Vom Ende der Dankbarkeit – über gesellschaftlichen Ableismus

Foto von Tanja. Sie hat rot-pink gefärbte Haare, trägt eine Brille und ein Kopftuch. Neben ihr ist ein gelbes Buchcover zu sehen mit dem Titel "Ableismus" und einem Lautsprecher-Symbol.
Tanja Kollodzieyski hat ein Buch zum Thema Ableismus geschrieben. Foto: privat/Die Neue Norm
Lesezeit ca. 12 Minuten

Menschen wegen ihrer Behinderung diskriminieren, eine gleichberechtigte Teilhabe nicht zulassen oder auch die Aussage, dass doch “jeder Mensch irgendwie eine Behinderung habe” ist ableistisch. David Calovini vom Caput-Magazin hat mit der  Literaturwissenschaftlerin und Aktivistin Tanja Kollodzieyski gesprochen, die über Ableismus ein Buch geschrieben hat.

„Dadurch, dass ich nicht nur im Rollstuhl sitze, sondern auch sprachlich beeinträchtigt bin, werde ich häufig als ,geistig behindert‘ eingestuft. Man kann sagen: Ich werde selten ernst genommen“, erzählt die 33-jährige Bochumer Schriftstellerin und Aktivistin Tanja Kollodzieyski von einer häufig auftretenden Situation, welche ihr in ihrem Alltag und Leben mit einer Behinderung häufig begegnet. Dabei könnte – wenn man sich ihren Werdegang mit einem Masterstudium in allgemeiner Literaturwissenschaft und Germanistik betrachtet – nichts fernerliegen. Doch derartige Alltagssituationen sind für Menschen, die mit verschiedensten Arten von Behinderung leben, keine Seltenheit. Fernab von ihren tatsächlichen Fähigkeiten oder ihrem Bildungsstand. Unter anderem diesem Phänomen, welches einen Aspekt des Ableismus darstellt, gilt es, laut Tanja Kollodzieyski, auch im deutschen Sprachraum mehr Beachtung zu schenken und so Platz für eine breiter angelegte Debatte zu schaffen. Indes erstreckt sich Ableismus auf zahlreiche Bereiche unseres Alltags.   

Able-was?

Der Begriff Ableismus stammt ursprünglich aus der Selbstvertretungsbewegung von Menschen mit Behinderungen in den USA, dem sogenannten Disability Rights Movement. Dieses wurde in den 70er Jahren sowohl von der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung als auch der seinerzeit aufkommenden zweiten Welle der Frauenbewegung inspiriert. 

Der Ausdruck selbst entlehnt sich aus dem englischen to be able, das übersetzt fähig sein bedeutet.

„Früher dachte ich immer, dass es irgendwann einmal aufhört, umso weiter ich in meinem Leben komme – aber leider hat es nie aufgehört.“

Ableismus bezeichnet also die Kategorisierung von Menschen anhand von äußerlichen Merkmalen, die vom vermeintlichen Normalzustand des Großteils unserer Gesellschaft abweichen. Durch den scheinbar körperlichen Makel werden dann, wie beschrieben, Rückschlüsse auf weitere Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen gezogen. Sie werden daher nicht als ein vollwertiger Teil unserer Gesellschaft gesehen.   

Doch warum verfällt ein Großteil der Menschen – teilweise generationsübergreifend – in solche Muster? Warum geht auch noch im Jahr 2021 die gedankliche Vorurteils-Schublade von nichtbehinderten Menschen – bei einer Begegnung mit dem Thema Behinderung –  derart zügig auf und lässt sich, wenn überhaupt, nur durch eine längere Auseinandersetzung mit dem Gegenüber neu befüllen? Warum werden verschiedenste, wie auch immer geartete Fähigkeiten, Menschen mit Behinderungen einfach nicht zugestanden? Die Beantwortung dieser Fragen muss zum Gegenstand jener breiteren Diskussion werden, welche auch Tanja Kollodzieyski für zwingend notwendig erachtet. 

Klischees und alte Denkmuster

Die Bochumerin hat in ihrem Alltag die Erfahrung gemacht, dass, selbst wenn sie von ihrem bisherigen Werdegang berichtet, die angeführten Vorurteile weiterhin bestehen bleiben. „Wenn ich erzähle, dass ich studiert habe, werden in der ersten Reaktion meistens die Augenbrauen hochgezogen. Manchmal wird das Gespräch auch einfach fortgeführt, ohne dass mir geglaubt wird.“ Scheinbar müssen Menschen über die volle Funktionalität ihrer Extremitäten verfügen, um als ernstzunehmende Gesprächspartner betrachtet zu werden. 

