Die Forderung nach gerechter Teilhabe am Arbeitsmarkt von Menschen mit Behinderung ist nicht neu. Doch wie schwierig es ist, diese Forderung im bestehenden System durchzusetzen, zeigen Anne Gersdorff und Helge Inselmann mit einer Bestandsaufnahme.
Unsere Wirtschaftsordnung in Deutschland ist die soziale Marktwirtschaft. Das heißt, sie ist marktwirtschaftlich organisiert, hat aber soziale Komponenten, wie zum Beispiel Sozialversicherungen, Mindestlohn und Arbeitslosengeld, eingebaut. So soll unter anderem ein Mindestmaß an sozialer Absicherung gewährleistet sein und soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft angestrebt werden. Gleichzeitig beruht sie auf einem grundlegenden Element einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft: Der Leistungsgerechtigkeit. Nach diesem Prinzip gilt: Wer mehr leistet, bekommt auch mehr. Aber wie ist dieses Prinzip mit Inklusion vereinbar, die jeden Menschen, egal wie leistungsfähig, von vornherein einschließt?
Ein Recht auf Teilhabe sollte universell gelten, unabhängig davon, was eine Person leisten kann. Tatsächlich ist die Beteiligung am Arbeitsleben jedoch oft die Eintrittskarte zur Teilhabe. Unser gesellschaftliches System beruht auf der Vorstellung, dass alle Mitglieder der Gesellschaft arbeiten müssen, um vollwertig teilzunehmen. Teilhabe ist also an Arbeit gekoppelt. In einer marktwirtschaftlichen Gesellschaft erfolgt durch Arbeit, neben dem Erwerb von Einkommen, auch das Erlangen von Anerkennung, Status, sozialen Kontakten und vielem mehr. Aus diesem Grund bedeutet eine Einschränkung der Erwerbstätigkeit gleichzeitig eine Einschränkung der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dies gilt natürlich nicht nur für Menschen mit Behinderung. Lange Arbeitslosigkeit stürzt viele Menschen in persönliche Krisen und kann zu sozialer Isolation führen. Hartz IV Sanktionen sind auch ein Ausdruck der Erwartung, dass alle Gesellschaftsmitglieder einen produktiven Beitrag zum Gemeinwohl leisten müssen. Doch warum muss man erstmal etwas leisten, um teilhaben zu können? Menschen mit Behinderungen erhalten eher Hilfsmittel für die Arbeit, als für andere alltägliche Dinge, die Teilhabe in anderen Bereichen ermöglichen würden. Besonders deutlich wird das zum Beispiel bei tauben Menschen, die für die Arbeit Gebärdensprachdolmetschende bezahlt bekommen, jedoch nicht für eine Familienfeier. Teilhabe wird an Bedingungen geknüpft, das ist nicht inklusiv.
“Leistungsfähige” versus “Nicht-Leistungsfähige”
Inklusion soll die Strukturen dahingehend verändern, dass alle Personen von Anfang an gleichberechtigt teilhaben können. Integration dagegen schließt Personen in bestehende Strukturen mit ein, dabei müssen sich vor allem diese Personen anpassen. Der Status Quo führt zu bedenklichen Prozessen und Entwicklungen, in denen Inklusion oft zu Integration abgeschwächt wird. So passen sich Menschen mit Behinderungen primär der Arbeitswelt an und nicht andersherum.
Die Arbeitswelt kann erst als inklusiv bezeichnet werden, wenn sich der komplette Arbeitsmarkt strukturell verändert. Solange der Fokus auf Individuen liegt und diese sich optimieren müssen, um am Arbeitsleben teilhaben zu können, ist das Integration. Hier werden neoliberale Verhältnisse deutlich: Individuen werden selbst zum Objekt der Optimierung. So werden Veränderungen erreicht, die zwar marktkonform sind, Menschen mit Behinderungen aber nichts nützen.
