Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) werden weitestgehend als positive Einrichtungen angesehen. Produkten aus WfbM haftet ein sozialer Mehrwert an. Ein Großteil der Gesellschaft hat sich allerdings noch nie wirklich mit diesem System auseinandergesetzt. Hier ist viel Aufklärungsarbeit nötig. Wir machen in unserer Arbeit als JOBinklusive Team die Erfahrung, dass Menschen oft sehr überrascht sind, wenn sie das erste Mal genauer über die Hintergründe zu WfbM informiert werden. Hier folgt unsere informative Auseinandersetzung mit gängigen Irrglauben und den klassischen Argumenten von WfbM-Befürworter*innen.
Einige Fakten:
In Deutschland arbeiten etwa 300.000 Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM). Sie erbringen Leistungen im Wert von 8 Milliarden Euro für die deutsche Wirtschaft, werden aber nicht als Arbeitnehmer*innen anerkannt. Sie sind “Beschäftigte”, die von Sozialhilfe leben. Es gilt eine gesetzlich vorgesehene Ausnahme, die die Beschäftigten vom Mindestlohn ausschließt – eine der wenigen Ausnahmen dieser Art. Sie arbeiten oft Acht-Stunden-Tage, montieren Autoteile, verschicken Post, gestalten Websites oder verpacken Kaffee.
Menschen mit Behinderungen haben ein Recht auf inklusive Arbeit. Dieses Recht schließt die Möglichkeit ein, den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen und zwar durch Arbeit, die frei gewählt wird. So steht es in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen. Diese wurde vor 11 Jahren von der Bundesrepublik ratifiziert und ist somit geltendes Recht.
“Werkstätten leisten einen wichtigen Beitrag zur Inklusion von Menschen mit Behinderung.”
Inklusion bedeutet, dass Menschen mit und ohne Behinderungen miteinander und an denselben Orten leben, lernen und arbeiten. Das heißt, dass Einrichtungen, wie WfbM, wo nur Menschen mit Behinderungen arbeiten, dem Grundgedanken der Inklusion widersprechen. In Werkstätten sind Menschen mit Behinderung immer unter sich, sie haben keine direkten Kolleg*innen ohne Behinderungen. Menschen ohne Behinderungen kommen nur als Vorgesetzte und als Betreuer*innen vor.
Inklusion im Arbeitskontext bedeutet auch, dass sich jeder behinderte Mensch seinen Beruf frei auswählen kann und seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Beschäftigungsverhältnisse wie in WfbM, in die die meisten Beschäftigten alternativlos für die Dauer ihres Berufslebens hineingeführt werden und für die sie keinen Lohn erhalten, widersprechen auch diesem Grundgedanken der Inklusion.
Werkstätten dürften, wenn überhaupt, nicht mehr sein, als eine zeitlich begrenzte Station im Leben eines behinderten Menschen. Denn der Auftrag der WfbM ist die Rehabilitation von Menschen mit Behinderung und deren Vorbereitung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt (§ 5 (4) WVO). Diesen Auftrag erfüllen die Werkstätten nicht. Es gelingt ihnen nicht mal 1% ihrer Beschäftigten in den allgemeinen Arbeitsmarkt überzuführen. Werkstätten sind somit exklusive Sonderwelten und keine Musterbeispiele für die Umsetzung der Inklusion.
“Es ist kein “Verdienst” im klassischen Sinne.”
Dieses Argument wird immer wieder angeführt, wenn es um die niedrige Entlohnung von Werkstattbeschäftigten geht. Werkstattbeschäftigte bekommen ein sehr geringes Entgelt, das eher einem Taschengeld oder einer Ehrenamtspauschale ähnelt, als einem Verdienst. Indem das Entgelt der Beschäftigten nicht als Verdienst definiert wird, soll die Kritik daran entkräftet werden. Das ist Wortspielerei und die Frage, die sich dann aufdrängen müsste, wird aber viel zu selten gestellt: “Warum erhalten Werkstattbeschäftigte keinen “Verdienst” für ihre Arbeit?”
Zwar erhalten Werkstattbeschäftigte nach 20 Jahren Werkstatttätigkeit eine Erwerbsminderungsrente (EU-Rente), weshalb viele diese Beschäftigung gegenüber einer regulären Arbeit vorziehen. Die EU-Rente beträgt zu Beginn zwischen 800 und 900 Euro, nach Abzügen bleibt jedoch auch nicht viel um den Lebensunterhalt zu bestreiten oder gegen Altersarmut vorzusorgen.
In Deutschland herrscht noch immer ein breiter Konsens, dass es gut und sogar sozial ist, dass etwa 300.000 Menschen in Werkstätten für behinderte Menschen maßgeblich zu der deutschen Wirtschaft beitragen, dafür aber nur Sozialhilfe anstatt eines angemessenen Lohns empfangen. Hochgerechnet erwirtschaften die WfbM rund 8 Milliarden Euro Gesamtumsatz im Jahr. Das ist vergleichbar mit dem Umsatz des Drogeriemarkts Rossmannn im Jahr 2018. Zusätzlich bekommen die Werkstätten zwischen 750 € und 1600 € pro Monat pro Beschäftigten vom Staat, für die Rehabilitation, Ausbildung und Betreuung der Beschäftigten.
