Mahssa Behdjatpour hat Public Health studiert und in ihrem Buch „Du lachst ja gar nicht mehr. Wie Rassismus krank macht“ über Rassismus, Gesundheit und ihre eigene Familiengeschichte geschrieben. Max Balzer der Initiative Sick People spricht mit ihr über transgenerationales Trauma, Ausschlüsse im Gesundheitswesen und warum Schreiben Widerstand sein kann.
Max Balzer: In Ihrem Buch schildern Sie, wie Sie 2022 Videomaterial aus dem berüchtigten Evin-Gefängnis im Iran gesehen haben – und welche Gefühle diese Bilder mit Blick auf Ihre Familiengeschichte ausgelöst haben. Können Sie beschreiben, unter welchen Umständen Ihre Eltern sich politisch engagierten und warum sie aus dem Iran fliehen mussten?
Mahssa Behdjatpour: Mein Vater war zunächst gegen den Schah, wie viele zu der Zeit. Minderheiten wurden unterdrückt, viele kamen ins Gefängnis. Mit der Islamischen Revolution 1979 wurde die Situation noch einmal schlechter. Meine Eltern engagierten sich in linken Gruppierungen, verteilten zum Beispiel Flugblätter – eigentlich sehr harmlose Dinge. Trotzdem kam es zu Verhaftungen. Meine Mutter wurde einmal festgenommen. Mein Vater war insgesamt drei Jahre im Evin-Gefängnis inhaftiert, auch andere Familienmitglieder saßen im Gefängnis. Deshalb war es für mich so ein einschneidender Moment, die Bilder des brennenden Gefängnisses zu sehen.
Sie erklären Ihr eigenes Erleben auch mit dem Konzept des transgenerationalen Traumas. Was bedeutet das – für Sie persönlich und aus Sicht der Forschung?
Transgenerationales Trauma meint, dass traumatische Erfahrungen nicht bei den unmittelbar betroffenen Personen bleiben müssen, sondern an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können. Das wurde etwa bei Kriegsveteranen oder Holocaust-Überlebenden beobachtet. Die Forschungslage ist noch dünn. Es deutet aber vieles darauf hin, dass das Trauma oft dann „aktiviert“ wird, wenn die Lebensumstände belastend sind. Für mich war lange schwer greifbar, woher meine Beschwerden kommen – auch weil vieles kleingeredet wurde. 2022 – im Iran waren nach dem Tod von Jina Mahsa Amini Proteste ausgebrochen – hatte ich starke körperliche Symptome. Schmerzen, Verspannungen, Appetitlosigkeit. Da habe ich zum ersten Mal sehr deutlich gespürt, was in meinem Körper passiert, wenn mir die Geschichte meiner Familie wieder nahekommt.
Für Ihre Eltern endete die Bedrohung mit ihrer Ankunft in Deutschland nicht. Sie schreiben, dass Sie bereits im Mutterleib mit Rassismus in Berührung gekommen sind. Welche Stimmung hat Ihre Mutter Anfang der 1990er-Jahre in Deutschland erlebt?
Ich bin im Dezember 1992 geboren – mitten in einem Jahr, in dem mehrere Flüchtlingsunterkünfte brannten und Menschen davorstanden, klatschten, jubelten. Die Stimmung war sehr feindselig gegenüber Geflüchteten und Menschen mit Migrationsgeschichte. Das macht etwas mit einer schwangeren Person. Meine Mutter erlebte Angst, Anspannung, Unsicherheit. Studien zeigen, dass solche Belastungen sich direkt auf das ungeborene Kind auswirken und das Risiko für spätere psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen erhöhen können.

