Unsere Kollegin Marie Lampe berichtet in ihrer Kolumne von ihrem Arbeitsalltag bei den Sozialheld*innen und gibt Tipps, wie Inklusion am Arbeitsplatz auch für blinde Mitarbeitende gelingen kann.
Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, wie viele blinde Menschen im erwerbsfähigen Alter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigt sind. Schätzungen gehen aber von lediglich 30 % aus. Eine erschreckend niedrige Zahl, denn bis auf das Transportwesen und einigen handwerklichen Berufen könnten ihnen alle Bereiche des Arbeitsmarkts offenstehen. Die Jobsuche scheitert aber häufig am Unwissen der Unternehmen und an bürokratischen Hürden. Wie meistert man also den Berufsalltag in einer überwiegend visuell geprägten Welt, wenn man kaum oder gar nichts sieht?
Wenn ich mir morgens am Berliner Hauptbahnhof mit meinem Blindenstock den Weg durch die Menschenmenge am Bahnsteig bahne, muss ich mich konzentrieren und gut hören, wo sich die nächste Treppe befindet, und gleichzeitig Koffern und Beinen ausweichen. Ich ärgere mich kaum noch über Arme, die mich zur Seite ziehen oder Roller, die so ungünstig geparkt sind, dass ich von meinem üblichen Weg abkomme. Inzwischen ist es zur Routine geworden, aber manchmal kosten diese Dinge Kraft, die ich eigentlich für den anstehenden Arbeitstag gebraucht hätte. Deshalb bin ich manchmal froh über die Möglichkeit des Homeoffices.
Dennoch freue ich mich, meine Kolleg*innen auch ab und zu mal in Präsenz zu sehen. Seit fast drei Jahren arbeite ich, neben meinem Studium, als Referentin bei den Sozialheld*innen und freue mich, so schon früh Erfahrungen in der Arbeitswelt machen zu können. Im Büro angekommen, baue ich meinen Arbeitsplatz auf. Ich arbeite hauptsächlich am Laptop, wie alle meine Kolleg*innen. Daran angeschlossen sind Kopfhörer und eine Braillezeile. Das ist ein längliches Gerät, welches mir den Inhalt meines Bildschirms in Braille anzeigt. Gerade für längere Texte nutze ich aber lieber die Sprachausgabe meines Computers. Gesteuert werden sowohl die Braille- als auch die Sprachausgabe durch den Screenreader, also ein installiertes Bildschirmleseprogramm. Mit der Tastatur navigiere ich durch Websites und Dokumente. Hierfür gibt es eine Reihe von Tastenbefehlen. Arbeiten kann ich damit genauso schnell wie meine Kolleg*innen. Allerdings bin ich darauf angewiesen, dass die Software auch barrierefrei programmiert und hinterlegt wurde.
Mein Team arbeitet mit einer Reihe von Tools: Slack für die Kommunikation, Trello für die Organisation, Google Meet für Meetings, Google Docs für die Zusammenarbeit in Dokumenten und so weiter. Es hat eine Weile gedauert, die Bedienung dieser Tools zu lernen, aber ich habe immer einen Weg gefunden. Trello hat mit dem Screenreader beispielsweise kaum funktioniert, weil mir wichtige Elemente nicht vorgelesen wurden. Deshalb arbeite ich inzwischen mit der entsprechenden App am Smartphone, die wesentlich kompakter und übersichtlicher ist.
Ich weiß aber aus meinem Bekanntenkreis, dass die Einarbeitung in diese Programme nicht immer so reibungslos funktioniert. Gerade firmeninterne Software ist nicht immer barrierefrei. Dann müssen entweder der Screenreader oder die Software angepasst werden, was wiederum Zeit und Geld kostet und von einem Kostenträger übernommen werden muss. Und nicht jede*r kann oder möchte das private Smartphone für die Arbeit nutzen.
