Über ihre Stärken zu sprechen, fällt vielen Menschen schwer – nicht nur Menschen mit Behinderungen, meint Carolin Emrich. Im Interview mit Anne Gersdorff spricht die Moderatorin vom Netzwerk Persönliche Zukunftsplanung e.V. über die Methode und deren empowerndes Potential.
Die Neue Norm: Die Zukunft planen – das macht jede*r auf die eine oder andere Weise. Was ist das besondere an dieser methodischen Herangehensweise?
Carolin Emrich: Mit dieser Methode kann man über sich selbst und über die eigene Lebenssituation nachdenken. Es geht darum, ein möglichst gutes und selbstbestimmtes Leben zu führen und die individuelle Lebensqualität zu verbessern.
Der Mensch, um den es dabei geht, soll sich nicht wie in einer Einbahnstraße im eigenen Leben fühlen, sondern weitere Optionen entdecken. Es geht sowohl um die Lebenssituation jetzt, als auch um die Situation, wie der Name „Zukunftsplanung“ schon sagt, in der Zukunft. Die planende Person hat dabei die Chance, diese Fragen nicht alleine zu durchdenken, sondern mit anderen zusammen – mit Menschen, die ihr dabei wichtig erscheinen. Sie lädt ihre Unterstützer*innen zu einem Planungs-Treffen ein. Den Kern von Zukunftsplanung macht das Bestreben nach einer inklusiven Gesellschaft aus und dass Menschen an vielfältigen Formen in dieser Gesellschaft teilhaben können.
Gibt es einen besonders passenden Zeitpunkt, an dem man eine Zukunftsplanung machen sollte?
Für Zukunftsplanungen kann es ganz unterschiedliche Momente im Leben geben – es ist dafür nie zu früh oder zu spät. Es können Ereignisse oder Lebensabschnitte sein, in denen sich eine Veränderung anbahnt oder wo eine Person etwas Großes vorhat und dafür Unterstützung braucht. Die Geburt eines Kindes kann eine gute Gelegenheit sein, über die Lebensperspektiven für dieses Kind nachzudenken.
Ein häufig zum Anlass genommener Zeitpunkt für eine Zukunftsplanung ist das Ende der Schulzeit, wenn man sich überlegt, wie es beruflich weitergehen soll. Auch das Erwachsenwerden ist ein Lebensabschnitt, um sich mit anderen Fragen zu beschäftigen: Wie will ich eigentlich wohnen? Wie will ich meine Freizeit verbringen und meine Beziehungen gestalten? Aber es kann genauso sein, dass ein älterer Mensch für sich planen möchte, weil zum Beispiel der Übergang in die Rente ansteht oder weil es um die Frage geht, wie eine Person ihre letzten Lebensjahre verbringen will.
Diese Veränderungen im Leben können manchmal auch krisenhafte Momente sein. Diese Krisen geben dann Anlass, über bestimmte Themen nachzudenken. Eine Persönliche Zukunftsplanung ist jedoch keine Krisenintervention oder ersetzt gar ein therapeutisches Setting. Es ist mir wichtig, das klar zu stellen.
Wie läuft eine Persönliche Zukunftsplanung ab?
Zunächst muss eine Person von Persönlicher Zukunftsplanung erfahren, in ihrem Leben etwas verändern wollen und neugierig auf einen solchen Planungs- und Veränderungs-Prozess sein. Dann gibt es in der Regel ein oder vielleicht auch mehrere Vorgespräche. Diese Vorgespräche finden mit einer Person statt, die sich gut in Persönlicher Zukunftsplanung auskennt und idealerweise auch als Moderator*in für einen Planungsprozess in Frage kommt.
Im Vorgespräch geht es darum herauszufinden, was das Anliegen oder Thema ist. Es geht aber auch darum, die Rahmenbedingungen zu klären:
Welcher Ort ist gut für dich, um über dich und deine Zukunft nachzudenken? Ist es dein Wohnzimmer, ist es ein Büro, ist es ein Nebenraum in deinem Lieblingsrestaurant oder ist es im Garten unter Apfelbäumen? Welche Menschen möchtest du gerne einladen, wenn es um dich und deine Zukunft geht? Wer kann dich gut beim Ideenschmieden unterstützen? Auf wen möchtest du nicht verzichten? Wie soll deine Planung ablaufen?
