Ein Aktionstag, der Türen öffnen soll: Senatorin Cansel Kiziltepe besucht das Pferdesport- und Reittherapiezentrum Karlshorst und erlebt den Alltag von Werkstattbeschäftigten auf ihrem Außenarbeitsplatz. Unsere Redakteurin Carolin Schmidt hat sie begleitet. Zwischen Stallarbeit, Begegnungen und politischen Fragen zeigt sich: Inklusion braucht mehr als Symbolik und die derzeitigen Strukturen festigen immer noch die Trennung von Menschen mit und ohne Behinderung in der Arbeitswelt – aber jeder Schritt bringt Sichtbarkeit.
Die Sonne scheint und der Wind weht schon die ersten bunten Blätter von den Bäumen, als ich das Gelände des Inklusiven Pferdesport-und Reittherapiezentrums Berlin-Karlshorst betrete. Weite Koppeln und Paddocks umgeben die Reithallen und Ställe. Friederike Wendt, Geschäftsführerin des Zentrums, begrüßt mich. Auch Cansel Kiziltepe, Senatorin für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung, ist schon da. Ich begleite sie heute bei ihrem „Schichtwechsel“.
Aktionstag Schichtwechsel
Der „Schichtwechsel“ ist ein bundesweiter Aktionstag, an dem Menschen mit und ohne Behinderung den Arbeitsplatz wechseln. Genauer gesagt geht es um den Austausch zwischen Beschäftigte aus Werkstätten für Menschen mit Behinderung und nicht-behinderte Menschen des allgemeinen Arbeitsmarktes. „Wir möchten mit der Aktion Schichtwechsel vorrangig mehr Begegnung schaffen,“ erklärt mir Jana Niehaus, Pressesprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM). 370 Werkstätten und insgesamt 4.800 Personen – davon 2.700 Beschäftigte aus Werkstätten und 2.100 Tauschpartner*innen aus Unternehmen – nehmen deutschlandweit teil. Das Pferdesportzentrum bringt sich bereits zum dritten Mal bei der Aktion ein. Hier gibt es 34 Plätze für Menschen mit Behinderung aus Werkstätten, davon sind 28 belegt.
Ein Rundgang über das Gelände
Auch für die Senatorin ist es bereits der 3. Aktionstag. Los geht es mit einer Führung für uns über die Anlage. „Unser Gelände umfasst 10 ha Land. Wir haben 52 Pferde, davon 16 Therapiepferde, die restlichen sind Einstellerpferde. Die Pferde sind den ganzen Tag draußen“, erklärt Wendt, während wir an den Paddocks entlanggehen. „Und wenn ich einen stressigen Tag habe, sattel ich mir ein Pferd und gehe reiten.“

Therapieangebote und Begegnungen mit Hindernissen
Das Pferdesportzentrum ist weitläufig. Wir schauen uns auch die Reithallen an. Hier gibt es einen Kran, mit dem Menschen aus dem Rollstuhl auf das Pferd gehoben werden können (Bild). Eine Gruppe von demenzkranken Menschen kommt wöchentlich vorbei, um die Ponys zu striegeln und zu streicheln. „Die sind richtig vital und unterhalten sich fröhlich, wenn sie wieder gehen“, berichtet Wendt. Außerdem gibt es pferdegestützte Therapien wie die Hippotherapie, die vor allem für Menschen mit Multiple Sklerose hilfreich sein kann, oder auch die Traumapädagogik, die unter anderem von ehemaligen Bundeswehrsoldat*innen wahrgenommen wird.
Dann kommen wir zu einem großen Gebäude, vor dem einige Angestellte und Beschäftigte in der Sonne sitzen – Pausenzeit. Das Gebäude ist extra für die Werkstattbeschäftigten renoviert und ausgebaut worden mit einem großen Aufenthaltsraum, Umkleiden und einem Ruheraum. Dort sind die Beschäftigten von den restlichen Mitarbeiter*innen des Hofes getrennt. „Das war leider die Voraussetzung für den Ausbau“, erklärt uns Marc Wardaru, Werkstattleiter der Lichtenberger Werkstätten. „Bei der Arbeit sieht es dann zum Glück anders aus.“
Alltag der Beschäftigten im Stall
Wir lassen uns noch die Ställe zeigen. Hier treffen wir wieder auf eine Gruppe von etwa 8 Beschäftigten der ausgelagerten Arbeitsstellen der Werkstatt.
„Ich stehe um 4 Uhr morgens auf, damit ich um 7 Uhr hier mit der Arbeit anfangen kann“, erzählt Dana Jungen, eine der Beschäftigten. „Dann bringen wir die Pferde raus, misten aus, füllen Einstreu auf, machen die Tränken sauber und füllen sie auf. Wir sammeln auch die Pferdeäpfel ein und halten die Ställe sauber.“ „Macht Ihnen Ihre Arbeit Spaß?“, fragt die Senatorin. „Naja, abends bin ich schon immer sehr müde und wenn mal wieder Schienenersatzverkehr ist, ist der Weg weit“, antwortet Jungen. Ich frage sie, ob sie auch reitet. „Gerade nicht, ich bin etwas zu schwer für die Pferde“, lacht sie. „Aber schön wäre es schon.“

Unser Ziel ist es, mit der UN-Behindertenrechtskonvention eine inklusive Gesellschaft zu erreichen. Aber an diesem Punkt sind wir leider noch nicht.
