Grüße von einer Risikopatientin

Eine Frau liegt in ihrer Wohnung an einem Beatmungsgerät.
Autorin Marianna Metta gehört als Beatmungspatientin zur Risikogruppe in der Corona-Zeit, Foto: privat
Lesezeit ca. 9 Minuten

Über die sogenannte “Risikogruppe” wird in der Corona-Zeit viel geschrieben – seltener kommen Menschen die ihrer angehören zu Wort. Marianna Metta vom Caput Magazin beschreibt, wie sie als Risikopatientin die Vorsichtsmaßnahmen und die Isolation erlebt und was sie sich von der Gesellschaft wünscht.

“Lieber Opi, ich hab Dich lieb und vermisse Dich“, steht auf einem blauen Ballon, gehalten von einem kleinen, blonden Mädchen mit Brille, das verlegen in die Handykamera ihrer Mutter schaut. Ihr Opa Alfred (57) starb an den Folgen des Coronavirus. Bei immungeschwächten Risikopatient*innen kann dies bekanntlich tödlich verlaufen. Seit Dezember 2019 forderte dieses Virus weltweit Millionen bekannter Infektionen und Tausende Todesfälle. Das Mädchen lässt den Ballon los. Er steigt auf in den wolkenlosen Himmel. Das Video beginnt: „Schützt Du Dich! Dann schützt Du mich!“ lautet der Titel des Aktionssongs für Risikopatient*innen der Liedermacherin Nadine Maria Schmidt aus Leipzig. Die Risikogruppe zeigt mit diesem tief berührenden Video – unter Mitwirkung von über 60 Menschen aus verschiedenen Ländern – ihre Gesichter, um gemeinsam gegen das Virus zu kämpfen und Mitmenschen aufzuklären, zu sensibilisieren.

Man sieht im Video Menschen von jung bis alt, mit und ohne Behinderungen, tanzend, singend, musizierend, Masken nähend, schwimmend, malend, Kampfkunst betreibend, küssend und umarmend. Die Risikogruppe ist vielfältig. 

Ich, Marianna Metta (30), Redakteurin der caput, gehöre ebenfalls dazu. Durch meine Grunderkrankung Osteogenesis imperfecta, umgangssprachlich auch Glasknochenkrankheit genannt, entwickelten sich langwierige Begleiterkrankungen. Meine Diagnose lautet: chronische ventilatorische Insuffizienz bei schwerer Kyphoskoliose mit restriktiver Ventilationsstörung. Kurz: Kleinwuchs, Rücken krumm, schwere Lungen- und Atemprobleme: Risikogruppe! Meine Atemtätigkeit ist eingeschränkt, da sich die Lunge nicht ausreichend entfalten kann. Seit Jahren kämpfe ich mit chronischen Atemwegserkrankungen. 

Um diese zu lindern, benötige ich seit meinem 18. Lebensjahr eine dauerhafte Flüssigsauerstoffbehandlung. Mehrere Stunden am Tag benutze ich ein Beatmungsgerät, um mein Lungenvolumen zu verbessern, sowie eine Inhalationskur, um die Atemwege zu befeuchten und festsitzendes Sekret zu lockern. 

„Schützt Du Dich! Dann schützt Du mich!“

Das Thema Coronavirus wurde für mich mehr, als nur ein Teil des Alltags. Denn es betrifft mich als Risikopatientin noch einmal intensiver. 

An dieser Stelle könnte ich Sie nun mit Zahlen, Daten und Fakten, Vermutungen, Entwicklungen und Mutmaßungen überfrachten. Ich tue dies jedoch bewusst nicht, da Sie wahrscheinlich bestens über das Virus und dessen Folgen informiert sind. Viele nervt das Thema aktuell bereits. Mich nicht. Denn während sich hierzulande vieles wieder lockert, wird mein Informationswunsch parallel wieder größer.

Warum?

Besonders gefährdet sind weiterhin Menschen über 65 Jahre, Personen mit chronischen Atemwegserkrankungen, erhöhtem Blutdruck, Herz und Kreislauferkrankungen oder Diabetes und solche, deren Immunsystem durch eine Therapie geschwächt ist. Wie bei mir. 

Wie soll ich, als Risikopatientin mit Lungeninsuffizienz, auf all diese Nachrichten reagieren? Soll ich gelassen sein, mich isolieren, bis ein Impfstoff vorhanden ist? Soll ich zu einem möglichst gelassenen Umgang mit der Pandemie finden? Und geht das überhaupt?