Die planende Person lädt dann ihre Unterstützer*innen zur Zukunftsplanung ein. Das können Leute aus der Familie oder aus dem Freundeskreis sein, aber auch aus anderen Zusammenhängen, wie dem Beruf, aus der Nachbarschaft, oder die Friseur*in oder die Fußpfleger*in. Eingeladen werden können auch Menschen, die man früher an seiner Seite hatte, wie eine*n Lehrer*in.
Neben der planenden Person und ihren Unterstützer*innen, gibt es bei der Zukunftsplanung eine*n Moderator*in und eine Person, die die Planung grafisch festhält. Gemeinsam gestalten sie einen ganzen Tag oder ein paar Stunden, in denen alle gemeinsam bestmöglich kreativ Ideen entwickeln und überlegen: Wie soll das Leben der planenden Person sein? Wie sieht ihre bestmögliche Zukunft aus?
Worauf liegt der Fokus?
Bei einem Zukunftsplanungs-Treffen spricht man vor allem über diese Themen: Wer ist die Person? Was kann sie gut? Mitunter gibt es eine Bestandsaufnahme zur momentanen Situation, um herauszufinden, was im Leben der planenden Person gerade gut läuft und was nicht gut läuft.
Ein zentrales Element im Planungsprozess ist die Frage nach Visionen und Träumen. Welche Träume und Wünsche hat die Person für ihr Leben? Was ist ihr ganz besonders wichtig? Welche Werte sind bedeutungsvoll für sie?
Schließlich kommt man zur Frage: Wie stellt sich die planende Person ihre bestmögliche Zukunft vor? An diesem Punkt wird es konkret. Die planende Person und ihre Unterstützer*innen entwickeln ein positives, möglichst genaues Bild davon, wie es einmal sein soll.
Es geht dann darum, einen Plan zu schmieden, wie dieses Ziel erreicht werden kann. Typische Fragen dabei sind: Welche Zwischen-Ziele soll es geben? Wer sind wichtige Bündnispartner*innen und Unterstützer*innen auf dem Weg? Was gibt der Person Kraft auf ihrem Weg in die Zukunft? Am Ende steht ein Aktionsplan, aus dem klar wird, wer welche Aufgabe bis wann erledigt.
Diese Gedanken könnte man sich auch alleine machen. Was ist denn das Besondere an einer Persönlichen Zukunftsplanung?
Das Besondere ist, dass man nicht nur alleine für sich im stillen Kämmerlein nachdenkt, sondern Leute einbezieht, die einem verbunden sind, die man mag. Häufig ist ganz viel Spaß, Freude und viel Kreativität mit im Spiel. So entsteht im Zukunftsplanungs-Treffen eine ganz eigene Energie. Beim Blick über den Tellerrand und durch den Einbezug ganz verschiedener Optionen, wird ein Bild von der bestmöglichen Zukunft entworfen.
Das Besondere ist auch, dass die planende Person wirklich die Hauptperson im gesamten Prozess ist und Expert*in in eigener Sache. Sie entscheidet letztendlich: Welche Ideen sind gut für mich? Welche will ich ausprobieren? Das alles geschieht mit der Grundhaltung, dass sie sich jederzeit auch wieder umentscheiden kann.
Carolin Emrich arbeitet als Referentin, Coach und Fachberaterin
sowie als Moderatorin von Planungsprozessen für Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen. Sie
verfügt über langjährige Berufserfahrung im Bereich Erwachsenenbildung sowie in der
beruflichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.
Ihr Herz schlägt für das Thema Persönliche Zukunftsplanung. Denn für sie ist mit Zukunftsplanung
immer auch die Idee verbunden, die Welt ein Stück inklusiver zu machen.
Ist Persönliche Zukunftsplanung denn nur etwas für Menschen mit Behinderungen?
