Wenn Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung in eine forensische Psychiatrie kommen, dann soll ihnen geholfen werden. Wird aber nur auf die medizinischen Umstände und nicht auf die Barrieren in den Einrichtungen geschaut, verschlimmert sich die Lage oft. Über die aktuelle Situation von Betroffenen schreibt eine Psychologin, die Arbeitserfahrung in der forensischen Psychiatrie hat und gerne anonym bleiben möchte.
Menschen mit geistiger Behinderung und Aggressionsproblemen sind häufig in forensischen Psychiatrien zu finden. Gründe für ihre dortige Einweisung sind oftmals Körperverletzungsdelikte. Denn wenn ein schuldunfähiger Mensch Straftaten begeht, angezeigt und verurteilt wird, ist er nach § 20 des deutschen Strafgesetzbuches im Maßregelvollzug, also einer forensischen Psychiatrie, unterzubringen. Im Gesetzestext des § 20 StGB lautet es folgendermaßen:
„Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.“
§ 20 Strafgesetzbuch
Dass der Begriff „Schwachsinn“, wie ihn Jurist*innen noch heute verwenden, schon lange einer kritischen Reflektion unterzogen gehört und im Gesetzestext abgeändert werden muss, steht natürlich außer Frage. Unter sogenanntem „Schwachsinn“ werden Menschen mit unterschiedlichsten Problemlagen und psychischen Störungen subsumiert. Beispielsweise Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind und im Wahn Straftaten begangen haben, Menschen mit Persönlichkeitsstörungen, die ihre Umwelt verzerrt wahrnehmen, und Menschen mit geistiger Behinderung oder mit Behinderung der Sinne, wie gehörlose Menschen mit psychischen Störungen.
Ein defizitärer Blick auf Behinderung
Der Auftrag des Staates an die forensische Psychiatrie ist ein doppelter: einerseits die Therapie der Patient*innen, andererseits der Schutz der Allgemeinbevölkerung vor weiteren Straftaten, die von den Patient*innen ausgehen könnten. Wer die Welt nicht nur in Schwarz und Weiß oder Gut und Böse einteilt, sondern auch die Schattierungen dazwischen wahrnimmt, der weiß jedoch, dass die Dinge oftmals komplexer sind und Lösungen ganz entscheidend von der jeweiligen Betrachtungsweise abhängen. Und Perspektiven auf Menschen mit geistiger Behinderung, die in der forensischen Psychiatrie untergebracht sind, gibt es viele.
Der Lebensalltag von Menschen mit geistiger Behinderung wird auch heute noch durch fehlende Inklusion und viele Barrieren erschwert, die besonders durch eine defizitorientierte Sicht auf Menschen mit geistiger Behinderung verstärkt werden. Und vor allem in medizinischen Kontexten wird dieser defizitäre Blick deutlich. In forensischen Psychiatrien arbeiten verschiedene Berufsgruppen aus den Bereichen Pflege, Medizin, Psychologie, Soziale Arbeit aber auch Ergo-, Musik- und Sporttherapie zusammen. All diese Gruppen haben innerhalb des Maßregelvollzuges natürlicherweise unterschiedliche Sichtweisen auf die Patient*innen, ausgehend vom jeweiligen beruflichen Standpunkt. In den Kliniken herrscht jedoch vorwiegend ein streng medizinisches Modell von Behinderung vor. Soziale Aspekte werden selten in Betracht gezogen, und Behinderung wird als ein im Menschen angelegter oder durch äußere Umstände hervorgerufener Defekt angesehen. Das dort arbeitende Personal spricht von „Minderbegabten“ oder „Hirnorganikern“. Zwar sind auch Heilpfleger*innen in der Forensik tätig, allerdings dominiert das medizinische Denken die Strukturen.
Bei der psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlung von geistig behinderten Menschen kommt es sehr stark darauf an, mit welcher Haltung Menschen mit geistiger Behinderung begegnet wird. Wird geistige Behinderung schon per se als pathologisch angesehen und werden dadurch gegebenenfalls psychische Störungen überhaupt nicht wahrgenommen oder fehldiagnostiziert, so steht dies der Therapie der Menschen deutlich entgegen. Vorurteile und Stigmata werden vom Personal nicht unbedingt reflektiert.
