Drei Mal wurde Haben Girma schon in das Weiße Haus eingeladen. Ob sie irgendwann einmal Präsidentin der Vereinigten Staaten werden könnte? Wer weiß. Karina Sturm hat für das Ability Magazine mit der Behindertenrechtsaktivistin und ersten taubblinden Absolventin der Harvard Law School gesprochen.
Am 7. September 2019 ist das San Francisco Ferry Building randvoll gepackt. Menschen mit Assistenzhunden, Rollstühlen, Krücken und einer Vielfalt anderer Hilfsmittel finden ihren Weg zu diesem besonderen Event in der Book Passage, einem 40 Jahre alten Buchladen im Herzen der Bay Area. Von deckenhohen Regalen mit bunten Büchern umrahmt, füllt sich der kleine Raum schnell.
Der Grund für dieses diverse Publikum ist Haben Girma, eine Behindertenrechtsaktivistin, Autorin und erste taubblinde Absolventin der Harvard Law School. In ihrem Buch Haben: The deaf-blind woman who conquered Harvard Law, beschreibt sie ihre Erfahrungen vom Leben in einer Welt, die für sehende und hörende Menschen gemacht ist. Es ist ein überraschend warmer Tag; der Raum heizt schnell auf, was die Besucher jedoch nicht davon abhält, sich wie Sardinen aneinanderzureihen. Jeder möchte einen flüchtigen Blick auf Haben werfen, die auf einem Tisch am hinteren Ende des Raums sitzt; ihr Blindenführhund liegt gemütlich zu ihren Füßen. Haben trägt ein schwarz-weißes Kleid und hält ein Mikrofon in der rechten Hand, während ihre linke Hand auf einem Braille Notizgerät ruht.
Der Raum verstummt, als Haben beginnt zu sprechen. Jeder einzelne Zuhörer hängt an ihren Lippen. Haben ist eine Naturgewalt und die heutige Veranstaltung ist nur eine von vielen, die Haben nutzt um Behindertenrechtsaktivisten, Anwälte, Akademiker, Menschen mit und ohne Behinderung, chronisch Kranke und viele andere zu motivieren, endlich zu handeln und in ihre Fußstapfen zu treten.
Haben wurde taubblind geboren, doch als Kind konnte sie teilweise hören und sehen, was es ihr ermöglichte sprechen zu lernen. Und diese Stimme nutzt sie geschickt. Vom ersten Schultag an musste Haben für Barrierefreiheit und gegen die niedrige Erwartungshaltung ihres Umfelds kämpfen – Kämpfe, die sie zu der Person gemacht haben, die sie heute ist: Eine Anwältin, die sich für Chancengleichheit von Menschen mit Behinderungen einsetzt.
Vor meinem Treffen mit Haben schreibe ich ihr eine E-Mail und frage, wie ich mich am besten vorstellen soll. Da sie mich weder sehen noch hören kann, darf ich sie nicht einfach aus dem Nichts anfassen, ohne ihr vorher gesagt zu haben, wer ich bin. Der Gedanke, ich könnte eine der wichtigsten Aktivistinnen dieses Jahrhunderts respektlos behandeln, macht mich etwas nervös.
Haben erklärt mir, wie wir kommunizieren werden, was nicht sonderlich anders ist, als mit hörenden und sehenden Menschen zu sprechen. Tatsächlich hat Haben einen Teil des Systems, das sie zur Kommunikation mit Mitmenschen nutzt, selbst erfunden. Als Studentin suchte sie nach einfacheren und zugänglicheren Wegen sich mit ihren Peers auszutauschen und kam auf die Idee, sie könnte ein Computerkeyboard mit ihrem Braille Notizgerät verbinden. Diese Erfindung ermöglicht es Haben die Buchstaben, die ihre Mitmenschen auf dem Keyboard tippen, in Echtzeit via Braille zu lesen.
Ich erfahre von Haben, dass ich bei unserem Interview warten soll bis sie sich hingesetzt und ihr Keyboard sowie ihr Braille Notizgerät vorbereitet hat; erst dann gehe ich auf sie zu. In ihrem Buch beschreibt sie eine Situation, in der sich Freunde nach ein paar Drinks generell als “Hey, ich bin’s” vorstellen, woraufhin sie immer antwortet: “Ich, wer?” Diese Situation erinnert mich daran, auch wirklich meinen Namen und den Grund für unser Treffen zu tippen.
