Durch die Corona-Krise tritt eine Schwachstelle des deutschen Unterstützungssystems für Behinderte zu Tage: Der Nachteilsausgleich und das Konzept der Arbeitsassistenz. Eng damit verbunden ist auch das Telefondolmetschen für Gehörlose, welches in Deutschland als einzigem Land nach privatem und geschäftlichem Gebrauch getrennt wird. Wille Felix Zante erklärt, wie man das System ändern müsste.
Während der Corona-Krise ließ sich bei Pressekonferenzen von Regierung und Institutionen Faszinierendes beobachten. Damit ist nicht der nach und nach verstärkt eingehaltene Sicherheitsabstand gemeint, sondern vor allem der sich stetig wandelnde Einsatz von Gebärdensprachdolmetscher:innen. Anfangs kaum zu sehen, waren sie eine Zeit lang geradezu omnipräsent – zumindest online, wenn man wusste, wo man guckt. Endlich schloss Deutschland hier zu anderen Ländern auf, bei denen Gebärdensprache bei Pressekonferenzen schon lange selbstverständlich ist – dann aber im normalen Fernsehen. Ob Spanien, Italien oder Frankreich: Keine Ansprache ohne Übersetzung für Gehörlose. Eine Zeit lang schien vieles möglich, schien die Dringlichkeit endlich Hürden zu pulverisieren. Die Deutsche Gehörlosenzeitung fragt im Angesicht dieses Phänomens zu Recht: „Warum erst jetzt?“
Vorangegangen waren Proteste von gehörlosen Aktivistinnen wie Lela Finkbeiner und Julia Probst. Auch der taube Professor Christian Rathmann und die offizielle Vertretung der Gehörlosen in Deutschland, der Deutsche Gehörlosen-Bund, nutzten die Gunst der Stunde und peitschten eine stärkere Verdolmetschung durch. Das Ergebnis, also die Sichtbarkeit der Dolmetscher:innen, ist mittlerweile freilich wieder in der Versenkung verschwunden, fast zeitgleich mit den Diskussionen um Wieder-Öffnungen und Lockerungen der Beschränkungen. Allerdings schreibt das Bundespresseamt zwei Stellen für Dolmetscher:innen für Deutsch und Deutsche Gebärdensprache aus, ein deutliches Signal für Barrierefreiheit. Bei den Fernsehsendern, etwa in der ARD-Tagesschau, ist das jedoch noch nicht angekommen. Nur der Spartensender Phoenix überträgt die Dolmetscheinblendungen.
Hätte man die Energie vielleicht lieber in andere Felder stecken sollen? Der taube Unternehmer und Vorsitzende des Gehörlosenverbands München und Umgebung (GMU), Can Sipahi, schilderte bereits am 26. März auf Facebook, wie ihm außer dem Virus auch noch die deutsche Bürokratie das Leben erschwert. Der Inhaber eines Schmuckgeschäfts sah sich wie viele andere gezwungen, seine Aktivitäten herunterzufahren und wollte dazu Kurzarbeit beantragen. Nun biss sich hier die Katze in den Schwanz: Eine seiner Mitarbeiterinnen ist neben ihrer Tätigkeit als Verkäuferin auch als Arbeitsassistenz für ihn eingestellt, unterstützt Sipahi beispielsweise bei Beratungsgesprächen mit hörenden Kund:innen. 5,5 Stunden am Tag ist sie regulär angestellt, 2,5 Stunden als Arbeitsassistenz. Nun verschwindet in der Krise die Laufkundschaft, aber andere Aufgaben – Telefonate mit Kund:innen und Lieferant:innen beispielsweise, um Termine abzusagen oder das Vorgehen anzupassen – wachsen. Die 5,5 Stunden reguläre Arbeit sollen also in Kurzarbeit geschickt, die 2,5 Stunden Arbeitsassistenz aufgestockt werden.
Das Inklusionsamt lehnt ab. Denn die Arbeitsassistenz ist an das sonstige Arbeitsaufkommen gekoppelt. Schickt Sipahi die Mitarbeiterin nun in Kurzarbeit, sinken auch die Arbeitsassistenz-Stunden. Doch gerade in der Krise braucht er mehr Arbeitsassistenz. Das Inklusionsamt fordert nun von ihm, die Art der Arbeitsassistenz genau aufzulisten, denn eigentlich sei die Assistenz nur für Kundengespräche gedacht. Mitten in den Anfängen der Krise steht Sipahi nun nicht nur vor einem komplett eingestellten Geschäftsbetrieb, er muss sich auch noch die Barrierefreiheit bei der Bewältigung dieser Existenzkrise mühsam erkämpfen. Der Sachbearbeiter des Amtes unterdessen, beschreibt der taube Unternehmer, sitze in seinem Homeoffice und moniere, dass er von Zuhause keinen Zugriff auf die Akten habe und deswegen sowieso keine wirklichen Aussagen treffen könne und es sowieso für ihn auch eine harte Zeit sei.