“Die Werkstätten müssen wirtschaftlich arbeiten, sie können sich kein höheres Entgelt leisten.”
Dieses Argument wird häufig vorgetragen, wenn es darum geht, die niedrige Bezahlung der Werkstattbeschäftigten zu rechtfertigen. Aber in einer sozialen Marktwirtschaft kann es eigentlich nur heißen: Ein Unternehmen, das seinen Mitarbeiter*innen nicht wenigstens den Mindestlohn bezahlen kann, arbeitet nicht wirtschaftlich. Werkstätten konkurrieren mittlerweile mit anderen Unternehmen auf dem freien Markt. Es geht schon lange nicht mehr um Filz- oder sonstige Handarbeiten, sondern um große Aufträge für multinationale Konzerne und hippe Startups. Weil Werkstätten ihre Leistungen und Produkte oft günstiger als die Konkurrenz anbieten, sind sie für diese Unternehmen eine attraktive Alternative, sogar zu Anbietern aus Billiglohnländern. Wenn den Unternehmen dann noch suggeriert wird, dass sie durch ihre Aufträge etwas Gutes für Menschen mit Behinderungen tun, erklären sich 8 Milliarden Euro Jahresumsatz . Es ist aber nicht verständlich, warum Werkstattbeschäftigte für Großkonzerne Arbeit leisten, dafür aber nur wie Ehrenamtliche entschädigt werden.
Die Einstellung vieler Menschen, dass die Arbeitsleistung von Werkstattbeschäftigten geringer oder schlechter ist, ist diskriminierend und realitätsfern. Sicherlich variiert die Produktivität der Beschäftigten je nach Grad der Behinderung und auch der Umgang mit Druck ist verschieden, doch liegt es an eine*r guten Vorgesetzten, Aufträge realistisch zu kalkulieren und zu terminieren. Und wenn man bedenkt, dass die meisten deutschen Autos Teile aus Werkstätten haben, kann es nicht sein, dass die Werkstätten schlechte Arbeit leisten.
“Den Menschen geht es dort gut!”
Viele Menschen mit Behinderungen fühlen sich in ihren Werkstätten tatsächlich wohl. Etwas Produktives zu leisten, eine regelmäßige Tagesstruktur zu haben, Kontakte und Freundschaften mit anderen Menschen zu pflegen und einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, sind wichtige Gründe, warum Beschäftigte lieber in Werkstätten arbeiten, als zuhause ohne Beschäftigung zu sitzen. Aber das häufig angeführte Argument, dass es in Ordnung ist, dass ein*e Arbeitnehmer*in keinen angemessenen Lohn erhält, weil ihm oder ihr die Arbeit ja Spaß macht, ist nicht nachvollziehbar. Man muss sich die Reaktionen nur vorstellen, wenn einem Mensch ohne Behinderungen gesagt würde, dass er oder sie für die Arbeit nicht bezahlt werden braucht, da der Spaß an der Arbeit und der Kontakt mit netten Kolleg*innen ja genügt.
“Die Unternehmen wollen ja nicht.”
Es gibt tatsächlich Unternehmen, die keine Menschen mit Behinderungen anstellen wollen. Aber diesen Unwillen allen deutschen Unternehmen pauschal zu unterstellen, ist schlichtweg falsch. Drei Viertel der gesetzlich dazu verpflichteten Unternehmen haben bereits behinderte Mitarbeiter*innen in ihrer Belegschaft. Das ist nicht allgemein bekannt, denn sie gehen damit nicht unbedingt an die Öffentlichkeit. Es gibt dazu noch viele Unternehmen, die im Prinzip dafür offen stehen Menschen mit Behinderungen anzustellen. Diese Unternehmen haben sehr unterschiedliche Gründe, warum sie es dennoch nicht tun. Manche haben Berührungsängste, manchen fehlt die Vorstellungskraft, was Menschen mit Behinderungen tatsächlich tun können. Andere wissen nicht, wie sie sich in dem Dschungel von Vorschriften und Unterstützungsmöglichkeiten zurechtfinden sollen. Und viele Unternehmen erreichen aus unterschiedlichen Gründen die Zielgruppe mit ihren Stellenausschreibungen nicht. Man muss genauer nach diesen Gründen schauen, anstatt alle Arbeitgeber*innen pauschal unter der Begründung “sie wollen nicht” einzuordnen.