Es geht vorrangig jedoch nicht um das Absprechen von akademischen Abschlüssen. Ableismus beginnt viel alltäglicher. Damit, dass Menschen mit Behinderungen etwa kategorisch geduzt werden, mit übergriffigen Bewegungen an der Schulter von Menschen, die einen Rollstuhl nutzen oder mit der ausschließlichen Kommunikation über die Assistenzperson, wenn Menschen mit Behinderungen mit dieser in der Öffentlichkeit unterwegs sind.

Im September letzten Jahres veröffentlichte Tanja Kollodzieyski mit   Ableismus in der Reihe Aufklärung und Kritik im Berliner Sukultur Verlag eine Handreichung zur Thematik. Die Autorin versucht sich hier zunächst an einer eigenen Definition. 

„Ableismus wird im Wesentlichen von zwei Seiten bestimmt. So beschreibt er auf der einen Seite eine gewisse Wahrnehmungs- und Erwartungshaltung von nicht-behinderten Menschen gegenüber Menschen mit Behinderungen.

Ein gelbes Buchcover mit schwarzer Schrift. Darauf steht: Abelismus. Von Tanja Kollodzieyski. Abgebildet ist ein Lautsprecher-Symbol.
Foto: Sukultur Verlag

 Es geht darum, wie nichtbehinderte Menschen das Leben von Menschen mit Behinderungen bewerten; welche Bilder und Stereotype sie im Kopf haben, wenn sie an behinderte Menschen denken. Ableismus entsteht also dann, wenn nichtbehinderte Menschen es als gesetzt erachten, dass ihre Vorstellungen die Realität abbilden. Auf der anderen Seite hängt Ableismus stark davon ab, wie eng oder breit unser Verständnis von Normalität ist. In Deutschland etwa haben wir eine Norm, die Menschen mit Behinderungen nicht berücksichtigt. Egal ob in den Nachrichten, der Politik oder auf Veranstaltungen. Menschen mit Behinderungen werden selten gezeigt und gleichzeitig so gut wie nie angesprochen, egal ob als Leser*innen, Kund*innen oder Wähler*innen.“ 

Zudem führt die Bochumer Autorin eine weitere Facette von Ableismus aus. Nämlich jene, dass behinderte Menschen mit Karriere- oder Kinderwunsch hierzulande immer noch als Exot*innen gelten. „Sehnsüchte, Pläne und Meinungen werden ihnen abgesprochen. Als ,abhängige Wesen‘ sollen sie der Mehrheitsgesellschaft Dankbarkeit zeigen, überhaupt leben zu dürfen. Hauptsache ist, sie machen sich nicht bemerkbar. Sauber, satt und still.“ 

Ein “-ismus” der wenig Beachtung findet

Anders als etwa Rassismus oder Sexismus nimmt Ableismus hierzulande kaum einen Raum im öffentlichen Diskurs ein. Diesem Umstand möchte das Buch von Tanja Kollodzieyski entgegenwirken. „Es ist wichtig, dass Ableismus auch hierzulande mehr diskutiert wird und in unserer Sprache auftaucht. Denn wenn wir für etwas keine Worte haben, dann können wir auch nicht darüber sprechen. Erst wenn wir wissen, wie wir etwas benennen, kann man mit einer Diskussion starten.“ Ableismus bewegt sich, laut Tanja Kollodzieyski, „zwischen den Lücken unbewusster Vorurteile und falscher Vorstellungen, die für allgemeingültig befunden werden und einer bestimmten Art der Normierung, die lediglich nichtbehinderte Menschen berücksichtigt.“ 

Das Erkennen und Benennen von ableistischen Verhaltensweisen in unserer Gesellschaft fällt mitunter auch der Personengruppe der Menschen mit Behinderungen nicht leicht, wie Tanja Kollodzieyski weiter ausführt. „Für behinderte Menschen in dieser Gesellschaft ist Ableismus so allgegenwärtig und umfassend, dass viele von ihnen Schwierigkeiten haben, derartige Strukturen überhaupt zu erkennen. Meine Arbeitshypothese lautet, dass dies im besonderen Maße auf Menschen zutrifft, die – wie ich – von Geburt an mit einer Behinderung leben.“ Betrachtet man alle in Deutschland lebenden Menschen mit einer Behinderung, so erwerben 95 % davon eine, wie auch immer geartete Einschränkung, erst im Laufe ihres Lebens. Der Anteil derer, die mit ihrer Behinderung bereits geboren werden, beträgt also gerade einmal 5 %.   