Ich bin mein ganzes Leben Risikopatientin gewesen, eine solche Pandemie haben wir noch nie erlebt. Ich lebe seit über 30 Jahren mit meiner Behinderung und meinen Atemwegserkrankungen. 

Falls Sie mich nicht kennen:

Ich bin kleinwüchsig, sitze im Rollstuhl und habe, wie beschrieben, übermäßigen Sauerstoffbedarf. Gebürtig komme ich aus der Ukraine und lebe seit über 22 Jahren in Deutschland. Als kleines Andenken habe ich mir das osteuropäische rollende „Rrrrr“ behalten, sowie meinen angeborenen ukrainischen Sinn für die Großfamilie. So wohne ich in einem Mehrgenerationenhaus und arbeite in der caput Redaktion am Bahnsteig 42 in Iserlohn-Letmathe – mitten unter Menschen.  

Trotz Sauerstoffnotwendigkeit habe ich einen langen Atem – oder vielleicht gerade deshalb – weil ich dort tun kann, was ich liebe: Texte schreiben, Reportagen verfassen.

Doch aktuell kann ich, oder besser, darf ich dies nicht vor Ort. Ich arbeite zu Hause. Eigentlich erstelle ich die caput mit vier Kollegen in einem großen Redaktionsraum. Doch seit März bin ich, ebenso wie ein Teil der Werkstatt-Kolleg*innen und viele andere Arbeitnehmer auch, im Homeoffice tätig.

Gute medizinische Versorgung

Mein Arzt konnte mir, guten Gewissens, keine Unbedenklichkeits-Bescheinigung ausstellen, die eine Rückkehr an meinen Arbeitsplatz ermöglicht hätte. Ich schreibe und recherchiere für meine Artikel also aktuell aus meinem Wohnzimmer. Auch wenn die Bundesregierung so langsam Kontaktbeschränkungen und ähnliche Restriktionen wieder lockert, werde ich wohl noch länger zu Hause bleiben. Es dient einfach meiner Sicherheit. 

In dieser „Corona-Zeit“ wird mir immer bewusster, wie wertvoll und schützenswert das Leben und die Umwelt für mich sind. Positiv zu denken gelingt mir da leider nicht immer, wenn ich sehe, wie viele Opfer das Virus in den USA, Italien und weiteren Ländern mit sich genommen hat. Denn auch mein Leben stand schon mehrfach auf der Kippe. 

Eine wahre Ärzte-Odyssee bestimmt mein Leben seit Kindheitstagen. Ich bin dankbar für die medizinische Versorgung in Deutschland, durch die ich überhaupt noch lebe. Ich bin all den Menschen dankbar, die mich in nahezu allen Lebensbereichen unterstützen, sich um mich kümmern und mir Lebenskraft geben, die ich im Kampf gegen meine Krankheiten benötige. Für mich ist das Leben kostbar. Trotz meiner Behinderung und all den daraus resultierenden Einschränkungen kann ich sagen: Ich bin glücklich! 

Sie ist ein Teil von mir und ich bin ein Teil von ihr. Wir gehören zusammen. Ich bin so wie ich bin, auch wenn die vergangenen 30 Jahre meines Lebens geprägt waren von zahlreichen Knochenbrüchen, Krankenhausaufenthalten und eben angeführter Ärzte-Odyssee. 

Das Virus kommt näher

Durch meine Vorerkrankungen bin ich aktuell allerdings gefährdeter denn je und ich muss zugeben: Das macht mir Angst! Es ist eine schwere und emotional belastende Zeit. Anfangs nahm ich die Pandemie nicht wirklich wahr. Ich dachte, es ist weit weg von mir. Bis es Deutschland, Nordrhein-Westfalen und schließlich meinen Heimatort Hemer erreichte. Es wurde ernst. 

Anfang März hatte ich, wie häufiger im Jahr, eine Bronchitis. Um mich vor einer Lungenentzündung zu schützen, blieb ich zu Hause. Der Lockdown war da noch nicht fix. Doch es gab immer mehr Tote und bereits zahlreiche Sicherheitsvorkehrungen seitens der Landesregierung: Einstellung des Betriebs an Schulen, von Kindertageseinrichtungen wurden angeordnet. Das Verbot des Aufenthalts im öffentlichen Raum, von Veranstaltungen und sonstigen Ansammlungen wurde ebenfalls bekannt gegeben und letztlich Schließungen von Einrichtungen jeglicher Art angeordnet. 