„Ich bin dann ziemlich ausgeflippt“, so Sipahi im Facebook-Posting. „[Der Sachbearbeiter] [bekommt] weiterhin ganz normal seinen vollen Lohn und hat auch keine Behinderung und kann in großen Teilen normal weiterleben. Ich dagegen musste mein Geschäft von einen Tag auf den anderen komplett dicht machen, mit den damit einhergehenden Zahlungsnöten und bin dazu noch gehörlos.“ Einen Tag nachdem er seinem Frust auf Facebook Luft macht, kriegt er ein Fax von der Teamleitung beim Inklusionsamt. Er könne die Arbeitsassistenz doch behalten. „Sie sagen ‚könne!‘ Das hat nichts mit den versprochenen unbürokratischen Hilfen zu tun, die Unternehmer wegen Corona bekommen!“ Eigentlich braucht er eher noch mehr Assistenz, da er seine Lieferanten nur noch im Homeoffice telefonisch erreicht, sagt der aufgebrachte Unternehmer, der schon seit 26 Jahren im Geschäft ist. „Und nun die Maskenpflicht, da geht es erst recht nicht ohne Assistenz für die Kommunikation.“
Telefondolmetschung als Lösung
Wie die Corona-Krise in der Kinderbetreuung, bei den maroden Zuständen der Schulen und kaputt gesparten Krankenhäusern lange ignorierte Missstände sichtbar und drängend macht, könnte hier auch für Gehörlose ganz einfach ein gordischer Knoten der Inklusion zerschlagen werden: Indem Telefondolmetschen kostenlos würde. Das ist es nämlich in Deutschland nicht.
Beim Telefondolmetschen handelt es sich im Grunde um eine Videokonferenz zwischen drei Personen: Die eine gehörlos, die andere hörend, die dritte dolmetscht. Die gehörlose Person und die (normalerweise hörende) Dolmetschperson sehen sich, die hörende Person und die Dolmetschperson hören sich. Vereinfacht ausgedrückt videotelefoniert die gehörlose Person mit der Dolmetschperson, die wiederum mit der hörenden Person telefoniert und das Gespräch zwischen Gehörlosen und Hörenden verdolmetscht. Es ist, wie der Name sagt, Telefondolmetschen und ermöglicht Gehörlosen und Hörenden, miteinander zu telefonieren.
Damit würden nicht nur die Probleme von Unternehmern wie Sipahi gelöst, auch wäre es leichter für viele Gehörlose, sich selbstständig zu machen. Die Bewilligung der Assistenz ist nämlich einer der großen Stolpersteine in der beruflichen Unabhängigkeit. Auch die Beratung in der Corona-Krise – habe ich mich angesteckt, wie geht es jetzt weiter, was muss ich machen, komme ich für einen Test in Frage – kann nur telefonisch in Anspruch genommen werden. In Gebärdensprache gibt es nur passive Informationen: Übersetzte Texte oder Pressekonferenzen. Ein kostenloses sogenanntes „Gebärdentelefon“ beim Bundesministerium für Gesundheit (BMG) verdient den Namen nicht: Mehrmals wird es in der Anfangsphase der Krise von verschiedenen Stellen als Beratungsstelle verbreitet, doch handelt es sich hier nur um eine gehörlose Person beim BMG, welche Broschüren und Gesetzestexte auf Anfrage gebärdet.
Das Telefondolmetschen gibt es in vielen verschiedenen Ländern, von Deutschland über Frankreich bis hin zu den USA und Skandinavien. Die Bundesrepublik ist im internationalen Vergleich ungewöhnlich: Zwar gibt es zumindest die Möglichkeit des Telefondolmetschens, aber ist sie hierzulande für die gehörlosen Nutzer:innen kostenpflichtig – und, noch absurder – in berufliche und private Nutzung geteilt.
261,80 Euro Grundgebühr im Monat
Immerhin liegen die Gebühren seit 2018 für die private Nutzung bei halbwegs erträglichen 14 Cent die Minute. Vor 2018 lagen sie höher, zudem kam eine Grundgebühr von fünf Euro hinzu. Die fällt seitdem weg. Dass durch die Bundesnetzagentur nur ein einziger Dienstleister – Tess – vorgesehen ist, bleibt bestehen, auch die Trennung in berufliche und private Telefonate und die damit einhergehenden erhöhten Kosten.