Unsere Erfahrung ist, dass Unternehmen durchaus bereit sind Menschen mit Behinderungen einzustellen, wenn sie umfassend informiert werden, pädagogische Unterstützung bekommen und mit der Bürokratie nicht alleine gelassen werden. Insofern sollte man mit den Unternehmen anfangen, die im Prinzip willig sind, es aber noch nicht tun. Sie müssen unterstützt werden, damit sie mit gutem Beispiel vorausgehen können. Wenn es immer selbstverständlicher wird, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt am Arbeitsleben teilnehmen können, werden auch einige der derzeitigen Totalverweigerer mitziehen. Denn oft beruht ihr Unwille am Ende auch nur auf Unwissen und Berührungsängsten.
“Was ist denn mit den ganz schwerbehinderten Menschen, die gar nicht arbeiten können?”
Um in einer WfbM beschäftigt zu werden, muss man ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit leisten können. Das heißt, dass Menschen mit einer sogenannten Schwerstmehrfachbehinderung gar nicht erst in die Werkstätten kommen, sondern in Tagesförderstätten sind. Dort bekommen sie ein tagesstrukturierendes Angebot mit vielen pflegerischen und therapeutischen Komponenten.
In den Werkstätten sind stattdessen immer mehr Personen anzutreffen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung oder einem Burnout aus dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschieden sind. Sie sind oft gut ausgebildet und haben reichlich Berufserfahrung. Für diese Menschen müssen die nötigen Bedingungen geschaffen werden, damit ihnen die Teilhabe am Arbeitsleben wieder möglich ist. Auch für Menschen mit Lernschwierigkeiten – einer sogenannten geistigen Behinderung – sind Werkstätten nicht die einzige Lösung. Es gibt mittlerweile auch sehr gute und erfolgreiche Konzepte, wie sie am allgemeinen Arbeitsmarkt teilhaben können. Anstatt nach inklusiven Lösungen zu suchen, werden viel zu oft extreme Beispiele von Menschen, “die gar nicht arbeiten können” benutzt, um die Undurchlässigkeit des Werkstättensystems zu rechtfertigen.
“Wir haben uns auf den Weg gemacht, doch Inklusion braucht Zeit.”
“Inklusion ist ein in allen gesellschaftlichen Teilbereichen vernetzt verlaufender Wandlungsprozess.” Dieser Wandlungsprozess braucht tatsächlich Zeit, aber dennoch sollte es stetig vorwärts gehen. Im Bereich der WfbM jedoch passiert so gut wie nichts Neues, was die Umsetzung der Inklusion angeht. Zahlen belegen sogar einen stetigen Zulauf zu WfbM. Es haben sich ein paar Begriffe geändert und die Öffentlichkeitsarbeit der WfbM nutzt mittlerweile sehr gelungen die Sprache der Inklusion. Aber die Übergänge auf den allgemeinen Arbeitsmarkt sind immer noch kaum sichtbar und die WfbM bleiben exklusive Sonderwelten. Wenn andere Unternehmen mit einer Erfolgsquote von rund 1% arbeiten würden, wären sie schon lange insolvent.
“Der Arbeitsmarkt ist zu hart für Menschen mit Behinderungen.”
Dies ist eine Pauschalisierung einer großen Gruppe von sehr unterschiedlichen Menschen. Menschen mit Behinderungen haben es auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich oft schwieriger als Menschen ohne Behinderungen. Dafür gibt es viele Gründe, von denen manche einfacher zu beheben sind als andere. Die obige Aussage stammt nicht von behinderten Menschen selber. Diese Aussage treffen vor allem Menschen der Mehrheitsgesellschaft, die meinen, Menschen mit Behinderung besonders schützen zu müssen. Aber Menschen mit Behinderung können oft mehr, als ihnen zugetraut wird. Das beweisen sie, wenn ihnen eine Chance auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gegeben wird. Viele Werkstattbeschäftigte trauen sich eine Arbeit außerhalb der Werkstatt zu, wenn sie die bestehenden Alternativen und Unterstützungsmöglichkeiten kennen. Menschen mit Behinderungen haben ein Recht darauf, Herausforderungen anzugehen und Niederlagen zu erleben. Sie müssen nicht grundsätzlich vor der Arbeitswelt beschützt werden.
Der Arbeitsmarkt ist in einigen Bereichen hart und ein Großteil der Neuzugänge in den WfbM sind Menschen mit psychischen Erkrankungen, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einen Burnout oder ähnliches bekommen haben. Sie stehen einer Rückkehr verständlicherweise zunächst nicht positiv gegenüber. Anstatt ihnen das Recht oder die Fähigkeit abzusprechen, je wieder auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein, sollte geschaut werden, was sie brauchen, um dort wieder gut arbeiten zu können. Grundsätzlich müssen wir uns alle fragen, was in bestimmten Bereichen des Arbeitsmarkts nicht stimmt. Stattdessen akzeptieren wir unreflektiert die Arbeitsbedingungen und dass dadurch viele Menschen ausgeschlossen werden.
Dieser Artikel wurde ursprünglich am 26.05.2020 bei XING Klartext veröffentlicht und ist danach bei JOBinklusive erschienen.