Ausgrenzung: fehlende Inklusion

„Die Erfahrung, von Anfang an durch Barrieren, enge Normierungen und Vorurteile ausgeschlossen zu werden, lässt Ableismus als etwas Natürliches wirken, als etwas, das so sein muss, als etwas, das Berechtigung hat. Wenn behinderten Kindern etwa erklärt wird, ihre Behinderung führe dazu, dass niemand mit ihnen spielen wolle oder sie nicht zu Feiern eingeladen werden oder sogar eine gesonderte Schule besuchen sollen. Selten, ja nur im Glücksfall wird ihnen erklärt, dass dieses Verhalten der anderen Menschen falsch ist. Es ist daher mehr als wahrscheinlich, dass behinderte Kinder als Erstes über sich selbst lernen: Etwas an mir ist falsch. Ich bin das Problem. Selbst wenn ich nur atme, bin ich anstrengend oder eine Belastung für andere. Hat sich dieser Gedanke einmal im Innern manifestiert, wird man ihn nur selten wieder los.“ 

Daraus folgt ein weiteres Verhaltensmuster, welches die Bochumerin häufig beobachtete. „Es entsteht ein Drang nach jedem bisschen positiver Anerkennung. Das kann in doppeltem Sinne gefährlich werden. Unter Umständen hat man Probleme damit, sich von anderen Menschen loszusagen oder eine Grenze festzulegen. Somit steigt das Risiko, missbraucht zu werden. Dabei ist natürlich die ganze Bandbreite von Ausnutzungen, bis hin zum körperlichen Missbrauch mit Gewalterfahrung, möglich.“ 

Das Gefühl, immer besser sein zu müssen

Oder der Mensch mit Behinderung mag danach streben, seine körperliche Behinderung durch Leistungen auf anderen Gebieten wettmachen zu wollen und neigt daher zu ungesundem Perfektionismus. Hier spricht Tanja Kollodzieyski aus Erfahrung. „Man meint, als behinderter Mensch immer besser sein zu müssen als Menschen ohne Behinderungen, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Was natürlich nicht gesund sein kann, wie ich es auch im Buch erwähne. Bei mir ist das tatsächlich noch etwas eher ausgeprägter, da ich immer gegen das Vorurteil der ,geistigen Behinderung‘ ankämpfen muss. Ich denke immer, ich müsste mich dann nochmals extra beweisen.“ Aus diesem Mind-Set heraus Missstände aufzuzeigen, kann mitunter einiges an Kraft kosten. 

„Es braucht Überwindung, Ableismus offen anzusprechen und zu kritisieren. Dieser Entwicklungsprozess kann natürlich sehr lange dauern. Das kommt auf das jeweilige Umfeld an. Ob man dort Unterstützung erfährt oder eben auch da bereits diskriminiert wird. Aber ich finde dieses Unangenehmsein auch ganz wichtig. Denn nur so kann man –  ob mit oder ohne Behinderung – ein glückliches Leben führen.“

Doch welche Strukturen sind es, die Ableismus in unserer Gesellschaft zutage treten lassen? Wo fällt also der Mensch mit Behinderung aus der zumeist für alle Menschen Anwendung findenden Norm heraus?  Tanja Kollodzieyski nennt innerhalb ihres Werkes prägnante Beispiele. Hier wird schnell deutlich, dass einem Ableismus in den verschiedensten Gewändern begegnen kann.    

So verweist die Autorin auf die Tatsache, dass Unternehmen mit 20 oder mehr Angestellten eigentlich dazu verpflichtet sind, 5 % ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderungen zu vergeben. Die meisten Unternehmen entscheiden sich jedoch dafür, diese Pflicht durch das Zahlen der sogenannten Ausgleichsabgabe zu umgehen. So wird Menschen mit Behinderungen in vielen Fällen der Zugang zum ersten Arbeitsmarkt erschwert oder gänzlich verwehrt. 