Wer eine Firma gründen oder sich selbstständig machen will, muss beim gleichen Dienstleister für die gleiche Leistung 2,02 Euro die Minute zahlen, um in Gebärdensprache zu telefonieren – zusätzlich zu einer Grundgebühr von sage und schreibe 261,80 Euro monatlich. Für die Differenz kommen beim privaten Telefonat die Telekommunikationsfirmen auf, beim beruflichen Telefonieren fallen diese Kosten auf den Endnutzer, der die Kostenübernahme beim Integrationsamt beantragt.
Der Grund für die Trennung zwischen beruflicher und privater Nutzung ist – auf Umwegen – die sogenannte Ausgleichsabgabe. In Deutschland zahlen Firmen, die weniger als fünf Prozent Menschen mit Behinderung beschäftigen, eine Art Strafe. Die Summe geht als Ausgleichsabgabe an die Firmen, welche Menschen mit Behinderung beschäftigen. Daraus ergaben sich 2018 gut 576 Millionen Euro. Damit können beispielsweise Dolmetscher:innen für gehörlose oder schwerhörige Menschen bezahlt werden, aber auch die Integrationsfachdienste, welche Menschen mit Behinderung im Berufsleben unterstützen. Als das Telefondolmetschen gesetzlich im § 45 des Telekommunikationsgesetz (TKG) geregelt wurde, sollten die Kosten dafür von den Telekommunikationsfirmen übernommen werden. Diese beriefen sich nun aber darauf, dass sie bereits eine Ausgleichsabgabe zahlen würden, mit der sie bereits ihre Schuldigkeit getan hätten, und insofern nur für das private Telefonieren aufkommen müssten. Denn diese Ausgleichsabgabe finanziert eigentlich schon die Barrierefreiheit am Arbeitsplatz, und somit auch das berufliche Telefonieren für Gehörlose.
Die Ausgleichsabgabe müssen in Deutschland Arbeitgeber zahlen, wenn sie nicht genug Menschen mit Schwerbehinderung beschäftigen. Alle Arbeitgeber, die aufs Jahr hochgerechnet im Monat mindestens 20 Arbeitsplätze haben, müssen diese Abgabe zahlen. Ausgenommen sind sie nur, wenn sie mehr als fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen besetzen. Ein Arbeitgeber, der 100 Arbeitsplätze hat, davon aber keine mit Schwerbehinderten besetzt, wäre also zur monatlichen Zahlung von 3.200 Euro Strafe verpflichtet, da er 10 Pflichtarbeitsplätze unbesetzt lässt. 2018 mussten 66.164 Arbeitgeber keine Ausgleichsabgabe zahlen. Dem gegenüber stehen 102.529 Arbeitgeber, welche die Ausgleichsabgabe zahlten, weil sie nicht genügend Menschen mit Behinderung beschäftigten. 2018 kamen so 576 Millionen Euro zusammen, die an die Inklusionsämter gehen, um die berufliche Teilhabe behinderter Menschen zu fördern.
Dieser Logik ist es nun geschuldet, dass die Kostenübernahme der beruflichen Nutzung einem bürokratischen Hürdenlauf unterworfen wird. Ulrich Hase, Ex-Präsident des Deutschen Gehörlosen-Bundes, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft der Hörbehinderten und hauptberuflich seit 25 Jahren Landesbehindertenbeauftragter von Schleswig-Holstein, findet die Ausgleichsabgabe trotzdem sinnvoll: „Arbeitgeber sollten weiterhin in die Pflicht genommen werden.“ Das Problem bleibt: „Je besser die Quoten erfüllt werden, desto weniger Mittel stehen aus Zahlungen der Unternehmen zur Ausgleichsabgabe zur Verfügung, während mehr Menschen mit Schwerbehinderungen Bedarfe haben.“ Dagegen setzt er auf eine Erhöhung der Quote, so dass Firmen wieder mehr Menschen mit Behinderung einstellen müssen, um der Regelung gerecht zu werden, was „der richtige Weg sei, um finanzielle Engpässe der Integrationsämter zu vermeiden.“
Die beruflich-private Trennung aufzuheben, die im § 45 TKG festgeschrieben ist, sieht Hase als Gefahr für die Finanzierung des Dienstes, da die Verpflichtung der Telekommunikationsdienste zur Finanzierung bei einer Änderung des Paragraphen wegfallen könnte. Hase selbst hat die ursprüngliche Änderung des § 45 als Vertreter der Deutschen Gesellschaft begleitet und sich mit Betroffenenverbänden dafür eingesetzt, „dass die Kostenbeteiligung der hörbehinderten Kunden zurückgeführt wird.“ Ebenso hat er den Aufbau der Telekommunikationsdienste Telesign und Tess „vorangetrieben“, wie er sagt. Einerseits sieht er keine Belastung durch die hohen Preise in der beruflichen Nutzung für gehörlose oder schwerhörige Kunden, andererseits kann er die Hürden bei der Antragstellung verstehen: „Allerdings, und darin sehe ich einen Nachteil, sind hörbehinderte Menschen zur beruflichen Nutzung nicht selten auf langwierige Antragsverfahren gegenüber den Integrationsämtern angewiesen.“ Im Vergleich dazu können gut hörende Menschen im beruflichen Bereich ohne Einschränkungen telefonieren, so Hase.