Über Maßnahmen diverser Kostenträger wird versucht, Menschen mit Behinderung “fit” für den Arbeitsmarkt zu machen. Trotzdem gelingt die Integration nur zu einem gewissen Punkt. Es werden fast nur diejenigen integriert, die auch etwas wirtschaftlich Relevantes leisten können. Dies führt zu einem Druck bei vielen Menschen mit Behinderungen, die eigene Verwertbarkeit zu betonen. Die Journalistin Rebecca Maskos beschreibt es folgendermaßen:
“Auch bei vielen behinderten Menschen ist diese neoliberale Denkweise angekommen. So sagen viele von sich, dass auch sie der Gesellschaft mehr einbringen, als sie kosten. Zum Beispiel als Unternehmer*in oder Arbeitnehmer*in mit Behinderung. Sie seien super leistungsfähig, und das sei der Grund, weshalb sie wie alle behandelt und nicht mit Hartz IV Empfänger*innen in einen Topf geworfen werden wollen. Ein gefährliches Denkmuster, denn es spaltet behinderte Menschen: In die Leistungsfähigen, und in die, die scheinbar zu Recht arm sind”
Rebecca Maskos 2017: Redebeitrag Pride Parade Berlin
Eine Spaltung von Menschen mit Behinderungen in “Leistungsfähige” und “Nicht-Leistungsfähige” widerspricht der inklusiven Idee.
Sogar die Entscheidung darüber, wer einen Platz in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) – und wer in einer Tagesförderstätte – erhält, wird auf Basis der individuellen Leistungsfähigkeit getroffen. Um in einer WfbM aufgenommen zu werden, müssen die Personen per Gesetz in der Lage sein, ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeit zu leisten. Diejenigen, die das nicht können, kommen in eine Tagesförderstätte, wo sie auf eine Tätigkeit in der WfbM vorbereitet werden sollen.
Durch eine Beschäftigung in einer WfbM nehmen Menschen mit Behinderungen zwar am Arbeitsleben teil, allerdings in einer “Sonder-Arbeitswelt”, in der Menschen mit Behinderungen einen Sonderstatus als “Beschäftigte” haben und Menschen ohne Behinderungen nur als Vorgesetzte und Betreuer*innen vorkommen. Inklusion ist das nicht. So gelten in dieser Sonderwelt auch die sonstigen Regeln der Arbeitswelt nicht: Für Menschen mit Behinderungen gibt es in Werkstätten keine Arbeitsverträge, keine Tarifverträge, Beschäftigte “verdienen” im Monat im Schnitt nur 200 € und leben von Sozialhilfe. Dabei sind die Werkstätten mittlerweile zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor in Deutschland geworden. Große und mittelständige Unternehmen, wie Siemens, Daimler, ThyssenKrupp, Playmobil, Panasonic und sehr viele mehr lassen dort produzieren und Dienstleistungen verrichten. Wenn Menschen mit Behinderungen, die eigentlich nicht leistungsfähig genug sind für den allgemeinen Arbeitsmarkt, dann also “doch” etwas im Sinne der Marktwirtschaft leisten, werden sie nicht gemäß dem System entlohnt und behandelt.
Diese Umstände zeigen, wie absurd solche Kategorisierungen in leistungsfähig und nicht-leistungsfähig sind. Es wird deutlich, dass ohne strukturelle Veränderungen echte Inklusion im Bereich Arbeit utopisch ist.
Integration+ ist keine Inklusion
Inklusion darf nicht zur “Integration+” verkommen. Wenn wir dies doch zulassen, führt es dazu, dass viele Menschen mit Behinderungen (die “Nicht-Leistungsfähigen”) noch stärker marginalisiert werden. Aus ihrer Sicht wächst dann lediglich der Teil der Gesellschaft, der sie ausschließt. Während behinderte Menschen in jungen Jahren noch mit vielen unterschiedlichen Menschen – in Förderschulen zumindest mit unterschiedlichen Behinderungen – in Kontakt kommen, werden die Strukturen im Laufe des Lebens immer homogener und separierender. Menschen mit schweren mehrfachen Behinderungen verbleiben in der Regel in exkludierenden Strukturen, während andere in die Gesellschaft integriert werden. Hierdurch wird die schon geringe Diversität in diesen Strukturen weiter verfestigt. Außen vor bleiben oft Personen, die früher noch vom Kontakt mit weniger stark behinderten Personen profitierten. Diese Kolleg*innen / Mitschüler*innen / Freund*innen fungierten oft als eine Art Bindeglied zur Gesellschaft für schwer mehrfach behinderte Menschen. Sie erklärten Dinge und sorgten für Abwechslung. Wenn diese dann integriert werden, also aus den Freundes- und Schulgruppen verschwinden, sind die Verbleibenden noch marginalisierter. Es müssen alle mitgenommen werden auf dem Weg zur Inklusion.