Mehr als 70% behinderter Frauen von Gewalt betroffen

Sicherlich durch ihre berufliche Tätigkeit beim Netzwerk behinderter Frauen NRW besonders sensibilisiert, zieht Tanja Kollodzieyski dann einen Vergleich zu Frauen, die keine Behinderungen aufweisen. „Es sind doppelt so viele Frauen mit Behinderungen von Gewalt betroffen, im Vergleich zu Frauen ohne Behinderungen. Man geht davon aus, dass ca. 70 bis 90 % der behinderten Frauen betroffen sind. Gleichwohl gibt es einen eklatanten Mangel an barrierefreien Beratungsstellen und Schutzräumen.“ So konstatiert die Bochumerin in ihrem Werk: „Auch, als Teil von feministischen Bewegungen wie #aufschrei oder #metoo, bekommen behinderte Frauen bisher kaum Aufmerksamkeit.“ Selbst innerhalb gesellschaftlicher Strömungen, die danach streben, das herrschende Bild zum Besseren zu verändern, werden Menschen mit Behinderungen nur selten mitbedacht. 

Zudem verweist die Autorin auf das nur schleppende Vorankommen der schulischen Inklusion. Diese hält Tanja Kollodzieyski für einen gewichtigen Baustein hin zu einer Gesellschaft auf Augenhöhe. „Das wäre enorm wichtig. In der Schule würde dann ein einfacher Umgang mit den verschiedensten Behinderungen sowie ein inklusives Miteinander gelehrt.“

„Wir werden irgendwann den Zustand umfassender Inklusion erreicht haben. Da bin ich mir relativ sicher. Auch wenn es bis dahin noch ein ganz langer Weg ist!“

Dass hingegen in einigen Bundesländern – exemplarisch in Baden-Württemberg (+1 %), Bayern (+4 %) oder Rheinland-Pfalz (+8 %) – die Anzahl der Schüler, welche eine Förderschule besuchen, in der jüngsten Vergangenheit wieder gestiegen ist, verdeutlicht die Beschwerlichkeit des eingeschlagenen Weges hin zu einer inklusiven Gesellschaft. 

Tanja Kollodzieyski nennt diese drei Beispiele, um anhand dessen nochmals zu betonen: „Diese und viele weitere Schikanen und Belastungen tun sich auf, obwohl Deutschland bereits im Jahr 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat. Vielfach wird hier also jeden Tag gegen geltendes Recht verstoßen.“ 

Ein Bild einer Frau im Rollstuhl. Sie lächelt in die Kamera.
Foto: Andi Weiland
Dass eine wie auch immer geartete Behinderung in unserer Gesellschaft vielfach als etwas Negatives gesehen wird und so ableistische Denkmuster bedient und vervielfältigt werden, zeigt sich auch an unserer Sprache, wie die Autorin im Folgenden ausführt. „Es bedarf keiner bahnbrechenden Analyse, um zu dem Schluss zu kommen, dass der Großteil der nichtbehinderten Menschen mit dem Wort ,behindert‘ etwas tendenziell Schlechtes assoziiert.

Dazu passt, dass verschiedene Gruppen von nichtbehinderten Menschen hier und da versuchen, das Wort Behinderung durch vermeintlich positive Begriffe zu ersetzen. Das mag in den meisten Fällen gut gemeint sein, ist aber zutiefst ableistisch. In der Regel werden Menschen mit Behinderungen nämlich nicht danach gefragt, wie sie Bezeichnungen wie etwa Menschen mit besonderen Bedürfnissen oder Andersbegabt selbst finden. Ganz abgesehen davon, dass solche Bezeichnungen das Aus-der-Norm-Fallen noch zusätzlich akzentuieren.“ 

Im Selbstverständnis vieler Menschen mit Behinderungen und innerhalb deren Selbstvertretungsgruppen, wie etwa der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben (ISL), hat sich der Blickwinkel darauf, was man als eine tatsächliche Behinderung betrachtet, innerhalb der letzten 30 Jahre sukzessive gewandelt. Tanja Kollodzieyski erläutert hierzu: „Das neue, soziale Modell beschreibt Behinderung als etwas, das von außen kommt. Der Mensch wird demnach meist durch Barrieren von außen behindert. Diese können sich zum Beispiel durch fehlende Barrierefreiheit äußern oder aber auch in einem Mangel an Repräsentation. Der Begriff Behinderung hat durchaus sozialkritische Elemente. Daher halten ihn viele behinderte Menschen für neutral und akzeptabel. Menschen ohne Behinderung tun daher gut daran, sich an diesen Begriff zu gewöhnen.“ 

