Am 25. März startet bei der Streamingplattform Netflix ein sensationeller Dokumentarfilm: „Crip Camp“. Er zeigt ein Sommerlager in den USA der Siebziger, aus dem wichtige Schritte für die Behindertenrechtsbewegung folgten, meint unser Autor Jan Rübel.
Online-Wörterbücher sind höflich. Das Wort „crip“ wollten sie mir partout nicht übersetzen. In älteren, papiernen Exemplaren findet man dafür das Wort „Krüppel“. Und in der guten Tradition, diskriminierende Bezeichnungen einfach umzudrehen, sie mit Humor aufzufüllen und zu kontern (man denke an die Bremer Krüppelgruppe vor über 40 Jahren), haben Filmemacher*innen ein tolles Werk realisiert, auf dass ich gespannt warte: „Crip Camp“, sozusagen „Krüppel-Camp“, war der Hit beim diesjährigen Sundance Festival im Februar, dem wichtigsten US-Filmfestival für unabhängige Produktionen. Bei diesem Film schießen mir viele Ausrufezeichen durch den Kopf – so viele Gedanken, dass es Mühe tut sie zu sortieren.
Der Film liefert nicht nur eine historische Fußnote. Er legt Zeugnis ab über eine Selbstermächtigung von Teenagern mit Behinderung, und wie daraus die mächtige Behindertenrechtsbewegung in Amerika heranwuchs. Seit den späten Sechzigern des vorigen Jahrhunderts bis in die Siebziger hinein gab es in den USA nämlich nicht nur ein Woodstock: Nur eine Autostunde vom legendären Open-Air-Festival der Hippie-Bewegung entfernt, auch nördlich von New York, kamen Teenager zu einem Lager zusammen, in dem sie den Sommer verbrachten. Organisiert wurde es von Hippies, und in den Leitungen, wenn man sie als solche bezeichnen mag, gab es auch Menschen mit Behinderung. „Camp Jened“ nannte man sich. Ursprünglich war es von Familien gegründet worden, in denen Kinder mit Polio lebten. Schnell aber entwickelte es sich zu einem Anziehungspunkt für Teenager mit allen möglichen Behinderungen.
Ein historischer Filmschnipsel zeigt, wie eine junge Frau in die Kamera lacht und ruft: „Komm ins Camp Jened und finde dich selbst!“ Und Jim LeBrecht, Co-Filmregisseur von „Crimp Camp“, der damals selbst als Teenager dort seine Sommer verbrachte: „Es war ein Utopia. Als wir dort waren, gab es keine Außenwelt.“
Sehen, was geht
Denn die Leute wurden empfangen, wie sie waren. Sie wurden wie Teenager behandelt, nicht wie Patient*innen. Sie hingen ab, flirteten rum, rauchten auch mal einen Joint, oder zwei. Das Camp zeigte, wie einfach das Leben sein kann, wenn die Gedanken nicht um eine individuelle Behinderung kreisen, sondern darum, wie das Leben entsprechend gestaltet werden kann. Wo man nicht über Barrieren nachdenken muss, weil es sie nicht gibt. Der Film zeigt all dies. Aber er weist auch in die Zukunft: LeBrecht und Co-Regisseurin Nicole Newnham stießen auf historische Filmaufnahmen aus dem Camp und kombinieren sie mit Zeitzeug*innen-Interviews.
Denn wer damals den Sommer im Camp Jened verbrachte, erlebte nicht nur Ermutigung, sondern tankte auf. Sah, was alles geht. Und was draußen, außerhalb des Camps, wegen purer Ignoranz behindert wird; das Camp der Crips wurde zu einer Brutstätte der Behindertenrechtsbewegung. Wut wurde kreativ. Nicht umsonst war Judy Heumann, eine Veteranin der Bewegung, im Camp aktiv gewesen. Und es waren ehemalige Camp-Besucher*innen, die 1977 das US-Gesundheitsministerium stürmten und 23 Tage lang aushielten; eine Sektion des so genannten „Rehabilitation Act“, welche die Rechte von Menschen mit Behinderung definierte, war immer wieder aufgeschoben worden – unter dem Eindruck der Besetzer*innen wurde diese Sektion endlich in Kraft gesetzt.
