Vor genau 30 Jahren wurde in den USA der Americans with Disabilities Act (ADA) beschlossen – dieses Gesetz garantiert Menschen mit Behinderung eine gesellschaftliche Stellung und verbindliche Rechte, von denen wir in Deutschland nur träumen können, meint Raúl Krauthausen.
Es ist leicht, sich derzeit über Amerika aufzuregen: da ist die Polizeigewalt, der Rassismus und die Todesstrafe, von Donald Trump ganz zu schweigen. USA und Menschenrechte, so zieht man hierzulande selbstgefällig Bilanz, das passe nicht zusammen. Dabei ist auch das nur ein Klischee.
Denn mit Blick auf die Menschenrechte von Leuten mit einer Behinderung, ist uns Amerika Jahrzehnte voraus. Dort haben Bürgerrechts- und Behindertenbewegungen ein Gesetz erstritten, das im Juli 1990 in Kraft trat und jegliche Benachteiligung in der Arbeitswelt und in staatlichen Institutionen verbietet. Dieses Gesetz kommt einem Hammer gleich, der vor 30 Jahren auf den Gesellschaftstisch sauste. In Deutschland und Europa suchen wir seinesgleichen vergebens.
Natürlich hat mit diesem „Americans with Disabilities Act“ (ADA) nicht eitel Sonnenschein begonnen. Auch in den USA müssen Rechte von behinderten Menschen weiterhin erstritten werden und sich im Alltag bewähren. Und dennoch ist der ADA ein Meilenstein: Seitdem sind in den USA 20 Millionen Menschen aufgewachsen, die es als selbstverständliches Recht ansehen und es so auch einfordern, dass sie Zugang haben – zu öffentlichen Transportmitteln, zu Gebäuden, Schulen, Jobs, eben zum Mainstream in der Gesellschaft. ADA hat behinderten Amerikanern ein Selbstbewusstsein verliehen, das sie zu den Staatsbürgern machte, die sie die ganze Zeit theoretisch schon waren. In Deutschland dagegen hängen wir noch in einem luftleeren Raum.
Vor dem ADA herrschte in den USA ein Bild von Behinderung vor, das von Mitleid und Inspiration gekennzeichnet war: Arme Leute, und wie sie ihr Schicksal meistern…
…nicht, dass es diese verzerrten Bilder in Amerika nicht mehr gäbe. Aber mit ADA ist eine Generation erwachsen, die Behinderung als Teil ihrer Identität einschließt, wie ein aktueller Artikel der New York Times dokumentiert. Bürgerrechte sind für sie kein Versprechen, kein vager moralischer Kompass des Staates, sondern gelebte Praxis in allen gesellschaftlichen Sektoren. Auch in der Privatwirtschaft. Wie ein Fels in der Brandung.
Eine Rechtswüste mitten in Europa
Was haben wir in Europa? Eine Lachnummer. Am ehesten mit dem ADA vergleichbar ist der „European Accessibility Act“, der vor einem Jahr verabschiedet wurde. Ein stumpfer Verwaltungsakt für die Galerie. Der ADA dagegen erwies sich als Rampe. Und der ADA wurde von einer machtvollen Behindertenrechtsbewegung erstritten, mit Demonstrationen, Blockaden und Besetzungen. Die Pioniere dieser Bewegung verstanden sich als Teil der US-Bürgerrechtsbewegungen gegen Krieg, Rassismus, Homophobie und Männerprivilegien.
Und auch dies führt uns nach Deutschland. Hier agierte die Behindertenrechtsbewegung bisher recht isoliert. Wir sind auf uns gestellt. Daher wird es Zeit, von den USA zu lernen. Dort haben die verschiedenen marginalisierten Gruppen längst begriffen, dass gemeinsam zu handeln ist. Menschen mit Behinderung engagieren sich stark bei den Demos zu „Black Lives Matter“, sie sind Teil der Anti-Armuts-Initiativen und Genderprojekte – ein intersektioneller Ansatz schält sich heraus. Davon sind wir in Deutschland weit entfernt, wo jede sogenannte progressive Bewegung noch immer ihr eigenes Süppchen kocht oder zumindest die Bürgerrechte der Menschen mit Behinderung kaum auf dem Schirm hat. Es bleibt alles recht theoretisch und wenig lösungsorientiert.
Wie man sich von Paternalismus loslöst
Dabei sieht es doch so aus: Nach wie vor ist Zugang in Deutschland weder Selbstverständlichkeit noch garantiertes Recht. Nach wie vor haben wir eher Gnadenrecht. Gebäude und Verkehrsmittel voller Barrieren? Was das alles kosten würde. Förderschulen sind oft die einzige Option? Dort ist es doch nett und viele Eltern wollen das so. Schulabschlüsse gibt es nicht? Braucht man in der Werkstatt doch auch nicht. Werkstätten sind Parallelwelten mit Kummerlohn und unterfordernder Arbeit? Aber da herrscht doch gute Stimmung. Ja, solange der Mainstream in Deutschland die Belange von Menschen mit Behinderung ausklammert und ausgelagert behandelt, stimmt die Stimmung – im Mainstream.
Daher müssen wir in den Mainstream. In den USA hat sich eine machtvolle Bewegung entwickelt, die auch den Begriff der Behinderung stolz weitet: Das sind nicht nur die Rollstuhlfahrer, sondern eben auch Leute mit Lernschwierigkeiten und psychischen Erkrankungen (in die Werkstätten steckt man diese in Deutschland eh immer mehr). Wir wachsen. Nun brauchen wir den Ansatz in andere Gruppen hinein und von denen zu uns.
In den USA ist man schon wieder weiter. Natürlich ist der ADA in Zeiten von Trump unter Beschuss. Aber diese wilde Ära ist auch eine der sozialen Bewegung, die Stimmung ist energiegeladen und tendiert gen sozialen Wechsel. Also hat der „Center for American Progress“ als erster Thinktank in Washington D.C. überhaupt ein eigenständiges Projekt ins Leben gerufen, die „Disability Justice Initiative“ (eine gute Zusammenfassung hier). Ziel ist nicht nur Verteidigung und Ausbau des ADA. Es geht den Experten um Folgendes: Wie können Bewegungen im progressiven Raum besser zusammenarbeiten, wie können multiple Diskriminierungen besser angegangen werden?
Für uns in Deutschland ist das Zukunftsmusik. Fangen wir an mit dem ersten Schritt: Erkämpfen wir unseren eigenen ADA