Wenig Repräsnetanz von behinderten Menschen

Diese Gewöhnung würde, laut Tanja Kollodzieyski im wesentlich leichter fallen, wenn Menschen mit Behinderungen nicht nur auf der Straße, sondern auch in den verschiedensten Medienpublikationen sichtbar gemacht würden. Eine breitere Sichtbarkeit dieses Personenkreises fehlt in unserer Gesellschaft weiterhin. Dies hätte zudem einen bestärkenden Effekt für verschiedenste Menschen mit Behinderungen. „Auch die haben ja verschiedenste Geschichten erlebt. Am authentischsten wäre es, wenn sie diese dann aber auch selbst erzählen würden. Es wäre gut, wenn wir mehr Menschen mit Behinderungen als Regisseur*innen, Autor*nnen oder Schauspieler*innen sehen würden. Denn: Menschen mit Behinderungen brauchen Role Models, um ihre Möglichkeiten, Fähigkeiten oder Chancen laut zu werden, überhaupt erst zu erkennen.“ Sichtbare Diversität kann so auch einen bestärkenden Effekt auf einzelne Betrachter*innen ausüben. 

Das Bestärken von Menschen mit Behinderungen war der Autorin eines der Hauptanliegen beim Verfassen ihrer Gedanken zum Thema Ableismus. „Es geht mir darum aufzuzeigen, dass es okay ist, sich auf den Weg zu machen. Auch, wenn das wahnsinnig viel Kraft und Energie kostet. Es geht ganz klar um Empowerment von anderen Menschen mit Behinderungen. Auch, wenn der Buchtext natürlich zugleich das Ziel der Aufklärung verfolgt.“ Die Autorin merkte während des Schreibens und auch während ihres sonstigen langjährigen Engagements für die Belange der Inklusion und gegen ableistische Verhaltensweisen, wie ihr inneres Wesen in Konflikte geriet und sie ihre früheren Verhaltensmuster hinterfragte. „Ich befinde mich gerade selbst mitten in dieser Empowerment-Phase. Ich möchte nicht mehr immer nur die Aufklärerin sein und erklären, was Inklusion ist und warum unsere Gesellschaft diese benötigt. Da hat im Vergleich zu früher ein Wandel stattgefunden. Nun ist es eher so, dass ich mich an Menschen mit Behinderungen wende und ihnen sage: Wir müssen mehr zusammenhalten und uns gegenseitig mehr unterstützen. Versucht mehr Projekte in Eigenregie und innerhalb eurer Gruppe von Menschen mit Behinderungen umzusetzen. Kurz gesagt: Behinderung muss politisch werden!“

Ableismus: “Wir sind doch alle ein bisschen behindert”

Gegen Ende ihres Werkes, welches dank der Konzeption der Reihe Aufklärung und Kritik nicht zu einer ausschweifenden Lektüre wird, sondern es im Gegenteil auf 17 Seiten schafft, die beschriebenen ableistischen Mechanismen prägnant zusammenzufassen, thematisiert Tanja Kollodzieyski auch die umgekehrte Form von Ableismus. Die Bochumerin erläutert, was sich dahinter verbirgt. „Bislang habe ich darüber gesprochen, dass Menschen mit Behinderungen durch Ableismus ausgegrenzt werden. Es gibt aber auch den Ableismus, der versucht, die Grenzen unsichtbar zu machen und somit Menschen mit Behinderungen einmal mehr verstummen zu lassen. Ich meine zum Beispiel den Satz: Wir sind doch alle ein bisschen behindert! Meist wird dieser von wohlmeinenden Menschen geäußert, die sich besonders tolerant geben und ihr umfangreiches Inklusionsverständnis unter Beweis stellen wollen. Problem dabei ist nur: Der Satz stimmt einfach nicht. Was die Sprecher*innen damit eigentlich sagen wollen, ist, dass alle Menschen Schwächen haben. Und das trifft auch zu. Aber eine Schwäche ist keine Behinderung. Eine Schwäche ist etwas, das wir nicht gut beherrschen, in einem einzelnen Bereich. Eine Behinderung dagegen ist etwas, das mehrere Bereiche und vielleicht ein ganzes Leben betrifft und mit Ausgrenzung einhergeht.“ 

Hier schließt sich der Kreis zur anfangs beschriebenen Tatsache, dass Tanja Kollodzieyski von ihren Mitmenschen nur selten ernst genommen wird. „Ich kann nicht gut singen. Das ist meine Schwäche. Deswegen werde ich wahrscheinlich keine Sängerin oder einen Karaoke-Wettbewerb gewinnen. Allerdings werde ich dadurch, dass ich nicht singen kann, nicht beim Wählen, beim Arzt- oder Theaterbesuch behindert. Menschen halten mich nicht für ,geistig behindert‘, weil ich nicht singen kann. Sie tun dies, weil ich im Rollstuhl sitze und mich anders bewege und anhöre, als sie es gewohnt sind. Wenn wir anfangen, Schwächen und Behinderungen auf eine Stufe zu stellen, werden die Barrieren und der Ableismus, von dem behinderte Menschen tagtäglich betroffen sind, unsichtbar –  ohne zu verschwinden.“ 