Die Umsetzung von Inklusion hat eine strukturverändernde Kraft, diese darf nicht im Laufe des Wandlungsprozesses verwaschen werden. Scheinbare Teilerfolge sind nicht genug. Inklusion muss Strukturen verändern – nicht andersherum.
Hier lohnt ein Blick auf die Behindertenbewegung der 1970/80er Jahre. Diese trat unter anderem an, um mit dem sozialen Modell von Behinderung den Diskurs über Behinderung zu verändern. Dies ist zu einem großen Teil auch gelungen. Das soziale Modell liegt der UN-Behindertenrechtskonvention zugrunde und ist mittlerweile ein wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses über Behinderung – ein wichtiger Erfolg. Ursprünglich transportierte das soziale Modell auch eine fundamentale Kritik an unserer kapitalistischen Gesellschaft. Diese verflachte aber zunehmend, als das Modell in das politische und gesellschaftliche System aufgenommen wurde. Eine Strukturveränderung blieb bisher aus. Für ein Gelingen von Inklusion muss diese Kritik reaktiviert werden.
Ist die Behindertenbewegung zu brav?
Einige Bestrebungen der Behindertenbewegung fügen sich in kapitalistische Strukturen ein, denn auch sie ist Teil der kapitalistischen Denkweise und bedient gängige, gesellschaftliche Muster. Es besteht die Gefahr, dass diese dann gegen Menschen mit Behinderungen verwendet werden. So wurde zum Beispiel in Großbritannien die Betonung der Leistungsfähigkeit von Menschen mit Behinderungen durch die Behindertenbewegung dazu genutzt, Kürzungen von Renten für behinderte Menschen zu rechtfertigen.
Deshalb heißt es wachsam zu bleiben und sich zu vernetzen, aber auch stets das eigene Handeln zu reflektieren. Die Behindertenbewegung muss wieder politischer werden. Wir sollten uns fragen, ob wir zu brav gewesen sind. Dies gilt generell, besonders aber für das Thema Arbeit. Was würde zum Beispiel passieren, wenn WfbM-Beschäftigte streiken würden? Damit könnte die Argumentation ad Absurdum geführt werden, die Menschen dort könnten nichts leisten.
Im Laufe der Recherche für diesen Artikel startete der YouTuber und Aktivist Lukas Krämer einen Aufruf zum Streik in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen:
Dies ist ein Beispiel für eine begrüßenswerte Politisierung von Werkstattbeschäftigten, die sich hier und da bemerkbar macht.
Neben der Notwendigkeit von politischem Aktivismus ist es wichtig, Anknüpfungspunkte an Debatten zu finden, die anderswo schon zum Thema Arbeit geführt werden. Ein Vier-Stunden-Arbeitstag liegt zunehmend im Trend, Arbeitszeitverkürzungen und ein Grundeinkommen werden oft gefordert. Dies kann ein erster Schritt in die Richtung sein, die Bedeutung von Arbeit zu mindern und mehr Menschen Zugänge zu ermöglichen.
Zudem kommen sie Menschen mit – und ohne Behinderungen zugute und schaffen somit wirkliche Inklusion.