Senatorin Kiziltepe
Die Senatorin begegnet den Menschen offen und warmherzig. Gleichzeitig ist der Ablauf klar strukturiert und begrenzt. Es werden noch viele Fotos gemacht: die Senatorin beim Ausmisten, die Senatorin mit der Schubkarre, die Senatorin auf dem Pferd. Viel Zeit für die tatsächliche Arbeit gibt es nicht, der Termin ist mit einer Stunde sehr knapp bemessen. „Ihr macht tolle Arbeit“, sagt Kiziltepe, bevor sie sich verabschiedet. Morgen sei Christian im Abgeordnetenhaus und besuche sie. Auf Nachfrage bei Herrn Wardaru erfahre ich, dass es sich um Christian Horn handelt, ein Beschäftigter, der auf dem ausgelagerten Arbeitsplatz Geko, einem uckermärkischen Fruchthandel, arbeitet.
Niedrige Löhne und fehlende Inklusion
Diese Arbeit wird für Beschäftigte, wie auch hier im Pferdesportzentrum und in den Werkstätten, mit durchschnittlich 1,35 Euro pro Stunde entlohnt. Ein Stundenlohn, der weit unter dem Mindestlohn liegt und etwa für die schwere Stallarbeit unfassbar niedrig ist. Welche Ansätze sie sieht, Menschen mit Behinderungen mehr Chancen zur Teilhabe auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und eine faire Entlohnung zu ermöglichen, frage ich die Senatorin. „Unser Ziel ist es, mit der UN-Behindertenrechtskonvention eine inklusive Gesellschaft zu erreichen. Aber an diesem Punkt sind wir leider noch nicht. Auf der Bundesebene gab es eine Reform. Darin wurden die Ausgleichsabgaben erhöht, die die Unternehmen zahlen müssen. Jetzt müssen wir dafür sorgen, dass mehr Arbeitgeber*innen auch Menschen mit Behinderung einstellen, damit diese Menschen auch am ersten Arbeitsmarkt teilhaben können.“
Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitnehmer*innen sind gesetzlich verpflichtet, mindestens 5% der Plätze an Menschen mit einer Schwerbehinderung zu vergeben. Die Mehrzahl nutzt aber eine gesetzliche Hintertür und kauft sich frei durch Ausgleichsabgaben.
Carolin Schmidt
Bürokratische Hürden
Unternehmen mit mehr als 20 Arbeitnehmer*innen sind gesetzlich verpflichtet, mindestens 5% der Plätze an Menschen mit einer Schwerbehinderung zu vergeben. Die Mehrzahl nutzt aber eine gesetzliche Hintertür und kauft sich frei durch ebendiese Ausgleichsabgaben. Laut Sozialgesetzbuch liegt dieser Betrag im Jahr 2025 je nach Betriebsgröße und Prozentzahl zwischen 135 und 815 Euro pro Monat, was für viele Unternehmen nicht viel Geld ist, verglichen mit dem immer noch sehr bürokratischen Aufwand, den es bedeutet, eine Person aus einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt einzugliedern. Das Pferdesportzentrum ist von diesen Ausgaben ausgenommen, da es weniger als 20 Personen beschäftigt. Auf die Frage, ob auch in ihrem festen Team Menschen mit Behinderung arbeiten, erzählt Wendt, dass eine Person hoffentlich bald den Übergang vom Werkstattbeschäftigten zum Festangestellten schafft. Was dem im Weg stehe? „Etwas Bürokratie, aber wir werden das hoffentlich schaffen.“
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Auch wenn der „Schichtwechsel“ verspricht, „neue Perspektiven auf das Thema Teilhabe am Arbeitsleben zu gewinnen“, steht es um die tatsächlichen Möglichkeiten, einen Wechsel auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vollziehen, eher schlecht, was Selbstvertreter*innen wie Ottmar Miles-Paul kritisieren. „Es gibt eher noch wenig Übergänge auf den allgemeinen Arbeitsmarkt im Verhältnis zur Teilnehmer*innen-Anzahl, da ein Übergang allgemein Zeit und ausreichender Vorbereitung sowie Erprobung bedarf. Langfristig stehen nachhaltige Effekte der Bewusstseinsbildung und Öffnung wie Kooperationen oder weitere Formen der Zusammenarbeit im Fokus“, erklärt Jana Niehaus aus Perspektive der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten.
Ich möchte mehr Sichtbarkeit für Inklusion in allen Lebensbereichen schaffen.
Senatorin Kiziltepe
Ein Wunsch nach echter Teilhabe
Ob Dana Jungen auch gerne einmal ins Abgeordnetenhaus gehen würde, um sich die Arbeit der Senatorin Kiziltepe anzusehen? „Ja,“ antwortet sie, „das wäre schon spannend. Da gibt es aber bestimmt auch viel zu tun.“
Vor dem Abschied frage ich Kiziltepe, wie sie sich ein inklusives Berlin in 10 Jahren vorstellt. „Ich möchte mehr Sichtbarkeit für Inklusion in allen Lebensbereichen schaffen, und ich will, dass Menschen mit und ohne Behinderung gut zusammenarbeiten.“ Und wenn der Schichtwechsel dazu dient, dass Arbeitgeber*innen sich über Möglichkeiten der Einstellung von Menschen mit Behinderungen informieren und Werkstattbeschäftigte in verschiedene Berufe schnuppern können, ist schon einmal etwas gewonnen. Auch wenn die Vision der Senatorin heute noch weit entfernt scheint.