Mahssa Behdjatpour
Mahssa Behdjatpour wurde 1992 in Hannover geboren, nachdem ihre Eltern aus dem Iran geflohen waren. Sie hat Gesundheitswissenschaften in den Niederlanden und Deutschland studiert. Derzeit promoviert sie im Bereich Public Health und untersucht Empowerment-Ansätze für marginalisierte Menschen. Ihre Forschung konzentriert sich darauf, die gesundheitlichen Auswirkungen von Diskriminierung zu verstehen und innovative Ansätze zur Unterstützung von Betroffenen zu entwickeln. Neben ihrer akademischen Tätigkeit hat sie zwei Kinderbücher geschrieben und illustriert, die sich mit sozialen Themen auseinandersetzen. Mahssa Behdjatpour lebt in Hannover. Foto: Privat.
Diese Stimmung in Deutschland hat Ihre Kindheit geprägt. Welche Rolle spielte Rassismus in Kita und Schule?
Rassismus war sehr präsent, auch in vermeintlich „harmlosen“ Situationen. In der Kita gab es zum Beispiel eine Übernachtungsaktion, bei der wir Kinder die ganze Nacht wach bleiben und uns Gruselgeschichten erzählen wollten. Ich habe nur zugehört – und wurde trotzdem rausgeholt und angeschrien. Der Erzieher sagte, ich sei ein schlechter Einfluss und würde die anderen Kinder verderben.
Solche Situationen gab es viele, oft verbunden mit Willkür. Ich bekam Ärger, ohne zu verstehen, warum. Das hat mich geprägt. Ich entwickelte eine ständige Angst, negativen Stereotypen zu entsprechen, und versuchte krampfhaft zu beweisen, dass ich „nicht so“ bin. Ich kenne auch Menschen, die sagten: „Ja, dann bin ich halt so. Ich nehme dieses Bild an und bin stolz drauf.“ Am Ende sind beide Reaktionen eine Folge von stereotypen Zuschreibungen. So werden Kinder von klein auf zu anderen gemacht.
Sie schildern auch eine Szene mit einer Mitschülerin, die eine Behinderung hatte und massiv gemobbt wurde. Welche Parallelen sehen Sie zwischen Rassismus und Ableismus?
Die Mitschülerin wurde ständig geärgert und provoziert, bis sie irgendwann wütend wurde und um sich schlug. Woraufhin alle so taten, als läge der Fehler bei ihr. Ich habe sie damals nicht in Schutz genommen, was mich heute sehr belastet. Einige Lehrkräfte haben das Mobbing stillschweigend hingenommen oder sogar befeuert. Ich sehe viele Parallelen zu Rassismus. Vieles wird heruntergespielt, Betroffenen wird eingeredet, sie würden sich Erlebnisse nur einbilden. Sie seien das Problem. Und es gibt eine starke Entmenschlichung. Die Person wird nicht als vollwertiger Mensch wahrgenommen, sondern auf ein Stereotyp reduziert.
Rassismus erzeugt chronischen Stress. Dieser Stress schwächt das Immunsystem, fördert Entzündungsprozesse und begünstigt Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Asthma.
Zentral in Ihrem Buch ist auch das Thema Gesundheit. Eine schwere Erkrankung Ihres Vaters wurde lange Zeit nicht ernst genommen. Sie erklären das mit der Pseudodiagnose „Morbus Mediterraneus“. Was ist damals passiert?
„Morbus Mediterraneus“ ist eine Pseudodiagnose, die es leider bis heute im Sprachgebrauch gibt. Mein Vater ist über Jahre zu verschiedenen Ärzt*innen gegangen und hat starke Schmerzen und andere Symptome beschrieben. Er wurde nicht ernst genommen. Es wurde nicht einmal ein Blutbild gemacht. Stattdessen wurde er als jemand abgestempelt, der übertreibt. Solche Muster sehen wir häufiger: bei Frauen allgemein, noch stärker bei Frauen mit Migrationsgeschichte, aber auch bei Männern mit Migrationsgeschichte. Irgendwann wurde bei ihm Nierenkrebs diagnostiziert – da hatte der Krebs allerdings bereits gestreut. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die verspätete Diagnose den Krankheitsverlauf negativ beeinflusst hat.
