Differenz ist Wissen – Hearing Cyborg Manifest

Mixed-Media Collage aus Farbklexen, transparenten, weißen Stoffen und zwei Fotografien eines Kindes und einer Frau, die jeweils hinter einer runden Glasglocke sind. Bildhintergrund ist ein menschlicher und ein Roboterarm, die sich hinter dem Bild treffen.
Lesezeit ca. 8 Minuten

Was manche als Defizit lesen, ist für andere ein Ort von Wissen. In ihrem Hearing Cyborg Manifest formuliert Dr. Inga Scharf da Silva eine radikale Gegenposition zur Reparaturlogik: Differenz muss nicht überwunden, sondern akzeptiert werden. Der Text zeigt, wie Menschsein sich genau dort entfaltet, wo Eigenwahrnehmung und gesellschaftliche Zuschreibung aufeinanderprallen – und warum das Dazwischen mehr weiß als die Norm.

Ich bin ein vollständiger Mensch.

Ich bin ein Cyborg.

Ich bin ein Schwellenwesen.

Meine Normalität

Ich habe nie gewusst, wie es klingt, „normal“ und angeblich vollständig zu hören. Für mich war meine Hörwahrnehmung immer selbstverständlich und schön – und kein Defizit, sondern meine Art, mit der Welt in Kontakt zu treten. Ich war ein Kind, dem man sagte, es sei „nicht so schlimm“, obwohl ich mich nie beklagt habe und vielleicht habe ich dieses Urteil zu lange geglaubt. Ich dachte, alle hören wie ich. Dass andere Menschen sich unterhalten konnten, ohne mühsam Klangfragmente zusammenzusetzen, Gesten zu lesen und gleichzeitig Lippen zu lesen, merkte ich erst viel später.

Und dennoch empfand ich mich nie als unvollständig. Die Idee der Reparatur, des Wunschs nach „Wieder-ganz-Machens“, kam von außen, weil ich immer schon so war, wie ich bin und es keinen Zustand gibt, zu dem ich zurückkehren konnte. Hörgeräte dagegen gehören für viele in meiner Umgebung zu meiner angeblichen Normalität. Für mich sind sie ein Werkzeug; für andere scheinen sie die Bedingung dafür zu sein, dass ich als vollwertige Gesprächspartnerin gelte. Ohne Technik, so habe ich es oft erlebt, verrutscht mein Status von der Kollegin zum Hindernis, von der Expertin zur Ausnahmeerscheinung.

Ich empfinde mich als vollständig, während mein Umfeld meinen Körper aber als reparaturbedürftig oder zumindest reparaturkompatibel liest. Diese Spannung ist kein individuelles Missverständnis, sondern verweist auf eine gesellschaftliche Ordnung, die Abweichung wie einen Fehler im System behandelt.

Eigenwahrnehmung vs. Fremdwahrnehmung

Ich selbst bin einfach ein Mensch. Andere aber brauchen mich als Cyborg; also als eine Person, deren Körper erst mit teurer, hochentwickelter Technologie als funktional gelesen werden kann. So entsteht ein Spannungsfeld zwischen zwei sich scheinbar ausschließenden Positionen: Mensch und Cyborg. Genau dieses Paradox macht den Kern meines Manifests aus. Ich empfinde mich als vollständig, während mein Umfeld meinen Körper aber als reparaturbedürftig oder zumindest reparaturkompatibel liest. Diese Spannung ist kein individuelles Missverständnis, sondern verweist auf eine gesellschaftliche Ordnung, die Abweichung wie einen Fehler im System behandelt.

Der Drang zu Reparieren – ein gesellschaftlicher Reflex

In vielen Debatten über Behinderung taucht die Idee der Reparatur als Selbstverständlichkeit auf. Man kann sie beobachten, wenn Assistenztechnologien gefeiert werden – nicht, weil sie Lebenswelten öffnen, sondern weil sie Menschen näher an eine Norm heranführen, die niemand wirklich begründet. Hörgeräte, Brillen, Prothesen, Implantate gelten als Werkzeuge der Optimierung und der Problemlösung. Ein kulturelles Narrativ, das dem zugrunde liegt, lautet: Es war kaputt – jetzt funktioniert es wieder.