Diesen bürokratischen Hürdenlauf kennt der gehörlose Geschäftsmann Oliver Markwirth, der 2008 versuchte eine Firma zu gründen – ironischerweise einen Telefondolmetschdienst nach US-amerikanischen Vorbild. Ihm wurden gleich bei der Gründung sechs Monate lang die beantragten Dolmetscher:innen vorenthalten und eine Förderung durch die Arbeitsagentur verwehrt. Die Dolmetscher:innen bekam er nicht, es folgte ein bürokratischer Kleinkrieg. 2012 gab er frustriert auf.
In den USA ist die Finanzierung beeindruckend simpel und transparent gelöst, weiß Markwirth aus dem Effeff: Auf jeder Telefonrechnung, ob für einen Business-Nutzer oder privat – also für jeden Anschluss, ist ein kleiner Betrag von knapp 1,50 Dollar ausgewiesen, der direkt für die Barrierefreiheit eingesetzt wird. So kommen mittlerweile jährlich 1,4 Milliarden US-Dollar (1,26 Milliarden Euro) zusammen, die komplett dafür aufgewandt werden, dass Gehörlose telefonieren können. Zum Vergleich: In Deutschland belaufen sich die jährlichen Kosten für den Telefondolmetschdienst auf gut fünf Millionen Euro. Eine auch unter Berücksichtigung der kleineren Bevölkerung ganz andere Größenordnung also. Der Anspruch der tauben Telefonierer:innen in den USA ist dadurch begründet, dass das Telefonieren barrierefrei sein muss, durch den im Ausland verehrten Americans with Disabilities Act (ADA). Dieses Antidiskriminierungsgesetz aus den 90er Jahren ermöglicht es Gehörlosen und anderen Behinderten, Behörden und Dienstleister zu verklagen, wenn sie diskriminiert werden.
Vorbild Dänemark und die USA
In Dänemark ist es noch einmal anders: Hier besteht grundsätzlich ein Anspruch auf Gebärdensprachdolmetscher:innen. Kostenlos für die Gehörlosen, finanziert durch den Staat. Das schließt auch das Telefonieren ein, deshalb ist das Telefondolmetschen hier auch kostenlos. Mit dem Vorteil, dass die Telefondolmetscher:innen auch als Ferndolmetscher:innen zum Beispiel zum Arzt mitgenommen werden können. Das ist nämlich wiederum in den USA und Deutschland verboten, weil die gesetzliche Grundlage sich auf das Telefonieren bezieht.
So oder so bleibt aber Deutschland einer Studie von 2012 zufolge das einzige Land, das beruflich und privat trennt – und das einzige Land, das dafür von Gehörlosen Gebühren erhebt.
Ralph Raule, Vorsitzender des Gehörlosenverbandes Hamburg und einer der Geschäftsführer der komplett von Gehörlosen geführten Übersetzerfirma yomma, kritisiert neben der Preisfrage und der Trennung in berufliche und private Nutzung auch grundsätzlich das System der Ausgleichsabgabe. „Das nenne ich einen ‚modernen Ablasshandel‘“, so der Hamburger. „Der Clou an dem System ist nun: Die wenigsten wissen, dass man für den Fall einer Beschäftigung behinderter Menschen erhebliche Zuschüsse bekommen kann.“ Im E-Mail-Interview sieht er das System auf wackligen Füßen gebaut: „Was aber passiert, wenn nun ein Umdenken bei den Unternehmen einsetzt und plötzlich mehr Arbeitgeber behinderte Menschen beschäftigen und sich alle aus dem Topf bedienen wollen?“ Einfach: „Dann bricht das System zusammen.“
Es muss also so oder so ein anderes Finanzierungsmodell gefunden werden, damit langfristig ein Telefondolmetschen überhaupt möglich ist – und nicht nur deshalb.