Die Geschichte Ihres Vaters war eine Motivation für Ihre Studienwahl: European Public Health, Gesundheitswissenschaften. Wenn Sie einige zentrale Punkte herausgreifen: Welche Antworten haben Sie auf die Frage gefunden, warum Rassismus krank macht?
Rassismus erzeugt chronischen Stress. Dieser Stress schwächt das Immunsystem, fördert Entzündungsprozesse und begünstigt Erkrankungen wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Asthma. Studien zeigen, dass etwa Schwarze Kinder in den USA ein deutlich höheres Risiko haben als weiße Kinder, an Asthma zu sterben. Gleichzeitig belastet Rassismus die mentale Gesundheit. Alltagsdiskriminierung erhöht das Risiko für Depressionen, Angst- und Zwangsstörungen. Es gibt außerdem strukturelle Probleme. So fehlen in der Ausbildung wichtige Inhalte – zum Beispiel, wie bestimmte Symptome auf dunklerer Haut aussehen. Und viele Betroffene haben einen schlechteren Zugang zu medizinischer Versorgung, besonders zu Psychotherapie. All das zusammengenommen erklärt, warum Rassismus krank macht. Problematisch ist auch, dass ich all das nicht im Studium gelernt habe, sondern mir selbst erarbeiten musste.
Wenn Menschen verstehen, dass ihre Erfahrungen kein Einzelfall sind, trauen sie sich eher, etwas zu sagen.
Was brauchen wir aus Ihrer Sicht, damit das Gesundheitssystem gerechter und teilhabegerechter wird?
Zuerst braucht es mehr Sensibilisierung: Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, müssen über Diskriminierung, Rassismus und Ableismus aufgeklärt werden. In den Ausbildungen wird das bisher viel zu wenig thematisiert. Viele handeln nicht bewusst diskriminierend, aber ohne Wissen reproduzieren sie bestehende Muster. Dann müssen Betroffene ihre Rechte kennen. Viele wissen gar nicht, was ihnen zusteht. Wenn Menschen verstehen, dass ihre Erfahrungen kein Einzelfall sind, trauen sie sich eher, etwas zu sagen. Und schließlich ist es eine politische Frage. Es braucht strukturelle Veränderungen, damit Menschen mit geringem Einkommen, mit Migrationsgeschichte oder mit Behinderung nicht systematisch einen schlechteren Zugang zu Gesundheitsversorgung haben.
In Ihrem Studium haben Sie erlebt, dass Objektivität oft gegen Lebenserfahrung ausgespielt wird. Was sagt das über Deutungshoheit in der Wissenschaft?
Ich war die einzige Person mit sichtbarer Migrationsgeschichte im Studium. Wenn es um Diskriminierung oder soziale Ungleichheit ging, hieß es oft: „Es gibt keinen Rassismus – und wenn doch, kannst du nicht objektiv darüber sprechen.“ Gleichzeitig dürfen Betroffene bei anderen Themen – etwa Klimawandel oder Frauengesundheit – sehr wohl forschen. Das zeigt, wie Diskursmacht funktioniert: Bestimmte Gruppen entscheiden, wie über Themen gesprochen wird und wessen Perspektive als „wissenschaftlich“ gilt. Wenn nur bestimmte Stimmen gehört werden, bleiben andere unsichtbar. Das hat direkte Folgen für Public-Health-Interventionen. Sie erreichen dann vor allem die weiße Mittelschicht, weil sie von ihr gemacht werden.
Schreiben ist nicht nur persönlicher Bewältigungsversuch, sondern kann gesellschaftlich etwas bewegen.
In der Behindertenrechtsbewegung heißt es: „Nichts über uns ohne uns.“ Warum ist es so wichtig, dass Betroffene selbst an Forschung und Veränderungsprozessen beteiligt sind?