Doch was ist, wenn der Körper selbst die Reparatur nicht braucht?

Ich fühle mich weder repariert noch verbessert. Ich fühle mich schlicht anders – und diese Differenz ist kein technisches Problem. Aber die Reparaturlogik ist mächtig, da sie die Aufmerksamkeit weg vom gesellschaftlichen Rahmen hin auf den einzelnen Körper verschiebt. Nicht die Barrieren sollen verändert werden, sondern der Mensch, der vor ihnen steht.

Schwerhörig als Nicht-hörig-sein

Doch diese Logik greift zu kurz. Sie übersieht, dass Abweichung nichts ist, das korrigiert werden muss, sondern etwas, das Wissen hervorbringt. Aus dieser Erfahrung heraus habe ich den Begriff der SchwerHörigkeit geprägt – bewusst mit großem H –, der auf meinen Text „Über die schwere Hörigkeit“ (2015) zurückgeht. Er entstand aus einer Irritation über eine sprachliche Zuschreibung, die Hörigkeit unterstellt, wo es um Nicht-Hören geht und bezeichnet keine Sinnesbeeinträchtigung, sondern eine Haltung: die Abwesenheit von Gefügigkeit gegenüber gesellschaftlichen Erwartungen.

„Mein Leben lang wurde mir gesagt, dass ich, weil ich nicht gut hören kann, schwerhörig sei. Ich hielt das immer für ein Kompliment, wobei mir nie klar war, inwiefern sich die von außen mich Zuschreibenden bewusst waren, was sie doch so offensichtlich taten: mir ein eigenes und widerständiges Denken zuzusprechen! Die Abwesenheit von Hörigkeit!“

SchwerHörigkeit steht für ein eigensinniges Wissen aus dem Dazwischen; aus fragmentarischem Hören, Missverstehen und Neu-Zusammensetzen. Sie ist eine epistemische Praxis beziehungsweise eine Form von Widerstand gegenüber der Erwartung reibungsloser Anpassung.

Das Imperfekte ist nicht eine biologische Realität, sondern ein sozialer Blick.

Cyborg – Befreiung oder Anpassung?

Wenn Donna Haraway vom Cyborg als hybrider Figur spricht, die Kategorien auflöst, dann zeigt meine Erfahrung eine andere Realität. Die Gesellschaft denkt Cyborgs nicht als Befreiung, sondern als Anpassung. Ein Körper, der ohne Technik nicht „funktioniert“, soll mit Technik funktionieren. Das ist keine Auflösung von Grenzen, sondern ihre Stabilisierung.

In der Ausstellung „Der imperfekte Mensch. Vom Recht auf Unvollkommenheit“ im Deutschen Hygienemuseum Dresden 2000/2001 wurde sichtbar, dass der Drang, den Menschen zu normieren, kulturell tief verankert ist. Was als „imperfekt“ markiert wird, kommt nicht aus dem Körper selbst, sondern aus den Vorstellungen, die wir gesellschaftlich darüber haben. Das Imperfekte ist nicht eine biologische Realität, sondern ein sozialer Blick.

Zwischen Technik und Identität – wer definiert den Menschen?

Ich empfinde mich nicht nur als nicht-hörende Person und auch nicht nur als Cyborg. Ich bin ein Schwellenwesen, das in beiden Welten lebt: technologisch hörend und zugleich in meiner eigenen Stille. Ich bin ein nicht hörender und nicht höriger Mensch – vollständig, verkörpert, identisch mit mir selbst. Indem ich meinen Körper als Ort der Erkenntnis annehme, verstehe ich, dass Wahrnehmung nie neutral ist. Wahrnehmen ist ein aktives und relationales Tun, kein passives Registrieren.