Wenn die Kostenfrage gelöst ist, bleibt das Problem: Die Dolmetscher:innenanzahl ist zu gering, die Ausbildung geht nur langsam vonstatten. Wenn man mit den USA vergleicht, wo beim größten Anbieter, Sorenson, 5.000 Dolmetscher allein im Telefondolmetschbereich arbeiten, muten die 89 Gebärdensprachdolmetscher:innen, die für Tess arbeiten, wie ein schlechter Witz an. Der Dolmetscherverband RID in den USA spricht sogar von bis zu 10.000 Dolmetscher:innen allein für das Telefondolmetschen. Um die Nachfrage auf US-Niveau bedienen zu können, wären rein rechnerisch gut 2.500 Dolmetscher:innen allein fürs Telefonieren nötig. Bundesweit gibt es nach 2019er Schätzungen aber gerade mal 800 Gebärdensprachdolmetscher:innen in Deutschland. Es müssten also viel mehr ausgebildet werden.
Doch nicht nur beim Telefonieren – in allen Bereichen werden mehr Dolmetscher:innen benötigt, denn aktuell finden mehrere Rechtsstreitigkeiten im Hinblick auf eine Basisversorgung mit Dolmetscher:innen im Sinne des Grundgesetzes statt: Um Kostenübernahme in Schulen für Hörbehinderte, wo Lehrer:innen nicht gebärden können, um das Dolmetschen im Krankenhaus, wo sich erste Erfolge abzeichnen, für eine klare Kostenübernahme im stationären Bereich. Der ohnehin starke Mangel an zum Dolmetschen qualifizierten Personen dürfte bald auch im telefonischen Bereich verschärft werden: Denn wie eine Anfrage der GRÜNEN im Herbst 2019 an die Bundesregierung ergab, zeichnet sich für 2020 die Umsetzung einer EU-Vorschrift ab: Telefonieren für Gehörlose könnte kostenlos werden.
Corona-Krise sorgt für Veränderung
Auf die Nachfrage, wie es um die Gleichstellung beruflicher und privater Telefonate steht, wird vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie ausweichend geantwortet: Das würde noch verhandelt. Die Chance in der Coronakrise könnte nun genutzt werden: Can Sipahi ruft andere taube und schwerhörige Unternehmer:innen und Arbeitnehmer:innen auf, ihrem Ärger Luft zu machen und Druck auszuüben auf die Ämter, welche die Zuschüsse bewilligen. Auch wenn das Telefondolmetschen nicht für jede:n die perfekte Lösung ist – manche bevorzugen persönliche Arbeitsassistenz, weil die Menschen hier eingearbeitet werden können und die Dolmetscher:innen nicht ständig wechseln – so könnte es doch für Notfälle hilfreich sein. Es ist ein Wunder, dass hier nicht mit der gleichen Effizienz und Verve an einem richtungsweisenden System gearbeitet wird, wie es beispielsweise bei der Organisation des telefonischen Notrufs der Fall ist.
Wenn der Schalter nun umgelegt wird und das Telefonieren kostenlos ist, müsste nur noch die Dolmetschausbildung ordentlich angekurbelt werden und das Internet in Deutschland ausgebaut werden. Denn noch ist es zu langsam und zu sehr ein Flickenteppich, sowohl im Festnetz als auch mobil. Der Flickenteppich verhindert – z.B. 2019 in Brandenburg – immer noch den ganz normalen akustischen Notruf: So konnten 2019 Waldbrände und Unfälle nicht gemeldet, Feuerwehr und Notarzt nur verspätet alarmiert werden. Vielleicht ist es auch das, was daran hindert, das Telefondolmetschen für alle verfügbar und kostenlos zu machen: Vermutlich würden dann ganz andere Probleme sichtbar und drängend. Auch so kommt der Anbieter Tess in Bedrängnis: Das gestiegene Aufkommen während der Coronakrise führt in Kombination mit Dolmetscher:innen, die auf ihre Kinder aufpassen müssen, zu Engpässen. Der Anbieter bittet in einer Mail an seine Kund:innen um Verständnis. Wie wird das dann erst, wenn das Telefonieren einmal kostenlos wird? Auch hier findet sich ein Bereich, in dem als Folge der Coronakrise nachhaltig gehandelt werden muss: Es müssen noch mehr Standorte zur Dolmetscher:innenausbildung aus dem Boden gestampft werden.