Soziale Barrieren im Klinikalltag
Psychotherapeut*innen und Psychiater*innen sind es beispielsweise gewohnt, traumatische Erkrankungen bei Patient*innen verbal zu erfragen und unter Umständen damit überfordert, wenn eine gemeinsame kommunikative Ebene über die Lautsprache nicht vorhanden und daher kein sprachlicher Austausch über traumabedingte Symptome möglich ist. Posttraumatische Belastungsstörungen oder andere Ursachen für Aggression, Wut und Gewalt, die von Menschen mit geistiger Behinderung ausgehen, bleiben unentdeckt und werden infolgedessen auch nicht diagnostiziert.
Bei Menschen mit geistiger Behinderung werden Aggressionen dann oftmals Mängeln in der Persönlichkeit zugeschrieben, die in ihrer geistigen Behinderung begründet liegen. Dass es sich womöglich um eine Person mit Autonomiekonflikt handelt, deren Grenzen in der Vergangenheit andauernd überschritten wurden, wird hierbei nicht gesehen. Die Aggression wird als eng mit der geistigen Behinderung verknüpft verstanden, und systemische, psychodynamische sowie lerngeschichtliche Hintergründe werden bei Menschen mit Behinderung nicht unbedingt eruiert. So entsteht ein sich dauerhaft verfestigender Prozess, bei dem Menschen mit Behinderungen bei aggressiven Ausbrüchen oder auch präventiv in ihre Zimmer eingesperrt oder hospitalisiert werden. Das Problem wird weiter chronifiziert, und niemand kommt auf die Idee, dass soziale Barrieren von Seiten der Klinik selbst maßgeblich an diesen Problemen beteiligt sind.
Auf Wut und Aggression folgt die Einsperrung
Menschen mit Behinderung sind dann in einem ewigen Kreislauf des Maßregelvollzuges aus Geringschätzung und Nicht-Verstanden-Werden gefangen, woraufhin sie wieder mit Wut und Aggression reagieren. Die Klinik ihrerseits antwortet mit Einsperren und Änderung der sedierenden Medikamente auf das herausfordernde Verhalten. Mit Menschen mit geistiger Behinderung wird nicht auf Augenhöhe kommuniziert, ihnen wird teilweise sogar die Fähigkeit zur Kommunikation abgesprochen, wenn sie sich nicht verbal und in vollständigen Sätzen ausdrücken können. Dass jedoch das Zeigen von Aggressionen eine Form der Kommunikation sein kann, wenn alle anderen Kommunikationswege abgeschnitten sind, wird nicht beachtet. Das Personal müsste sich tiefgreifender mit sozialen Barrieren beschäftigen, um Menschen mit geistiger Behinderung zu verstehen und die Situation empathisch, aus Sicht der Person selbst, zu betrachten.
Es steht außer Frage, dass der Job aller, die in der forensischen Psychiatrie tätig sind, harte Arbeit ist und, dass die dort Arbeitenden häufig großer Gewalt ausgesetzt sind, die sie teilweise auch selbst zu spüren bekommen. Dieser Text will deshalb nicht mit dem Finger auf einzelne Berufsgruppen zeigen und Schuld zuweisen, sondern darauf hinweisen, dass der ewige Gewaltkreislauf durchbrochen werden kann, wenn soziale Barrieren erstmals als solche wahrgenommen werden, um diese im nächsten Schritt abzubauen. Hierzu wäre jedoch nötig, das eigene Handeln kritisch zu reflektieren.
2 Antworten
Das stimmt leider. Ich habe eine große Schwester, die als Kind in eine so genannte “Anstalt ” verbracht wurde, weil bei ihr Epilepsie diagnostiziert wurde. Da man in den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts noch nicht wusste, wie sie behandelt werden sollte, musste meine Schwester mehrere Jahre dort verbringen. Sie kam wieder nach Hause als die “Nummer 158,” war davon überzeugt, daß sie wertlos war und gesagt bekommen musste, was sie zu tun und zu lassen habe. Und das, obwohl sie als meine Schwester über die selben Faehigkeiten wie ich verfügte. Inzwischen hat sich davon befreit und ist sehr selbständig geworden.
Aber das ist ein Beispiel dafür, was die Medizinalisierung mit Menschen macht.
Warum verwendet Ihr ein Foto, das ganz offenbar nicht dazu passt. Nur um zu sagen: So sieht es aber nicht aus! Nur für die Clicks. Schämt Euch!