Gleichzeitig bin ich ein Cyborg für die Welt. Die Technik verändert nicht meine Identität, sondern nur die Art, wie ich in einer lautorientierten Welt navigiere. Sie entsteht vielmehr aus der Spannung zwischen Mensch und Technologie, zwischen Zuschreibung und Selbstsein. In diesem Sinne ist mein Hearing Cyborg Manifest ein radikaler Text im Arendtschen Sinn, da es an die Wurzel der Frage geht, wer als Mensch gilt, wer als reparaturbedürftig markiert wird und wer in dieser Ordnung überhaupt sprechen darf. Unsere Gesellschaft will reparieren, was abweicht, anstatt zu verstehen, was das Abweichende weiß.

Ich bin ein vollständiger Mensch.

Ich bin ein Cyborg.

Ich bin ein Schwellenwesen.

Mein Cyborg-Sein ist relational, nicht essenziell, weil ich kein Cyborg an sich bin, sondern in den Augen anderer zum Cyborg werde. Erst die Beziehung zu anderen macht mich zum Cyborg. Doch meine Identität entsteht nicht an der Schnittstelle von Mensch und Maschine, sondern an der Schnittstelle von Mensch und Norm. Ich bin nicht hybrid, ich bin situiert.

Da meine Identität an der Schnittstelle zwischen nicht-hörender Menschlichkeit und technologisch unterstütztem Hören verläuft, habe ich dieses Manifest als einen radikalen Text formuliert, weil er nicht an Symptomen arbeitet, sondern an der Wurzel der Zuschreibungen, die Körper, Technik und Identität strukturieren.

Wenn wir beginnen, Differenz nicht als Störung, sondern als verkörperte Wissensform zu sehen und den Normen ihre Sprengkraft nehmen, schaffen wir neue Weltbezüge in der Akzeptanz des Dazwischen und verändert sich nicht der Körper, sondern die Gesellschaft, die ihn betrachtet.

Reparatur als Missverständnis – und als Chance

Vielleicht müssen wir uns fragen, was wir wirklich reparieren wollen: den Körper oder unser Verständnis von ihm?

Der Wunsch nach Reparatur ist oft kein medizinischer Impuls, sondern ein kultureller, gespeist durch die Idee, dass nur bestimmte Körper „richtig“ sind. Doch wenn wir Reparatur neu denken, nicht als Korrektur, sondern als gegenseitige Anpassung, verändert sich die Perspektive. Dann muss Technik nicht den Körper angleichen, sondern kann Lebenswelten öffnen.

Während Brillen sichtbar und gesellschaftlich längst normalisiert sind, weil niemand sie als Defekt, sondern als Variation liest, ist das Hören zutiefst sozial. Es strukturiert Gespräch, Beziehung und Zugehörigkeit. Das Tragen von Hörgeräten – und damit die Hörbehinderung selbst – bleibt dabei unsichtbar, bis es in der Kommunikation zu Nicht-Verstehen oder etwas anderes Verstehen kommt. Erst dann wird sie sichtbar und irritiert. Wenn Gespräche stocken, Blicke sich verändern oder die Notwendigkeit des Lippenlesens ersichtlich wird, wird dies nicht einer Assistenztechnologie zugeschrieben, sondern dem Körper selbst. Schwerhörigkeit erscheint dann nicht als Form von Vielfalt, sondern als Störung der sozialen Ordnung.

Hörgeräte sind damit sozial aufgeladene Technik. Der Unterschied liegt nicht im Körper, sondern im kulturellen Narrativ der Reparatur. In meiner eigenen auto-ethnographischen Forschung habe ich gelernt, dass Wahrnehmung immer relational ist. Sie entsteht im Kontakt zwischen Körpern, Räumen, Technologien und sozialen Erwartungen. Und aus dieser relationalen Sicht wird klar, dass der Körper nicht defizitär, sondern die Norm zu eng ist.

Was bedeutet Menschsein jenseits technischer Normen?

Vielleicht brauchen wir weniger Reparaturen und mehr Ausdruck von Sinnesmöglichkeiten; weniger Optimierung und mehr Aufmerksamkeit. Weniger Anspruch an Technik, die Menschen normiert und mehr Technik, die Räume öffnet und variabel einsetzbar ist. Darin ist Technik ein Paradoxon, weil sie Erfahrung erweitert und zugleich nicht repariert.

