Bis ich meine Stelle als Inklusionsbeauftragte antrat, habe ich mir nie viele Gedanken um Menschen mit Behinderung gemacht. Ich habe wenig gewusst von den Problemen, den Diskriminierungen, von einem Leben in Parallelwelten, von Förderschulen, von betreuten Wohneinrichtungen und von Werkstätten speziell für Menschen mit Behinderung. Ich wusste, in der Nachbarschaft gab es einen Jungen bzw. einen jungen Mann, nennen wir ihn Rolf. Er wurde jeden Morgen mit seinem Rollstuhl von einem speziellen Fahrzeug abgeholt und abends wieder nach Hause gebracht. Rolf hatte neben seiner körperlichen Einschränkung auch eine geistige Behinderung, mit Unterstützung konnte er etwas laufen. Für uns Kinder war er damit immer irgendwie besonders-anders. Er war den ganzen Tag weg, aber in unserer Schule war er nicht. Auch sonst hatten wir nie etwas mit ihm zu tun. Wenn wir uns nachmittags zum Spielen trafen, war er nie dabei. Wir waren Kinder. Hinterfragt, wie er seinen Tag erlebte, haben wir nie.
Die Jahre vergingen, nach der Grundschule folgte das Gymnasium, das Abitur und die Ausbildung. Natürlich ist mir immer und auch in dieser Zeit aufgefallen, dass ich nicht wie die anderen war. Äußerlich. Während andere größer wurden, blieb ich bei 1,23 m stehen. Ich war vom Sportunterricht befreit, konnte auch sonst nicht alles mitmachen. Ich hatte Schwierigkeiten mit den vielen Treppen an unserer Schule und mit den langen Gängen, die zu den Unterrichtsräumen führten. Das lag an meiner Diastrophischen Dysplasie (Kleinwuchs, kurze Extremitäten und Gelenkdeformationen). Aber es war egal. Ich hatte viele Freunde und niemand unter ihnen hat mir je das Gefühl gegeben, dass ich nicht wie sie war. Manchmal unkonventionell, aber ich war immer dabei. Nicht, weil meine Klassenkameraden und Wegbegleiter es mussten, sondern weil sie es wollten, weil es für sie selbstverständlich war. Auch später, nach der Schule, in Ausbildung und Beruf war meine Behinderung Nebensache.
Mir fiel aber auf, ich war immer die Einzige.
Aus heutiger Sicht weiß ich, dass ich großes Glück hatte. Obwohl damals noch so gut wie niemand Inklusionsgedanken hatte, haben meine Eltern es instinktiv richtig gemacht. Und… Entscheidungsträger haben keine Steine in den Weg gelegt und es ermöglicht. Ich wurde nicht geschont, ich musste das tun, was andere auch mussten. Aber ich durfte auch das erfahren, was andere erfahren haben. Und ich habe gelernt, es zu tun.
Dass viele dieses Glück nicht haben, ist mir bewusst geworden. Ich habe eine Ahnung von dem Leben der vielen Rolfs bekommen, die Förderschulen besuchen, in betreuten Wohnheimen leben, in Werkstätten arbeiten. Parallel zu der Welt, die ich kenne (oder kennenlernen durfte?). Ich möchte mir nicht ausmalen, wie mein Leben verlaufen wäre, wenn ich auch diesen Weg hätte einschlagen müssen, weil es für das Richtige gehalten wurde? Wer kann das so genau bestimmen? Wer kann so genau wissen, was das Richtige für jemand anderen ist? Und mit welcher Berechtigung? Richtig erscheint mir nur, dass Menschen, ob mit oder ohne Behinderung gleiche Chancen haben. Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben, so wie sie es möchten. Wäre es nicht ein Erlebnis für alle, wenn wir in einer Welt leben, in der wir uns gegenseitig kennen? Eine Welt, in der wir alle voneinander lernen? Dass es irgendwann egal ist, ob jemand blind, gehörlos, mobilitätseingeschränkt, nichts von alledem oder noch anders ist. Dass es irgendwann einfach der sympathische Mensch ist, mit dem man einen Kaffee trinken gehen möchte. Hören wir nicht auf, daran zu glauben, dass all das gelingen kann. Mein eigenes Beispiel sagt mir, dass es geht. Und es geht sehr viel einfacher, als es von Fachleuten dargestellt werden will.