Ohne Betroffene bleiben weiße Flecken. An meiner früheren Uni wäre das Thema Rassismus und Gesundheit ohne meine Arbeit vermutlich gar nicht aufgetaucht. Ich kann nicht authentisch beschreiben, wie es ist, Ableismus zu erleben, wenn ich das nicht selbst erfahren habe. Genauso wenig kann eine Person, die nie Rassismus erlebt hat, nachvollziehen, was das im Alltag bedeutet.
Ein gutes Beispiel für gelungene Beteiligung ist der Afrozensus, der Schwarze Perspektiven im deutschen Gesundheits- und Gesellschaftssystem erhebt und von Betroffenen selbst gestaltet wurde. Solche Projekte zeigen, wie sehr Forschung gewinnt, wenn diejenigen mitreden, die es betrifft.
Sie greifen Aaron Antonovskys Konzept des Kohärenzgefühls auf. Welche Rolle spielt kreatives und biografisches Arbeiten für Ihren eigenen Umgang mit Diskriminierungserfahrungen?
Antonovsky beschreibt Gesundheit als Kontinuum: Wir bewegen uns zwischen Krankheit und Gesundheit hin und her. Entscheidend ist, ob wir verstehen, was passiert. Ob wir Ressourcen haben, um damit umzugehen. Und ob wir das Leben als sinnvoll genug erleben, um aktiv zu werden. Kreatives Arbeiten kann dabei sehr helfen. Studien zeigen, dass Kunst und Kreativität den Cortisolspiegel senken und die Emotionsregulation unterstützen.
Für mich ist Schreiben ein solcher Safer Space, in dem ich mich ausdrücken kann und nicht ständig im Overthinking bin. Es stärkt meine Selbstwirksamkeit: Ich sehe, dass ich etwas erschaffen kann. Gleichzeitig ist die Auseinandersetzung mit Rassismus auch retraumatisierend. Ich brauchte Ressourcen und Menschen, die mich bei meiner Arbeit unterstützt haben.
Am Ende – und das fand ich sehr berührend – ist Ihr Buch auch ein Manifest des Schreibens als Widerstand. In welchen Momenten erleben Sie, dass Ihre Arbeit gesellschaftliche Veränderungen anstößt?
Ich erlebe immer wieder, dass mein Schreiben anderen Menschen helfen kann, ihre Lebenserfahrungen einzuordnen. Viele Menschen haben mir nach Lesungen gesagt, dass sie sich in meiner Forschung wiedererkannt haben. Und manchmal stößt das direkt Veränderungen an – etwa, wenn eine Medizinerin nach einer Lesung in Zürich eine eigene Studie zu Rassismus im Gesundheitswesen plant. Das zeigt, dass Schreiben nicht nur persönlicher Bewältigungsversuch ist, sondern auch gesellschaftlich etwas bewegen kann. Und das ist ein gutes Gefühl.
Mahssa Behdjatpour, vielen Dank für das Gespräch!
Cover-Illustration: Noemi Hasler.
Instagram: @noemi_hasler
→ Infos zum Buch
Mahssa Behdjatpour: »Du lachst ja gar nicht mehr« Wie Rassismus krank macht. Ein autoethnografischer Bericht
Rotpunkt Verlag Zürich, 152 Seiten, 23 Euro
Hier kannst du das Buch bestellen.
Du kannst aber auch schauen, ob es das Buch in einer nahegelegenen Bibliothek gibt.
Tipp: Falls es noch nicht im Bestand ist, bieten die meisten Bibliotheken an, Bestellwünsche aufzunehmen.
→ Du bist selbst von Diskriminierung betroffen?
Am Ende dieses Artikels zu Vielfalt und Intersektionalität in der Beratungsarbeit von Kassandra Ruhm sind einige Stellen versammelt, wohin du dich wenden kannst.
Unter der Nummer 0800 111 0 111 kann sich jede Person kostenlos per Telefon oder Chat (https://www.telefonseelsorge.de/) bei der Telefonseelsorge melden.