Auch wird mir oft bewusst, wie wichtig es für mich ist, in einem offenen und agilen Team zu arbeiten. Wenn wir beispielsweise ein neues Tool für Präsentationen verwenden wollen, werde ich vorher gefragt, ob es für mich nutzbar ist. Auch zur Gestaltung von Kampagnen oder Websites wird mein Feedback eingeholt. Gleichzeitig kann ich nach Hilfe fragen, wenn doch mal etwas gar nicht funktioniert, ohne negative Konsequenzen befürchten zu müssen. Dann suchen wir gemeinsam nach Lösungen oder verteilen notfalls Aufgaben um.
Einige blinde Menschen nehmen Arbeitsassistenz in Anspruch. Das bedeutet, dass eine Person bei allen Tätigkeiten unterstützt, die sonst aufgrund der Sehbehinderung nicht oder nur schwer möglich wären. Dazu gehören, je nach Aufgabenfeld, die Bearbeitung von Akten und sonstigem Schriftverkehr, das Erstellen von Präsentationen oder auch die Orientierung in fremder Umgebung, zum Beispiel auf Dienstreisen. Sowohl die Arbeitsplatzassistenz als auch die Ausstattung wie Screenreader, Braillezeile oder Vergrößerungstechnik werden von einem Kostenträger bezahlt. In den meisten Fällen ist das das Inklusions- bzw. Integrationsamt. Auch ein Orientierungstraining für den Weg zum Arbeitsplatz wird unter Umständen übernommen. Doch all diese Leistungen sind mit Anträgen verbunden, die erst einmal gestellt und dann bewilligt werden müssen. Das kann lange dauern und die Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses behindern. Verbände fordern daher seit langem eine sogenannte Genehmigungsfiktion. Das bedeutet, dass Anträge auf Leistungen beim Integrationsamt als genehmigt angesehen werden können, wenn innerhalb von 6 Wochen nach Antragstellung keine Reaktion erfolgt ist. Das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts, das hoffentlich bald verkündet wird, sieht eine solche Regelung vor.
Noch immer gibt es Berufsfelder, in denen blinde Menschen häufiger zu finden sind als in anderen. Dazu zählen Massage und Physiotherapie, Verwaltung, Softwareentwicklung oder auch juristische Berufe. Berufsbildungswerke und andere Sondereinrichtungen bieten blinden Menschen hauptsächlich Ausbildungen im Bürobereich, in der IT oder in medizinisch-therapeutischen Berufen an. Doch auch blinde Personen haben noch ganz andere Talente und Fähigkeiten und müssen die Möglichkeit bekommen, sich auszuprobieren, weiterzubilden und den Beruf zu finden, der ihnen wirklich Spaß macht. Die Frage sollte also nicht lauten „Was kann ich als blinder Mensch arbeiten?“, sondern „Welcher Beruf interessiert mich und welche Lösungen brauche ich, damit ich ihn ausüben kann?“. Wir werden vielleicht keine Grafikdesigner*innen oder Fluglots*innen. Aber die Zeiten, in denen wir ausschließlich Körbe geflochten oder in Telefonzentralen gesessen haben, sind längst vorbei.
Lassen Sie es uns also gemeinsam versuchen! Mögliche Ansprechpartner*innen, die Sie dabei unterstützen, sind die örtlichen Integrationsämter, die Fachabteilungen der Agentur für Arbeit und der Deutsche Verein der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS). Auf der Internetseite des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes finden sich umfangreiche Informationen und Broschüren zur Einstellung von blinden Menschen.
Dieser Artikel ist zuerst auf tbd* (21.03.2023) erschienen.
Eine Antwort
Hallo,
du berichtest sehr gut über deinen beruflichen Alltag und seinen Herausforderungen. Es freut mich sehr, dass du ein hilfreiches Team gefunden hast. Als Blinder ist sonst ein arbeiten kaum möglich.
Ich selber bin ein Blinder Software Ingenieur. Mein Arbeitgeber unterstützt mich überhaupt nicht in Bezug auf meine speziellen Anforderungen an meinen Arbeitsplatz. Das ist leider sehr frustrierend und anstrengend. Dabei handelt es sich um ein großes Unternehmen, für das eine solche Inklusionsaufgabe überhaupt kein Problem sein sollte.
In Deutschland ist der Weg für vollständige Inklusion anscheinend noch ein weiter!