Wenige Tage später finde ich mich nach einer kurzen Fahrt in einem kleinen Café in Palo Alto, Haben’s Heimat, wieder. Gemeinsam mit einem Freund und ihrem Assistenzhund Mylo, ein deutscher Schäferhund, sitzen Haben und ich an einem kleinen Tisch an einer befahrenen Straße. Während Haben ihr Keyboard und ihr Braille Notizgerät auf dem Tisch platziert, macht es sich Mylo unter ihrem Stuhl – immer nah bei Haben – gemütlich. Das kleine schwarze Gerät, ihr Braille Notizgerät, ruht in ihrem Schoß; das Computerkeyboard schiebt sie auf meine Seite des Tischs. Es ist Sonntagnachmittag und das Café ist belebt. Nach nur wenigen Minuten Gespräch, nähert sich eine junge Frau unserem Tisch und fragt, ob sie kurz mit Haben sprechen kann. Haben kennt hier fast jeder.
Ich beginne zu tippen. Nach nur zehn Wörtern fällt mir mein erster Schreibfehler auf, doch Habens Finger stoppen keine Sekunde. Sie gleiten flink über die Braillezeile. Gleichzeitig greift sie mit der rechten Hand nach ihrer Kaffeetasse und hebt diese an. “Mach’ dir keine Sorgen um Rechtschreibung oder Satzzeichen”, sagt sie. Dank der eigenen Erfindung ist es für Haben mittlerweile einfacher sich mit ihren Mitmenschen auszutauschen. “Manche taubblinden Menschen kommunizieren mittels Stimme. Sie können genug hören, um zu verstehen, was um sie herum passiert. Andere nutzen Gebärdensprache, da ihr Sehvermögen ausreicht, um die visuellen Zeichen zu sehen. Wieder andere kommunizieren mit Hilfe von taktiler Gebärdensprache. Das heißt sie fühlen mit ihren Händen die Gebärden ihres Gegenübers. Außerdem gibt es auch noch die Möglichkeit, dass der Gesprächspartner auf deren Handfläche schreibt”, erklärt Haben mir. Jedoch funktionieren viele dieser Techniken nicht im Austausch mit Lehrern oder nicht-behinderten Studenten. Habens Idee das Keyboard mit ihrem Braille Notizgerät zu verknüpfen, überwindet diese Hürde und macht Kommunikation nicht nur für Haben zugänglich, sondern fühlt sich gleichzeitig ganz natürlich für ihre Mitmenschen an, die tippen ohnehin gewöhnt sind.
Praktisch ihr ganzes Leben lang musste Haben Barrieren abbauen. In ihrer Collegezeit waren Dinge, die für andere Studenten selbstverständlich waren, wie in der Cafeteria das Essen zu bestellen, das sie auch wirklich mögen, eine große Herausforderung für sie. Denn in Habens College in Oregon gab es 2006 nur ausgedruckte Versionen der Speisekarte, was es für die junge Studentin unmöglich machte, ihr Mittagessen frei zu wählen. Als Haben auf das Problem aufmerksam machte und um Speisekarten in Braille bat, erwiderte der Leiter der Cafeteria, dass sie sich das tägliche Menü stattdessen vorlesen lassen sollte. Mehrfach betonte Haben, dass sie aufgrund der lauten Umgebung aber nichts hören würde. Letztlich handelte sie einen Kompromiss aus: eine tägliche E-Mail mit allen Menüoptionen. Was anfangs wie eine gute Lösung klang, scheiterte kläglich. Die meiste Zeit blieb die E-Mail aus. “Anfangs habe ich das einfach hingenommen. Ich dachte, dass das halt das Leben von Menschen mit Behinderungen ist. Aber irgendwann war es so frustrierend jeden Tag mit der selben Situation konfrontiert zu sein”, sagt Haben. Einer der großen Wendepunkte in ihrem Leben folgte wenig später. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen diese Barriere auszuräumen, erhielt Haben eine E-Mail vom Leiter der Cafeteria, welcher ihr zu verstehen gab, dass die täglichen E-Mails keineswegs eine Verpflichtung seien; vielmehr würde man Haben damit einen Gefallen tun. Die Mitarbeiter wären nicht dafür ausgerüstet, sich um Studenten mit special needs zu kümmern und Haben könne nicht erwarten, dass die E-Mails tatsächlich immer pünktlich eintreffen würden. “Jetzt begann ich zu recherchieren und stieß auf den Americans with Disabilities Act (ADA). Schnell realisierte ich, dass das, was die Cafeteria für mich machte, wirklich nichts Besonderes war. Im Gegenteil. Es war deren rechtliche Verpflichtung. Ich habe also mein Problem von einer anderen Perspektive dargestellt: als eine Menschenrechtsverletzung. Und das veränderte alles für mich. Auf einmal hatte ich Zugang zu Speisekarten. Doch im selben Moment habe ich mich gefragt, wie viele Menschen mit Behinderung wohl nicht auf solche Probleme aufmerksam machen, weil sie gar nicht wissen, dass sie Rechte haben. Daraufhin begann ich mich über juristische Fakultäten zu informieren”, erzählt Haben.