Diskussion ist in den USA schon weiter

Tanja Kollodzieyski äußert indes durchaus Verständnis für derartig tolerant gemeinte Sätze. Doch ist sie mittlerweile zur Ansicht gelangt, dass diese, neben ihrer dargelegten Unwahrheit, wenig zielführend sind. „Ich verstehe den Drang, Ungerechtigkeiten wegwischen zu wollen. Das bringt uns bloß nicht weiter!“ 

Was im ersten Moment etwas verbittert klingen mag, ist dies keineswegs. Der kämpferische Ton ist zuweilen bewusst gewählt. „Wenn ich glauben würde, dass sich an dem Ist-Zustand nichts mehr verändert, hätte ich das Buch nicht geschrieben. Auch wenn sich diese Strukturen nur langsam oder auch gar nicht verändern, denke ich, dass man in seinem eigenen Umfeld eine inklusive Lebensweise sicherlich führen kann, auch wenn es für die gesamte Gesellschaft an vielen Punkten noch nicht funktioniert. Im näheren Umfeld kann es klappen. Dies ändert allerdings nichts daran, dass die Politik in zahlreichen Bereichen noch nachbessern muss. Es ist an der Zeit, dass die UN-BRK endlich umgesetzt wird.“ Dass das Eintauchen in neue Lebenswelten, ebenso wie das Fordern des eigenen Raumes, nicht einfach ist, resümiert Tanja Kollodzieyski während ihres Fazits: „Menschen mit Behinderungen sind nicht fehlerhaft, sondern die Welt geht missbräuchlich mit ihnen – uns – um. Das ist der Unterschied. Menschen mit Behinderungen brauchen mehr Räume zum Lautsein und Sichtbarwerden. Menschen ohne Behinderung sollten die Chancen nutzen, uns zuzuhören, zu lernen und zu reflektieren. Das ist und wird schmerzhaft und laut. Aber die Ohrenschützer müssen runter. Nur so kann eine vielfältigere Welt entstehen, in der alle Menschen sich selbst näherkommen können, ohne das Normierungen und Diskriminierungen uns die Luft zum Atmen nehmen.“ 

Tanja Kollodzieyski ist es durch ihre verschriftlichten Gedankensammlung über Ableismus vortrefflich gelungen, eine notwendige Diskussion, die in den USA bereits seit 50 Jahren angeregt geführt wird, auch hierzulande in die Gegenwart zu holen. Diese Impulse sind wichtig, damit eine konstruktive Debatte darüber angestoßen werden kann, in was für einer Gesellschaft wir leben möchten. Schön wäre es zu Beginn dieses Prozesses, Äußerlichkeiten nicht mehr als maßstabgebend zu betrachten. Ein längst überfälliger Schritt.

Dieser Artikel ist zuerst im caput Magazin (Ausgabe Nr. 39 ) erschienen.

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5 Antworten

  1. Das war ein guter Artikel und ich werde mir das Buch über Ableismus – Heft kaufen.
    Meine Erfahrungen mit einem Sprachfehler seit Geburt ist auch, dass oft in einem Umfeld -also Restaurant oder so- indem mich Menschen nicht kennen und ich etwas bestelle, sie dann oft – wenn mein Mann dabei ist- ihn fragend anschauen. Oder sagen: ” Entschuldigung ich höre heute schlecht” !

    Lieben Gruß
    Gabi Völkel

  2. Auch wenn ich nicht “behindert” bin, wie es landläufig definiert wird, spricht dieser Artikel viele Erfahrungen an, die ich kenne. Ich habe keine geistige oder körperliche Einschränkung, aber ich bin ein Mensch mit traumatischer Gewalterfahrung. Als solchem begegnen mir ständig Erwartungen, die mir das Gefühl geben, unzulänglich zu sein. Das sind simple, nett gemeinte Sätze wie: “Wie schön, dass deine Mutter jetzt in der Nähe wohnt.” oder: ” Dein Vater ist gestorben, das tut mir leid.” Es setzt voraus, dass man diesen Personen gegenüber gegenüber liebevolle Gefühle hat und sie vermisst, wenn sie nicht da sind. Dass ich das anders sehe ist “verkehrt” und stört. Wenn ich getriggert werde und es mir schlecht geht, bekomme ich auch gern gute Ratschläge wie: “Für doch ein Dankbarkeitstagebuch” oder: “Schonmal mit Yoga probiert?”. Mein Favorit ist aber: “Man muss auch loslassen können”. Als ob ich irgend etwas dafür könnte, was mir als Kind mitgegeben wurde. Als ob ich mich nur ein wenig mehr anstrengen oder entspannen müsste, um diese Erfahrungen aus meinem Leben zu verbannen.