Natürlich waren die Siebziger überhaupt ein rebellisches Zeitalter. In Amerika probierten nicht nur Hippies alternative Lebensformen aus, es gab die Frauenbewegung, die LGBT-Bewegung und die Black Panther. Einen Teil dieser Befreiungsgruppierungen, die alle unter dem Schirm der Menschenrechte agitierten, machte die Behindertenrechtsbewegung aus. Nur erinnert sich die Öffentlichkeit an diesen Teil weniger. Umso wichtiger ist dieser Film. “Wir sprachen miteinander über die Welt um uns herum”, erinnert sich LeBrecht an das Campleben, “und bald redeten wir über unsere Befreiung, darüber, was wir nicht tun können und warum, und: ‘Was können wir deswegen unternehmen?’” Zeit also für eine Erweiterung, oder wie es Heuman in einem Essay jüngst schrieb: “Es ist nicht länger hinnehmbar, wenn keine Frauen mit am Tisch sitzen. Es ist nicht länger hinnehmbar, wenn es keine People of Color am Tisch gibt. Aber keiner denkt daran zu schauen, ob der Tisch barrierefrei ist.”
Eine einzige Selbstermächtigung
Was ich bisher von diesem Film erfahren habe, macht Gänsehaut. Ich selbst bin als Teenager zu den Jahrestagungen der Deutschen Gesellschaft für Osteogenesis gefahren. Revolutionär war es dort nicht gerade. Es ging immer um Behinderung, um die Herausforderungen und Probleme, um neue Forschungsergebnisse. Alles gut und wichtig, aber nicht gerade das, womit ein Teenager ausschließlich seinen Kopf füllen wollte. Aber es gab auch dort die Momente, in denen ich mit anderen Glasknochenbesitzer*innen abhing und Spaß hatte. Das Camp Jened muss dies im Konzentrat gewesen sein, eine einzige Selbstermächtigung.
Vielleicht brauchen wir diesen Jened-Geist der Siebziger wieder? Der Patient*innenblick auf Behinderungen, der Paternalismus und die menschenunwürdigen Zustände in Schule und Berufsleben gibt es doch noch immer. In den Siebzigern wurden Strukturen in Frage gestellt. Heute arrangiert man sich mit ihnen.
Für mich mit dem Geburtsjahrgang 1970 ist es total spannend, auf Spurensuche ins Deutschland der Siebziger zu gehen: Was ich aus Gesprächen und Lektüre weiß, lehrt: Ja, nicht nur vielleicht brauchen wir einen Jened-Geist. Damals waren die Bedingungen für Menschen mit Behinderung noch krasser als heute, und das erklärt die Heftigkeit ihrer Reaktionen. Und dennoch sind sie mit ihrer Politisierung Vorbilder bis heute.
Behindertenrechtsbewegung in Deutschland
Einen “Startschuss” für die Behindertenrechtsbewegung in Deutschland zu erkennen, fällt schwer. Aber erste Anfänge gab es parallel zur Hochzeit des Camp Jened in den USA: Anfang der Siebziger organisierte der Aktivist Gusti Steiner gemeinsam mit dem Journalisten Ernst Klee Aktionen wie Blockaden von Straßenbahnen oder das Aufbauen illegaler Rampen; vorher hatten sich erste Clubs gegründet, in denen sich Jugendliche mit Behinderung trafen. Der Gegenwind war heftig, immerhin war die “Euthanasie” der deutschen Nazi-Regierung nicht lange her gewesen, und der Mut der Aktivist*innen war nicht weniger stürmisch. Leute aus der oben erwähnten Bremer Krüppelgruppe ketteten sich im Rathaus an und begannen einen Hungerstreik – es ging um Kürzungen zum Organisieren ihres Alltags (kommt euch das bekannt vor?). Dann kam es 1980 zu einem mobilisierenden Skandal: Das Frankfurter Landgericht sprach einer Klägerin “Schadenersatz” zu, weil sie bei ihrem gebuchten Urlaub in Kontakt mit Menschen mit Behinderung gekommen war: „Es ist nicht zu verkennen, dass eine Gruppe von Schwerbehinderten bei empfindsamen Menschen eine Beeinträchtigung des Urlaubsgenusses darstellen kann“, hieß es im Urteil.