“Das war ganz schön mutig”, tippe ich. Haben zieht die Augenbrauen nach oben und fragt: “Was war daran denn mutig?” Ich schreibe: “Ich kämpfe oft nicht für meine Rechte, aus Angst vor der Reaktion. In der Vergangenheit habe ich ziemlich schlechte Erfahrungen gemacht, die zu den verschiedensten Ängsten geführt haben.” – “Ja, klar ist da ein Risiko, dass du, wenn du für dich selbst einstehst, Rückschläge einstecken musst. Und dieses Risiko hält viele Menschen davon ab, für ihre Rechte zu kämpfen. Ich glaube, was hilft ist, wenn man realisiert, dass man in dem Moment, in dem man für sich selbst einsteht, am Ende nicht nur sich selbst hilft, sondern allen Menschen. Wenn du nichts tust, wird diese Barriere auch weiterhin existieren”, sagt Haben.
Viele Firmen haben auch 14 Jahre nach dem Vorfall in der Cafeteria einen langen Weg in Bezug auf die Barrierefreiheit ihrer Services zu gehen. “Ich wurde von Fluggesellschaften gebeten das Flugzeug zu verlassen, weil sie mir nicht glaubten, dass mein Hund ein ausgebildeter Assistenzhund ist”, erinnert sich Haben. In den USA sind solche Vorfälle keine Einzelfälle. Eines der häufigsten Probleme für Amerikaner mit Behinderungen, ist das Unwissen von Fahrern der lokalen Ridesharing-Dienste, wie z.B. Uber oder Lyft, die regelmäßig Fahrgästen mit Assistenzhunden den Zugang zu ihrem Auto verwehren. “Manchmal sprechen die Fahrer mit uns darüber, aber viel öfter fahren sie einfach weg”, sagt Haben. Und sie ist keine Ausnahme. Diese permanente Barriere betrifft alle Menschen, die Hilfsmittel nutzen, wie z.B. einen Rollstuhl oder die eben wie Haben in Begleitung ihres Assistenzhunds sind. Eine ähnlich schmerzhafte Situation erlebte Haben mit einem Airbnb-Vermieter, der ihre Reservierung stornierte, als Haben ihm eröffnete, dass sie mit einem Blindenführhund reist. “Obwohl ich den Vermieter bei Airbnb meldete und er nicht nur gegen Gesetze, sondern auch gegen die Firmen-Richtlinien verstoßen hat, hat Airbnb erstmal nichts gemacht”, sagt Haben. Erst nachdem sie die Medien einschaltete, reagierte Airbnb und entfernte den Anbieter für 30 Tage von deren Seite.
Heute bildet Haben Unternehmen zu Inklusion und Barrierefreiheit fort. “Wenn Barrierefreiheit eingeplant wird, dann macht das den ganzen Service besser”, erklärt Haben. “Fügt man ein Transkript und Untertitel zu Videos hinzu, hilft das mit SEO, da mehr Text mit dem Video assoziiert ist. Dadurch finden mehr Menschen den Inhalt durch Schlagwortsuche. Solche Dinge helfen nicht nur Menschen mit Behinderungen den Inhalt zu finden, sondern auch Nicht-Behinderten, was dir, als Medienmacher wiederum hilft dein Publikum zu erweitern. Und das ist nur eines von vielen Beispielen.” Haben gibt Vorlesungen an Universitäten, in Büchereien und spricht auf Events, als auch vor Firmen, wie z.B. Apple. “Mein Hauptfokus liegt auf der Verbesserung der digitalen Barrierefreiheit. Ich würde aber auch gerne Zugang über diese Grenzen hinaus sehen: barrierefreie Services, Ausbildung und Anstellung”, sagt Haben.