    Jahrelang hatte auch ich es internalisiert, dass mit mir etwas nicht stimmt, wenn ich die Folgen der Verletzungen nicht “geheilt” bekomme. Inzwischen habe ich akzeptiert, dass sie ebenso ein Teil von mir sind, wie all die anderen kleinen Narben, die man sich im Leben halt so holt. Ich sehe die Gewalterfahrung wie einen schweren Autounfall: So Dinge passieren manchen Menschen, ganz ohne ihr zutun. Ich stelle mir vor, was ich für Reaktionen bekäme, wenn ich sichtbare Schäden hätte. Manchmal bin ich nicht sicher, was schlimmer ist: Wenn man die “Behinderung” sieht, oder wenn man ständig unter Druck steht, “normal” zu sein, weil äußerlich alles ist, wie es “soll”. Klar, ich kann physisch in jeden Laden rein, komme an alle Bankautomaten ran und muss nicht extra vorbestellen, wenn ich Bahn fahren möchte. Ich bleibe nirgends stecken, weil der Aufzug mal wieder nicht geht, und erlebe es nicht, dass Menschen in meinem Beisein über mich reden als könnte ich nicht für mich selber sprechen. Was ich aber erlebe ist, dass Menschen sich reihenweise abwenden, sobald sie von meiner Geschichte erfahren. Dass sie mir mit Mitleid statt mit Mitgefühl begegnen. Dass sie meinen, mir erklären zu dürfen, wie ich die Welt sehen sollte (nämlich positiver). Dass ich mir akzeptable Erklärungen zurechtlegen muss (Migräne geht immer…), wenn ich gerade mal wieder nicht mehr kann. Dass Menschen mich nicht mit meinen Höhen und Tiefen so akzeptieren, wie ich bin, sondern mir “helfen” wollen, schnell “gesund” zu werden. Und auch, dass sie ihre schlechten Tage gleichsetzen mit den Löchern, in die ich falle, und den daraus resultierenden Problemen, die mir oft im Weg sind.

    Für mich wäre “Barrierefrei” etwas ganz anderes als für Menschen mit körperlicher Behinderung. Zum Beispiel, dass Tickets nicht verfallen, wenn ich wegen Grübelschleifen nicht aus dem Haus komme. Dass ich in Gleitzeit arbeiten kann an den Tagen, an denen es mir gut geht. Dass ich für eine Krankschreibung kein Bauchweh simulieren muss, um mir beschämende Kommentare zu ersparen. Und dass ich nicht an guten Tagen für unzurechnungsfähig gehalten werde, wenn ich mich an schlechten Tagen nicht im Griff hatte. Diese Dinge behindern mich im Leben viel mehr als die Zeit, in der ich halt warten muss, bis der Anfall vorbei geht. Sie behindern meine Beziehungen, meine Karriere und am Ende meine Möglichkeiten, mir eine gute Altervorsorge zu erarbeiten.

    Ich stimme der Autorin zu: Menschen brauchen Role Models. Leider habe ich nicht so viel Mut, eines zu werden. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass eines Tages auch Menschen mit Gewalterfahrung Bahnchef oder Bundeskanzlerin werden könnten.

