Das besondere Kind

Das Logo von die neue Norm auf rotem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Siri Gottschling.
Lesezeit ca. 3 Minuten

Sprache ist nicht nur Macht, sie macht auch viel mit unseren Gefühlen und unseren Gedanken. Wie etwas benannt wird, hat einen Einfluss darauf, wie wir es bewerten und empfinden.

Deshalb dreht es mir jedes Mal den Magen und das Herz um, wenn Eltern (oder sonstige Bezugspersonen) eines Kindes mit Behinderung ihr Kind nicht als solches betiteln, sondern es ihr „besonderes Kind“ nennen. Wer meint, ein besonderes Kind zu haben, dem unterstelle ich hierbei keine böse Absicht. Sondern eher einen Mangel an Achtsamkeit und Akzeptanz in Bezug auf die Existenz einer Behinderung. Eine Umbenennung von einem Umstand ändert leider nichts an dem Umstand. Ein Mensch mit Behinderung bleibt ein Mensch mit einer Behinderung und das in den allermeisten Fällen bis zum Ende ihres oder seines Lebens. Dass es Eltern schwerfällt, ihr Kind im Zusammenhang mit einer Behinderung zu sehen, kann ich insoweit nachvollziehen, weil eine Behinderung für all das steht, was man sich für sein Kind niemals wünschen würde. Daher wird eine Umschreibung gewählt, die leichter über die Zunge geht. Selbst der Begriff “Behinderung” hat für viele Menschen eine absolut negative Assoziation. Nicht zuletzt dadurch, dass er in den letzten Jahren zu einer umgangssprachlich inflationär verwendeten Beleidigung verkommen ist, scheint eine neue Begriffsschöpfung eine verlockende Alternative zu bieten.

Vor über 20 Jahren wurde bereits versucht, das Wort “Behinderung” durch “Handicap” zu ersetzen. Auch damals weigerte ich mich strikt, diesen neuen Namen in meinen Sprachschatz zu übernehmen, weil ich darin für niemanden einen Mehrwert erkennen konnte. Außer vielleicht für diejenigen, die damit Probleme hatten, das Wort Behinderung in den Mund zu nehmen. Ich hatte dieses Problem nie, weil meine Behinderung für mich Alltag bedeutet und zu einem Teil meiner Identität geworden ist.  

Die Etiketten „besondere Kinder“ oder „Menschen mit besonderen Bedürfnissen“ halte ich sowohl für einen völlig falschen Ansatz als auch für einen Rückschritt und absolut kontraproduktiv. Dieses unnötige Hervorheben einer Besonderheit stellt diese Kinder zusätzlich ins Abseits und widerspricht den jahrzehntelangen Bemühungen der Inklusionsaktivist:innen!

Menschen mit Behinderung wollen und sollten nicht aufgrund ihrer Behinderung als besonders angesehen werden. Wenn meine Eltern mich als ihr besonderes Kind bezeichnet hätten, hätte ich nicht nur ihnen, sondern jeder Person, die es gewagt hätte, sehr deutlich widersprochen. Mein Wunsch, einfach in der Masse unauffällig mitschwimmen zu können, ist bis heute ungebrochen. Oftmals ist man als Mensch mit einer Behinderung allerdings durch die Lebenswirklichkeit dazu gezwungen, zusätzliche Auffälligkeit zu produzieren. Das macht man selten rein zum Spaß, sondern weil man schlicht keine andere Wahl hat.

Aber man hat die Wahl bei der Verwendung von Bezeichnungen für Kinder und Erwachsene mit Behinderungen! Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, welche Assoziationen bestimmte Bezeichnungen in den Köpfen anderer Menschen auslösen können. Dies gilt insbesondere auch für die Kinder, über die auf diese Weise gesprochen wird. Gerade Kindern, die noch auf der Suche nach ihrer eigenen Identität sind, sollten wir niemals Etiketten verleihen, die sie in irgendeiner Weise bewerten. Der Kampf um die eigene Identität wird für ein Kind mit Behinderung ohnehin eine schwierige Aufgabe darstellen. Wir alle müssen sie unterstützen, ihr volles Potenzial zu entfalten, ohne dass ihre Behinderung im Vordergrund steht.

Anstatt uns ständig neue kreative Bezeichnungen für den Umstand, eine Behinderung zu haben, auszudenken, sollten wir uns lieber die Frage stellen: Wie können wir das negative Bild, das immer noch viele Menschen im Zusammenhang mit Behinderungen assoziieren, ändern? Um dies zu erreichen, bedarf es einer Veränderung der realen Lebenssituationen von Menschen mit Behinderungen. Nur durch eine verbesserte Lebensrealität können wir das falsche Vorurteil und die Stigmatisierung von Behinderungen überwinden. Erst wenn Behinderungen nicht mehr in vielen Lebensbereichen einschränkend sind, können sie als natürlicher Teil der menschlichen Vielfalt anerkannt und respektiert werden.

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3 Antworten

  1. Der Text hätte weitgehend auch von mir sein können. ‘Besonders’ finde ich besonders doof. Mich hat es als Kind immer angekotzt, wenn mir meine Eltern immer berichtet haben, wo sie wieder einen Rollstuhlfahrer gedehen hatten. Ich frug dann immer, was denn an ihm so Besonderes gewesen wäre, daß man das extra erwähnen müsse.
    Allerdings bezweifle ich, daß das negative Image des Begriffs ‘behindert’, sich durch Verbesserungen der Lebenswirklichkeit behinderter Menschen verbessern wird, denn die meisten, die als Nichtbehinderte ein negatives Image von Behinderung haben, kennen diese Lebenswirklichkeit nicht einmal.

  2. Hallo!

    Manchmal wünsche ich mir ein Lexikon, was sich die Kinder von damals von ihren Eltern im Umgang mit ihnen doof oder wünschenswert fanden/finden.

  3. Hallo Leya,
    das dürfte bei jedem etwas anderes gewesen sein. Ich selbst hätte mir von den meinen gewünscht, daß sie meine Behinderung so sehen wie ich selbst: Als Eigenschaft wie meine Haarfarbe und gelegentliches technisches Problem. Es hätte mich auch sehr erfreut, wenn sie ihre Vorurteile über das Leben mit Rollstuhl durch Gespräche mit erwachsenen Rollstuhlfahrern abgebaut hätten.
    Aber auch in meiner Generation hat es Behinderte gegeben, die ihre Behinderung genauso bierernst wie ihre Eltern nahmen, glaubten sie wären krank und es normal fanden, wenn sie ohne Grund verhätschelt wurden und von fremden Leuten auf der Straße Geld/Eis/Schokolade annahmen.

    Viele Grüße
    Erika

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