Gerade das Thema Arbeitsstelle ist besonders kompliziert für Menschen mit Behinderungen, die, obwohl sie so viele wertvolle Fertigkeiten mitbringen, mit einer hohen Arbeitslosenquote konfrontiert sind. “Wenn du als behinderter Mensch in einer Welt lebst, die voll von Barrieren ist, dann bist du gezwungen Lösungen zu finden, die dir helfen Zugang zu den Dingen in deiner Umwelt zu haben. Und diese Fähigkeit, Probleme zu lösen, ist ein absoluter Gewinn für Arbeitgeber”, veranschaulicht Haben. Haben erlebt es oft, dass ihr Umfeld ihre Kompetenz anzweifelt oder generell nicht erwartet, dass jemand der blind ist erfolgreich sein kann. All diesen Menschen beweist sie fortwährend das Gegenteil.
Mit ihren 31 Jahren kann Haben auf viele Erfolge zurückblicken. Sie erhielt den Helen Keller Achievement Award und wurde von bedeutenden Persönlichkeiten ausgezeichnet. Darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel, der kanadische Premierminister Justin Trudeau und ebenso der ehemalige US-Präsident Barack Obama, der, wie mich Haben wissen lässt, keinen einzigen Schreibfehler gemacht hat, als er sich mit ihr unterhielt. Drei Mal wurde Haben bereits in das Weiße Haus eingeladen: 2010, um mit Ex-Präsident Obama das 20-jährige Bestehen der ADA zu feiern; 2013 wurde sie von Obama als White House Champion of Change benannt; und 2015, zur Feier des 25-jährigen Jubiläum der ADA, bei der Haben Präsident und Vize-Präsident vorstellen durfte.
Als ich Haben frage, wo sie sich in zehn Jahren sieht, erwidert sie: “Keine Ahnung, aber mein Ziel ist es weiterhin die Barrierefreiheit für alle Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Das kann in vielen verschiedenen Formen geschehen und ich bin offen für Neues.” Die Menschenmenge im San Francisco Ferry Building hat eine genaue Vorstellung davon, wie Haben’s Aktivismus aussehen könnte. Scherzhaft, aber mit einem ernsten Unterton, schlägt eine Person im Publikum vor, dass Haben sich als Präsident aufstellen lassen sollte. Eine Aussage, die vom ganzen Publikum mit lautem Applaus unterstützt wird. Wer weiß, ob #HabenforPresident eines Tages mehr als nur ein Twitter Hashtag werden wird?
Haben surft, legte sich als Kind mit einem Stier an, kletterte als junge Erwachsene auf einen Eisberg und baute eine Schule in Mali. Ich möchte wissen, ob es irgendetwas gibt, das sie nicht kann oder nicht tun würde. Sie antwortet: “Früher wurde gesagt, Blinde könnten nie den Mount Everest erklimmen, aber ein Blinder hat den Mount Everest bestiegen. Früher wurde gesagt, Blinde könnten kein Auto fahren, aber bald wird es selbstfahrende Autos geben. Technisch gesehen gibt es also nichts, was wir nicht können.”
Haben hat weder ihre Behinderung überwunden, noch erfährt sie die Barrierefreiheit, die ihr und jeder anderen Person mit einer Behinderung zustehen. Gerade deswegen entwickelte sie innovative Lösungen, um einige dieser Barrieren zu umgehen. Mit ihrer Stimme trägt sie dazu bei, eine Welt zu schaffen, in der Inklusion nicht als etwas Besonderes angesehen wird, oder wie sie sagt “ein Gefallen, den man uns tut“, sondern als etwas, wovon wir alle profitieren: Menschen mit und ohne Behinderungen.
Mehr zu Haben findet ihr auf ihrer offiziellen Website.
Dieser Text erschien zuerst im Ability Magazine und wurde aus dem Englischen übersetzt.
Eine Antwort
Das waren wirklich starke Zeilen. Ich kann es nicht beschreiben. Mir gibt der Text Energie. Ich teile ihn gerne.