Ja, das muss man nicht kommentieren, sondern sich nur auf der Zunge zergehen lassen, eben genussvoll. Jedenfalls hatte dieses Urteil Demos zur Folge, der Zorn entfachte sich. Und als die UN im Jahr 1981 das “Jahr der Behinderten” ausrief, rechneten die da oben sicherlich nicht mit der Undankbarkeit der Objekte solch eines Jahres: Die schönen Veranstaltungen der “Kümmerer” wurden gestört, um auf fehlende Rechte aufmerksam zu machen. Höhepunkt war im gleichen Jahr das “Krüppeltribunal”, als sich im Dezember 400 Leute in Dortmund trafen – in Anlehnung an das “Russel-Tribunal”, welches die Menschenrechtsorganisation “Amnesty International” seit den Sechzigern über Kriegsverbrechen abhielt.
Die Forderungen des Krüppeltribunals laut einem Bericht von Mondkalb, einer “Zeitung für das organisierte Gebrechen”: “Ein Stop der Aussonderung durch Heime, Werkstätten, Rehabilitationszentren und Psychiatrien, gleicher Zugang zu Gebäuden, Bussen und Bahnen und mehr Gelder für Hilfsmittel. Skandale der Pharmaindustrie sollten aufgedeckt werden. Erstmals wurde auch die Situation behinderter Frauen thematisiert, – dass sie besonders von sexualisierter Gewalt betroffen sind, war bis dahin kaum bekannt.” Tja, uns kommt jedenfalls auch heute einiges davon bekannt vor, nicht wahr?
Wieder lauter werden
Heute ist die Behindertenrechtsbewegung in Deutschland anders organisiert. Es wurde auch viel erreicht, allein in der Gesetzgebung – durch Bewegungsdruck. Und heute gibt es uns ebenfalls, als Netzwerk von Aktivist*innen. Nur mit dem laut werden, wie es damals war, haben wir es nicht so. Wann gab es die letzte Blockade, den letzten Sit-In? Wann wurde die letzte Sitzung von “Wohltäter*innen” und Paternalist*innen gestört?
Da könnte “Crip Camp” uns eine Verheißung sein. Denn der Film weist einen Weg auf, zu mehr Mut und Wut, zu einem kräftigeren „Was geht?“. Auch setzt er einen Kontrapunkt zu seinem eigenen Medium, dem Film: Wie viele Rollen in Filmen und Serien werden mit Menschen mit Behinderung besetzt? Selbst Parts, in denen eine Behinderung dazugehört, werden von Schauspieler*innen übernommen, die sich dann „hineindenken“; bei Crip Camp sind Menschen mit Behinderung Akteur*innen vor und hinter der Kamera. Es gibt ja nicht wenige. Und dennoch sind sie krass unterrepräsentiert. Und bei Crip Camp dienen die Akteur*innen nicht einem Inspirationsporno, sondern erzählen schlicht ihre Geschichten.
Da ist es kein Zufall, wer diesen Film produziert hat: Drei Jahre nachdem sich 2015 ein Präsidentschaftskandidat namens Donald Trump lustig über einen Journalisten machte, der eine Muskelrückbildung hat, Trump äffte ihn nach – drei Jahre später also, als dieser Trump es doch tatsächlich ins Amt geschafft hatte, hat sein Vorgänger Barack Obama gemeinsam mit seiner Frau Michelle 2018 eine Filmproduktionsfirma gegründet: Higher Ground realisiert nun sieben Filme für Netflix, und einer von ihnen ist „Crip Camp“. Wenn es also momentan nicht gerade das Weiße Haus ist, das wir uns schnappen können, dann ist es Zeit für ein neues Crip Camp.