Persönliche Zukunftsplanung ist als Ansatz gerade für Menschen mit Behinderungen entstanden. Aber definitiv kann Zukunftsplanung für alle Menschen geeignet sein, die über sich und ihr Leben nachdenken wollen – unabhängig vom Faktor Behinderung. Wichtig zu erwähnen ist, dass insbesondere Menschen mit Lernschwierigkeiten oft nicht zugestanden wird, dass sie selbst über ihr Leben entscheiden und dass man für sie und mit ihnen nach Möglichkeiten zur Teilhabe in der Gesellschaft und im Sozialraum sucht. Doch die Ideen und Methoden von Persönlicher Zukunftsplanung müssen aus dieser Ecke der sogenannten Behindertenhilfe unbedingt raus. Zukunftsplanung ist für jeden Menschen geeignet.
Wie ist es zur Zukunftsplanung gekommen?
Die Ursprünge liegen in den 1980er Jahren, vorrangig in den USA und in Kanada. Dort heißt es „Person Centered Planing“, also personen- zentriertes Planen. Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen haben damals sehr für ihre Rechte protestiert. Sie haben immer wieder gesagt: Wir wollen wirklich teilhaben. Wir wollen Lösungen, die individuell sind und die zu uns passen. Und wir wollen selbst bestimmen können. Darauf brauchte es Antworten, es brauchte andere Ideen. Insofern ist Persönliche Zukunftsplanung ein sehr emanzipatorischer Ansatz.
In den deutschsprachigen Raum ist Persönliche Zukunftsplanung durch Prof. Dr. Stefan Doose und Susanne Göbel in den 1990er-Jahren geschwappt. Auch Ines Boban und Andreas Hinz haben die Zukunftsplanung auch sehr im Sinne einer „Bürger*innen-zentrierten Zukunftsplanung“ geprägt und damit auch den bürgerrechtlichen Gedanken gestärkt. Denn bei der Zukunftsplanung geht es immer auch darum zu schauen, welche Rolle(n) die planende Person denn bereits hat. Wo ist sie aktiv? Wo nimmt sie auch ihre Bürger*innen-Rechte wahr? Wo kann diese Person teilgeben, also ihre Gaben in die Gesellschaft einbringen, und nicht „nur“ teilhaben?
Wie reagieren denn Menschen mit Behinderung darauf, dass sie plötzlich im Mittelpunkt stehen? Auf einmal ihre Wünsche und ihre Stärken eine Rolle spielen?
Gerade bei Menschen mit Behinderungen stelle ich fest, dass sie geprägt davon sind, dass andere ihnen sagen, was alles nicht funktioniert. Sie sprechen viel häufiger und ausführlicher über die Dinge, die nicht gut laufen, über Schwierigkeiten und Schwächen. In Zukunftsplanungs-Prozessen schauen wir ganz explizit nach Stärken, Fähigkeiten und Ressourcen. Dieser Blickwechsel ist wohltuend und zugleich ungewohnt. Häufig merken wir bei den Prozessen, dass planende Personen über sich hinauswachsen. Der Fokus auf Stärken und Ressourcen steckt einen ganz guten Rahmen, um positiv auf Zukünftiges schauen zu können.
Es ist ein guter Nährboden, wenn wir Stärken und Fähigkeiten in den Fokus nehmen, weil wir dann ganz anders Perspektiven entwickeln können. Das auszuhalten, ist mitunter schon auch eine Aufgabe für alle Beteiligten und nicht selten ist es auch mit Tränen verbunden. Wobei es meistens Tränen der Rührung und der Freude sind. So habe ich auch schon mal von einer jungen Rollstuhlfahrerin gehört: „Ich habe noch nie so viel Gutes über mich gehört.“
Woran liegt es, dass wir in dieser Gesellschaft eher auf Defizite schauen?
Wir wurden auf diese Weise sozialisiert. Sätze wie: „Eigenlob stinkt“ haben wir verinnerlicht. Sie sind hinderlich, um gut über sich und die eigene Zukunft nachzudenken. Ich erlebe häufig, dass Leute ihre Stärken und Fähigkeiten relativieren wollen.