Ich bin kein reparierter Mensch. Ich bin ein Cyborg, weil ich Hörgeräte trage und sich mir dadurch die Welt dreidimensional öffnet. Ich bin ein Mensch, dessen Wahrnehmung Bezüge schafft zwischen mir und der Welt, zwischen Stille und Hören, zwischen Technik und Identität. Wenn wir beginnen, Differenz nicht als Störung, sondern als verkörperte Wissensform zu sehen und den Normen ihre Sprengkraft nehmen, schaffen wir neue Weltbezüge in der Akzeptanz des Dazwischen und verändert sich nicht der Körper, sondern die Gesellschaft, die ihn betrachtet.

Hearing Cyborg Manifest

  1. Ich bin ein vollständiger Mensch

Ich bin ein nicht hörender Mensch. Mein Körper ist nicht defizitär, sondern vollständig, genauso, wie er ist. Ich empfinde mich nicht als Cyborg, sondern als Mensch mit einer eigenen Identität, die unabhängig von technologischen Erweiterungen existiert. Ich bin nicht weniger menschlich, weil ich nicht höre.

  1. Ich bin ein Cyborg

Die Gesellschaft, in der ich lebe, ist auf Lautsprache ausgerichtet. Sie erfordert, dass ich mich anpasse, indem ich hochwertige Hörgeräte trage. Ich trage Technologie, damit andere mit mir sprechen können, ohne sich selbst zu verändern. Ich nenne mich Cyborg, um zu zeigen, wie tief diese Norm in mich eingeschrieben wurde.

  1. Ich bin ein Schwellenwesen

Ich bewege mich zwischen Klang und Stille, zwischen Mensch und Maschine, zwischen Zuschreibung und Selbstsein. Ich bin nicht binär im epistemischen Sinn. Ich bestehe aus Übergängen. Ich weiß, wie sich Technik anfühlt und wie sich ihre Abwesenheit anfühlt. Ich kenne die Norm und ihre Ränder, und ich lebe in beiden.

  1. Menschlichkeit jenseits der Technik

Ich höre mit meinen Hörgeräten, doch sie machen mich nicht „mehr“ Mensch. Sie verändern nicht mein Wesen, sondern nur die Art, wie ich in der hörenden Welt funktioniere. Die Tatsache, dass ich ohne diese Technologie oft nicht als vollwertige Gesprächspartnerin anerkannt werde, sagt mehr über gesellschaftliche Normen aus als über meine eigene Identität. Ich weigere mich, meine Würde an Technologie zu binden, ich bin kein reparierter Mensch. Ich bin ein relationales Wesen, das die Welt anders wahrnimmt und genau daraus Wissen gewinnt.

  1. Widerstand gegen die Technologisierung des Menschseins

Ich weigere mich, meine Menschlichkeit an technische Geräte zu binden. Ich bin nicht vollständig wegen meiner Hörgeräte, sondern ich war es schon immer. Ich wünsche eine Welt, in der Menschen wählen können zwischen Phasen situierter technischer und nicht-technischer, sozialer und stiller Momente, menschlicher und die als Cyborg gelesener. Der wahre posthumane Fortschritt liegt nicht in der Verschmelzung mit Maschinen, sondern in der Erweiterung dessen, was als menschlich gilt.

  1. Radikal ist, an die Wurzel zu gehen

In Hannah Arendts Sinn ist dieses Manifest ein radikaler Text: Es legt offen, dass nicht Körper defizitär sind, sondern die Ordnung, die sie misst. Es fragt nicht, wie der Mensch optimiert werden kann, sondern warum nur bestimmte Menschen als vollständig gelten. Ich fordere keine perfekte Zukunft. Ich fordere das Recht auf Schönheit, die in der scheinbaren Unvollkommenheit liegt.

Ich bin ein vollständiger Mensch.

Ich bin ein Cyborg.

Ich bin ein Schwellenwesen.

Das waren starke Zeilen? Dann gerne teilen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert