenzfähig und monetarisierbar sind oder nicht.

Wenn wir Kindern mit Behinderungen die Möglichkeit nehmen, mit ihren Grenzen in Berührung zu kommen, nehmen wir ihnen auch die Chance, ihre Möglichkeiten zu entdecken und eigene Strategien zu entwickeln. Dort, wo wir sie vor Ausschluss bewahren, bewahren wir sie auch vor Anschluss und Selbstbehauptung. Dort, wo wir sie vor Frust schützen, nehmen wir ihnen auch die Chance auf Erfolg. 

Eine Person mit einem Bein steht auf einem Rollfeld, neben ihr ein professionelles Handbike.
Astronautin, Anwalt, oder Profi-Sportlerin wie Christiane Reppe – wir alle benötigen Begleitung auf unseren Lebenswegen. Foto: Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Wollen wir Kindern dabei helfen, sich auszuprobieren oder sie daran hindern? 

Wenn ein nicht-behindertes, privilegiertes Kind den Wunsch äußert, z. B. Astronautin zu werden, greifen oft viele helfende Systeme: Lehrer*innen, Eltern, Berufsberatung, Agentur für Arbeit, vielleicht Mentor*innen. Gemeinsam wird geschaut: Was brauchst du, um diesem Ziel näherzukommen? Wo sind deine Stärken? Was könnte eine Alternative sein? 

Diese Art von Begleitung fehlt vielen Kindern mit Behinderung (und anderen Marginalisierungserfahrungen).
Nicht, weil sie keine Träume hätten. Sondern weil ihnen früh signalisiert wird: „Das ist nichts für dich.“ Dies geschieht ebenfalls durch ein ganzes System an Personen: Ärzt*innen, Therapeut*innen, Pädagog*innen, Sozialarbeiter*innen, Schulpersonal, Eltern. 

Wo bei anderen oft ermutigt, differenziert und geschaut wird, wie man trotz Hindernissen weiterkommt, wird bei behinderten Kindern schnell zu Alternativen im Parallelsystem geraten, zu einfachen Tätigkeiten, meist zur Werkstatt. 

Nicht, weil sie dort hingehören, sondern, vermeintlich, um sie vor Frust zu schützen und gleichzeitig die Segregation nicht hinterfragen zu müssen.

Die erste Anwältin mit Down-Syndrom in Mexiko zeigt: Wir wissen nicht, was möglich ist. Wir haben es  jahrzehntelang nicht herausgefunden, weil wir es gar nicht versucht haben.

Wir machen ihnen keine Welt vor, in der sie alles erreichen können. Sondern eine, in der sie nichts erreichen dürfen.

Es ist eine bittere Ironie: Aus Angst vor Scheitern und Ausgrenzung geben wir behinderte Kinder in Systeme, die genau das verfestigen. Wir schützen sie nicht, wir nehmen ihnen Chancen. Und wir versagen ihnen das, was anderen Kindern selbstverständlich zusteht: Anschluss, Entwicklung, Vorbilder, Perspektiven.

Denn was wäre, wenn wir ihnen etwas zutrauen?

Die erste Anwältin mit Down-Syndrom in Mexiko zeigt: Wir wissen nicht, was möglich ist. Wir haben es  jahrzehntelang nicht herausgefunden, weil wir es gar nicht versucht haben.

In meiner Klasse damals war ein Kind mit Lernschwierigkeiten, das unbedingt seinen Namen schreiben wollte. Viele wollten ihm diesen Frust ersparen: „Das ist zu schwer für dich, das musst du (noch) nicht können.“ Aber es hat nicht aufgegeben. Und am Ende des Schuljahres konnte es seinen Namen schreiben. Die ganze Klasse hat diesen Moment gefeiert.
Das ist nicht nur Lernen. Das ist Bildung. Das ist Würde.

Inklusion heißt nicht: Frust provozieren, sondern Gleichberechtigung ermöglichen

All das heißt nicht, dass wir Frust einfach achselzuckend hinnehmen sollen. Der Appell, Frust zuzulassen, ist kein Freifahrtschein für Schulen, Inklusion nicht ernst zu nehmen und Barrieren bestehen zu lassen.

Inklusion ist ein Menschenrecht. Sie ist nicht „nett gemeint“, kein „Bonus“, kein „Extra-Angebot“. Barrierefreiheit, angepasste Materialien, Unterstützungssysteme, Assistenzen, bauliche Infrastruktur, Schutz vor Mobbing und Diskriminierung sind Mindeststandards. Keine Luxusgüter.
Frust darf nicht deshalb entstehen, weil Ministerien und Schulen strukturelle Hürden nicht abbauen. 

Die Wahrheit ist einfach: Wenn alle Rahmenbedingungen stimmen, werden Frust und Scheitern nicht verschwinden. Sie gehören dazu. Für alle Kinder. Und genau darin liegt ihr Potenzial.

Denn erst, wenn wir Kinder mit Behinderung nicht vor Frust beim Lernen schützen wollen, sondern ihnen zutrauen, daran zu wachsen, nehmen wir sie wirklich ernst.

Im Beitrag erwähnte Links:

1. Studien zeigen, dass auf Sonderschulen bereits mitgebrachtes Wissen häufig verkümmert. Mehr Infos hier

2. Sozialatlas der Heinrich Böll Stiftung 2022, S. 33 f., hier online verfügbar. 

3 . Ohne Abschlüsse schwindet auch die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben in der Zukunft, zeigt ein Beitrag von Volker Schönwiese hier

4. Brigitte Schumann: «Ich schäme mich ja so!». Die Sonderschule für Lernbehinderte als «Schonraumfalle», online hier verfügbar. 

5. Die erste Anwältin mit Down-Syndrom, mehr Infos hier

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