Wenn jemand sagt „Du kannst gut kochen“, dann relativiert die angesprochene Person diese positive Darstellung mitunter gerne und sagt „Ja, ich kann gut dieses eine Gericht kochen“ und sie mag die Aussage kaum so stehen lassen. Wir neigen häufig dazu, uns zu vergleichen. Aber um sagen zu können „Ich kann gut kochen“ muss ich ja nicht gleich Sterneköchin sein.
Es gibt mittlerweile die gesetzlich verankerte Teilhabeplanung. Worin unterscheidet sie sich von der Zukunftsplanung?
Ich erkenne einige Unterschiede. Ein Unterschied ist, dass es nicht einen bestimmten Stichtag gibt, wie in einem gesetzlich oder bürokratisch vorgesehenen Verfahren. Niemand sagt „Du musst am Tag XY deine Zukunftsplanung machen.“ Bei der Teilhabeplanung gibt es eine Vorgabe, dass jemand planen muss. Bei der Zukunftsplanung ist es ein freiwilliger Prozess.
Auch stehen die Träume und Wünsche im Fokus, die die planende Person hat. Diese Träume und Wünsche dürfen auch zunächst mal unrealistisch und verrückt sein. Wenn jemand sagt „Ich möchte Astronaut*in werden“, dann würde niemand in der Zukunftsplanung sagen „Das geht aber nicht!“. Vielmehr würden wir den Traum, Astronaut*in zu sein, als Ausgangspunkt nehmen und herausfinden, was die Person an diesem Traum besonders interessiert und fasziniert. Das wirkt geradezu befördernd, noch mal ganz verrückt zu denken und den eigenen Ideen und Sehnsüchten, die man in sich trägt, Raum zu geben.
Auch der konsequent positive Blickwinkel stellt einen Unterschied dar. Es geht in der Zukunftsplanung ausdrücklich nicht um das, was die Person nicht kann. Auch wenn solche Faktoren manchmal natürlich mit berücksichtigt werden müssen, um realistische Wege zu ebnen, geht es in der Zukunftsplanung ausdrücklich um das, was die Person kann. Außerdem sind in Zukunftsplanungen ausschließlich selbst gewählte Unterstützer*innen beteiligt. Vielleicht will sie irgendeine*n formal mit sich verbundene*n Unterstützer*in nicht dabeihaben. Vielleicht soll die Mutter nicht dabei sein, dafür aber die Nachbarn, die Schwester oder auch ein Assistent aus einer früheren Wohngruppe.
Auch bei der Zielsetzung unterscheiden sich Zukunftsplanung und Teilhabeplanung: Während es bei der Zukunftsplanung um die Verbesserung von Lebensqualität und das Erreichen persönlicher Ziele geht, sind Teilhabeplanungen darauf ausgerichtet Bedarfe zu ermitteln, Leistungen zu koordinieren und zu bewilligen.
Bestenfalls bereichern sich Persönliche Zukunftsplanung und Teilhabeplanung. So kann eine Person vielleicht im Voraus einer Teilhabeplanung eine Zukunftsplanung für sich machen, um wesentliche Themen herauszufinden. Oder wenn im Rahmen der Teilhabeplanung deutlich wird, dass es weitere Themen gibt, die eine tiefere Auseinandersetzung und Planung brauchen, kann eine Persönliche Zukunftsplanung angeregt werden. Mit der in §78 SGB IX beschriebenen „Assistenz zur persönlichen Lebensplanung“ besteht die Möglichkeit, ein fachlich fundiertes Angebot zum Beispiel im Rahmen einer Persönlichen Zukunftsplanung zu gestalten.
Wenn jemand Lust hat auf so eine Zukunftsplanung, an wen muss diese Person sich wenden? Wo finde ich Personen, die mich dabei unterstützen?
Es gibt im gesamten deutschsprachigen Raum ausgebildete Moderator*innen und sogenannte Botschafter*innen, die von den Ideen von Persönlicher Zukunftsplanung berichten können. Man findet sie über das Netzwerk Persönliche Zukunftsplanung e.V. Entweder schreibt man eine Nachricht an das Netzwerk oder man sucht nach Moderator*innen, die dort auf einer Landkarte eingetragen sind.