Zu Hause und in den Nachrichten gab es nur noch das Thema Coronavirus und die Folgen einer möglichen Ansteckung. Eine angespannte und schwere Zeit gepaart mit einer großen Portion Ungewissheit, die mich oft einfach nur traurig und schweigsam machte. Ich verfolgte jede Neuigkeit darüber. 

Meine beste Freundin hatte zu diesem Zeitpunkt Geburtstag und sie lud mich zum Essen in ein Restaurant ein. Ich sagte ab, aus Angst. Sie allein zum Essen mit ihrer Familie gehen lassen zu müssen, tat weh. Ich wäre gern dabei gewesen. Dies ist immer ein schönes Ritual bei uns. Doch ich hatte Angst. Angst vor diesem Virus und der Ansteckung, da ich immer noch geschwächt vom letzten Infekt war. 

Eine kleinwüchsige Frau sitzt im Rollstuhl. Sie trägt eine schwarze Brille, blaue Klamotten und einen blauen Mund-Nasen-Schutz.
Autorin Marianna Metta, Foto: privat

In den Nächten, wenn ich im Bett lag, bekam ich regelrechte Todesfurcht. Ich konnte nicht schlafen. Bei den kleinsten Symptomen hatte ich Angst, ich hätte das Virus. Bei Atembeschwerden bekam ich Panikattacken. Testen lassen konnte ich mich nicht, da ich hierzu nicht genügend Symptome aufwies. Ich bangte täglich um meine Familie und Freunde, dass sich jemand von ihnen ebenfalls infizieren könnte. Das Virus verankerte sich fest in meinen Gedanken. 

Andauernde Unruhe machte sich in mir breit. Ich fühlte mich nur noch unwohl. Es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Beinahe wie eine Art Depression. Ich wurde scheu und abweisend zu anderen Menschen. Ich war die ersten Wochen nur noch im Haus. Ich entwickelte eine panische Angst vor Menschen.

Am 17. März wurde durch einen Erlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW das Betreuungsverbot für Werkstätten für Menschen mit Behinderung verkündet. Dies galt vorerst bis zum 19. April. Durch diese Nachricht wurde mir erneut deutlich, wie ernst die Lage ist. 

Erhöhte Vorsicht – auch zu Hause

Nun wurden auch zu Hause Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Mein hauptsächlicher Kontakt beschränkte sich nur noch auf meine Mutter, die auch zu Hause blieb. Mein Vater ging weiterhin zur Arbeit. Zu meinem Tagesablauf gehörten: 

Das tägliche, mehrfache Inhalieren mit Kochsalzlösung zur Vorbeugung von Sekretbildung und einer Lungenentzündung.

Das Verbringen von mehreren Stunden am Beatmungsgerät, um das Lungenvolumen zu erweitern. 

Das mehrfache Desinfizieren der Hände und die strickte Maskenpflicht bei Familienmitgliedern, die weiterhin beruflich unterwegs waren. 

Ich erhielt keine, für mich überaus notwendige, Krankengymnastik. Arztbesuche machte ich nur bei sehr akuten Beschwerden.

Mein lieber Bruder durfte nur noch in Ausnahmefällen vorbeikommen. Meine Familie und ich verzichteten auf jeglichen Körperkontakt: keine sonst üblichen Begrüßungsküsse, kein Händeschütteln, keine Umarmungen. Wir hielten Abstand voneinander. 

Übervorsichtig sein – oder leichtsinnig werden?

Hinzu kamen in der Isolation auch Faktoren wie Gewichtszunahme und mangelnde Bewegung. Das wirkte sich alles nachteilig auf meine Lebensqualität aus. Gleichzeitig fehlte es mir an Struktur. Der Arbeitsplatz war geschlossen, die Freizeitangebote auf ein Minimum eingeschränkt, Therapien wurden abgesagt. 

Ich hatte plötzlich keinen geregelten Tagesablauf mehr und überhaupt kein Zeitgefühl. Jeder Tag glich dem anderen. Dazu vernachlässigte ich mein äußeres Erscheinungsbild und legte keinen Wert mehr darauf, weil mich sowieso kaum jemand sah.

Mein soziales Leben wurde komplett lahmgelegt. Diesen totalen Verzicht auf soziale Kontakte empfand ich persönlich als sehr schlimm. Das bedrückte mich extrem. Ich bin ein sehr sozialer Mensch und da merkte ich, wie sehr ich das Zwischenmenschliche vermisste. Und natürlich fehlte es mir, mich draußen frei bewegen zu können. Da unterscheide ich mich in vielen Dingen aktuell sicher nicht von anderen Menschen. Nur bin ich natürlich im schlimmsten Fall diejenige, die dann eventuell das tödliche Nachsehen hat. 