    1. @ Miks: Vielen Dank für diesen offenen Beitrag!
      Ich finde es sehr wichtig, dass unsere Gesellschaft auch für Menschen mit sozial-emotionalen Behinderungen sensibilisiert wird. Und hier kann man ein solches Trauma durchaus verorten.
      Obwohl es in unserer Gesellschaft vielfach große Hürden für Menschen mit körperlichen und/oder geistigen Behinderungen gibt, existiert hier zumindest ein Bewusstsein und eine recht breite Lobby.
      Menschen mit sozial-emotionalen Behinderungen sieht man diese nicht an und häufig wird ihnen oder ihren Eltern die “Schuld” an ihrem “Fehlverhalten” zugeschrieben.
      Besonders im Bezug auf unser Schulsystem ist dieser Unterschied gravierend. Während von Inklusion längst nicht die Rede sein kann, (dafür kann es in einem mehrgliedrigen Schulsystem gar nicht die richtigen Voraussetzungen geben,) wird die Integration von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung je nach Art und Schwere dieser Behinderung sehr unterschiedlich bereitwillig und unterschiedlich erfolgreich versucht.
      Da es bei Kindern mit emotional-sozialen Behinderungen eben nicht mit einer Rampe oder einem besonderen Mikrofon für das Hörgerät getan ist, sondern etliche Strukturen grundlegend verändert werden müssten, wird ein Scheitern leider häufig mit der angeblichen “fehlenden Anpassungsfähigkeit” des Kindes begründet, während sich das System kein Stück bewegt.

  3. Liebe Frau Kollodzieyski,

    ich danke Ihnen für diesen Artikel.

    Ich bin Asperger-Autistin und habe meine Diagnose 2019 mit 37 Jahren eher durch Zufall erhalten. Bis dahin habe ich stets das Gefühl gehabt (und von meinem Umfeld vermittelt bekommen), dass ich falsch bin und nicht dazugehöre. Über dreieinhalb Jahrzehnte war meine Selbstwahrnehmung, dass ich kaputt / gestört bin. Ableismus in Reinform… Noch heute weiß kaum jemand in meinem Umfeld von der Diagnose, da ich die verstörende Erfahrung machen musste, dass eine. inzwischen ehemalige “Freundin” mir antwortete: “Das kann doch gar nicht sein! Du bist doch verheiratet und hast Kinder! Außerdem siehst Du gar nicht autistisch aus!” Das tat unglaublich weh…

    Diskrimination habe ich mein ganzes Leben erlebt, da ich gleich mehrfach auffalle: ich bin kleinwüchsig, habe ganz offensichtlich einen Migrationshintergrund (dunkle Hautfarbe) – und bin dann auch noch autistisch!
    Im Laufe meines Lebens habe ich durch Coping- und Maskingstrategien Menschen irgendwann nur noch gespiegelt, obwohl es mein Innerstes kontinuierlich weiter zerriss… Erst die Asperger-Diagnose meines Sohnes vor einigen Jahren und das Auseinandersetzen mit diesem Syndrom haben mir die Augen geöffnet. Dennoch hat es über fünf weitere Jahre gedauert, bis ich mich überwinden konnte, eine Diagnostik für mich zu beginnen. Meine stete Angst war, was wäre, wenn ich doch kein Asperger-Syndrom habe!? Als ich dann die Diagnose auf dem Papier stehen sah, war ich einfach nur erleichtert. Wieso dieses oder jenes in meinem Leben passiert war oder passieren musste, ergab aus der Perspektive dieses Syndroms plötzlich einen Sinn.

    Seitdem “lebe” ich mein Asperger-Sein. Inzwischen hat auch unser jüngstes Kind die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (Asperger-Syndrom) erhalten. Ich bemühe mich nun kontinuierlich darum, meinen Kindern ein positives Beispiel zu sein, und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie und ich, so wie wir sind, richtig sind.
    Ich verstecke mich nicht mehr. Unterdrücke meine Andersartigkeit / Behinderung nicht mehr oder leugne sie.

    Liebe Grüße

    Joona

  4. …dieser Artikel ist wunderbar. Als Mutter eines behinderten Kindes sehr wertvoll. Erstmalig habe ich die volle Breitseite des Ableismus tatsächlich an der Wursttheke zu spüren bekommen. Meine Zwillinge damals ( vor Corona ) 5 standen mit mir an der Wursttheke – er im Rollstuhl, sie auf ihren Beinen. Die Verkäuferin fragte meine Tochter: „Na, möchtest du eine Scheibe Wurst?“ und dann mich: „DARF der Junge auch eine Scheibe Wurst haben?“ … ich war total verdattert und hab sie gebeten ihn selbst zu fragen ob er WILL, er hätte ihr das auch mindestens in 2 Sprachen beantworten können …aber er wurde gar nicht gefragt.

    Jetzt hat die Situation, dank ihres Artikels endlich auch einen Namen, dieses Gefühl, er kann nicht gut laufen, aber ansonsten ist er ein normaler fünfjähriger der sich wie blöd über ne Scheibe Wurst freut. Ich werde Ihren Artikel gerne auf Facebook teilen.

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