Wir sollten Teil einer größeren Allianz werden, die verschiedene Aspekte von Arbeit kritisiert. Unter anderem bietet der Feminismus wertvolle Anknüpfungspunkte. Hier wird unter anderem gefordert, dass der Begriff “Arbeit” deutlich weiter gefasst werden muss, als nur die Erwerbsarbeit. Auch unsichtbare, private Arbeiten, wie Pflegearbeit und Kindererziehung, sollten honoriert werden. Ähnliches könnten Menschen mit Behinderung zum Beispiel auf die Organisation ihres Alltages anwenden. Teilweise schließt dies die Koordination eines Teams aus persönlichen Assistent*innen ein. Manche Menschen mit Behinderung sind also Arbeitgeber*innen, ohne dass die Koordination ihrer Arbeitnehmer*innen als Arbeit anerkannt wird. Inklusion ist also ein großes Thema, dass nicht nur Behinderung umfasst, sondern auch an gesellschaftlichen Grundsätzen wie unserem Verständnis von Arbeit kratzt.
Inklusion und Kapitalismus – geht das?
“Nein” sagen viele Vertreter*innen der Disability Studies. Konkurrenz und Inklusion schließen sich aus. Somit stehen Inklusion und Leistungsgerechtigkeit in der heutigen Form im Widerspruch zueinander. Und jetzt?
Inklusion ist ein Prozess und wir alle können daran mitwirken. Natürlich können strukturelle Änderungen schwierig von heute auf morgen geschehen. Aber es wird auch nicht erst seit heute für Inklusion gekämpft. Der Prozess muss weiterhin wachsam begleitet und aktiv voran getrieben werden, um zu gewährleisten, dass am Ende auch echte Inklusion als Ergebnis steht. Menschen mit Behinderungen in Führungspositionen sind ein Anfang, jedoch braucht Inklusion eine ganzheitliche Perspektive, und nicht nur den Erfolg von Einzelnen. Denn Menschen mit Behinderungen haben im aktuellen Gesellschaftssystem ein Recht auf die ganze Bäckerei und nicht nur auf ein kleines Stück vom Kuchen.
Auch wenn es derzeit wie eine Utopie klingt: ein wichtiger Ansatz wäre, die Leistungsgerechtigkeit durch eine Bedarfsgerechtigkeit zu ersetzen. Nach diesem Prinzip bekommen nicht die Personen am meisten, die am meisten leisten, sondern die Personen, die es am stärksten brauchen. Doch dafür müssen wir bereit sein, etwas von unseren Privilegien abzugeben und von gewohnten Denkmustern abrücken.
Auf dem Weg dahin schließt das auch ein, dass jede*r zwei Fragen ganz ehrlich für sich selbst beantwortet:
Können Sie sich vorstellen einer sogenannten schwer mehrfach behinderten Person einen Platz in ihrem Unternehmen anzubieten oder mit ihr zusammenzuarbeiten?
Wenn nicht, warum eigentlich nicht?
2 Antworten
Guten Abend, ich persönlich wünsche mir durch eine Krankheit eine Querschnittlähmung. Obwohl mir völlig bewusst ist was das für mein Leben bedeutet, ist es das was ich wirklich bin. Selbstverständlich will ich dann mein leben so selbstbestimmt leben wie möglich und normal Arbeiten. Leistung kann man man auch erbringen mit Handycap. Die Frage ist nur wie ausbeutbar die Leistung für bestimmte Kreise ist.Die Gesellschaft hat ein langen weg vor sich, bevor eine Behinderung als normal in der Gesellschaft gilt.
Mit freundlichen Grüßen
Toller Artikel, den ich mit Freude gelesen habe. Kapitalismus, Neoliberalismus, Leistungsgesellschaft (brave, unpolitische) Behindertenbewegung – alles wertvolle Stichwörter für eine starke Ansage! …und was kommt? “Bitte denkt netter und stellt auch Menschen mit Schwerstmehrfachbehinderung ein”. Sorry für die Polemik, aber so nehm ich das wahr. Der Verweis auf die 70/80 Jahre der Bewegung und auf die Möglichkeit von Streiks lies mehr erhoffen!
Privilegierte Menschen werden in den seltensten Fällen zurückstecken (siehe Rassismus, Feminismus usw.). Wir müssen kämpfen. Für uns. Gegen die.