Auf der einen Seite kam ich mir da oft vor, wie eine übervorsichtige Übertreiberin. Auf der anderen Seite dachte ich mir aber: Man wird auch schnell leichtsinnig. Ich blieb jedoch optimistisch und dachte: Das wird schon alles im Laufe der Zeit besser. Durch das Einhalten von Sicherheitsvorkehrungen, die von der Regierung eingeführt wurden, hatte sich die Verbreitung in Deutschland schließlich in Grenzen gehalten. Anfang Mai klangen die Medienberichte mittlerweile nicht mehr so dramatisch wie vorher. Die Menschen wurden wieder fröhlicher. Warum denn nicht auch ich? 

Mit meiner Krankheitsgeschichte habe ich schon einige Male erfahren müssen, was es bedeutet, mitten aus dem Leben gerissen zu werden. Heute habe ich zwar seltener Brüche und Erkältungen, da meine Knochen durch Titan-Implantate stabilisiert und meine Lunge durch die Sauerstofftherapie und Inhalationen gestärkt wurden. Doch mein Leben bleibt nicht knochenbruchfrei und mein Immunsystem bleibt immer noch stark anfällig für Infektionen. Eine Ansteckung mit dem Coronavirus hätte für mich deshalb fatale Folgen.

Mein Wunsch: Solidarität

Wir haben jetzt Mitte Juli. So langsam gewinnt man den Eindruck, dass die Menschen gelernt haben, mit den Corona-Einschränkungen zu leben. Es ist aber noch nicht vorbei und ich glaube auch nicht, dass es zeitnah zu Ende sein wird. Und dann kommen sie wieder, die Nachrichten aus Fleischbetrieben oder Partymeilen.

Solange es keinen Impfstoff gibt, sollten wir die Sicherheitsvorkehrungen befolgen. 

Jegliche Dinge, bei denen man mit Menschen in Kontakt kommen könnte, lasse ich persönlich langsam und mit Vorsicht wieder zu. Ich gehe regelmäßig spazieren und ab und zu mit meiner besten Freundin einkaufen. Doch den körperlichen Kontakt meide ich immer noch. Langsam gewöhne ich mich an die Umstände, doch die Frage, wann das Schlimmste überwunden ist und wann es ansatzweise mit dem gewohnten Leben weitergehen kann, bleibt. 

Wie es weiter gehen wird, kann mir keiner sagen. Die Wahrsager Kugel der Virologen ist ebenso trüb, wie die der Wirtschaftsexperten. Alles, was uns also bleibt, ist umsichtiges Handeln und vor allem das Sammeln und das Lernen aus Erfahrungen. Schutz- und Hygienemaßnahmen haben sich gesellschaftlich bei den meisten Menschen einigermaßen eingeprägt. 

Es ist nahezu unmöglich, die Pandemie infolge des Nachrichtenüberflusses für einen Augenblick einfach zu vergessen. Und vielerorts bietet sich seit Monaten zudem ein unschönes Bild. 

An Bahnhöfen, vor Haltestellen oder Einkaufszentren liegen achtlos weggeworfene Mund-Nase-Masken oder Plastikhandschuhe auf der Straße. Sie werden vom Wind verweht und bleiben in Büschen (auch in unseren) oder Parkanlagen hängen. In der Regel handelt es sich dabei um Einwegprodukte, die nach dem Benutzen entsorgt werden müssen. Dadurch entstehen zusätzliche Berge von Müll. Und wenn sie nicht richtig entsorgt werden, wird unsere Umwelt mehr und mehr damit belastet. Ich wünsche mir, dass die Menschen irgendwo im Hinterkopf haben, dass es um mehr geht: Darum, andere und unsere Erde zu schützen. 

Ich wünsche mir Solidarität. Nicht nur, weil es zeigt, wie wichtig es ist aufeinander zu achten, sondern emotional erfahrbar und spürbar macht, was es bedeutet, wenn alle Menschen zusammen halten. Man kann Solidarität nicht erzwingen. Doch mit Verständnis und Mitgefühl könnte man wenigstens eine Ansteckung verhindern. 

Ich persönlich wäre Ihnen allen dafür sehr dankbar!

Dieser Text erschien zuerst in der September-Ausgabe (Nr.37) des caput Magazins.

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