Manchmal lernt man im Leben große Lektionen an unerwarteten Orten. Zum Beispiel – auf der Toilette. Was als kurzer Besuch in der Stadtbibliothek Hannover begann, wurde für unseren Kolumnisten Leon Amelung eine unbequeme Erinnerung daran, dass auch er ableistische Denkmuster verinnerlicht hat. Barrierefreiheit beginnt hier nicht bei Rampen, sondern im Kopf – und mit einem offenen Gespräch. Ableismus zu verlernen, ist ein Prozess. Fehler gehören dazu. Entscheidend ist, was wir daraus machen.
Mit dem Euroschlüssel unterwegs
Bevor ich die Stadtbibliothek verließ, suchte ich nochmal die rollstuhlgerechte Toilette auf. Wer weiß, wo in der Stadt die nächste ist und wann ich wieder eine bräuchte. Die rollstuhlgerechte Toilette der Stadtbibliothek Hannover befindet sich bei den Herrentoiletten – ein Stück weiter den Gang runter. Ich schloss die Tür mit einem Euroschlüssel auf, mit dem man bundesweit Zugang zu rollstuhlgerechten Toiletten hat. Um an diesen Schlüssel zu kommen, muss man bei einem Verein in Darmstadt eine Kopie seines Schwerbehindertenausweises hinterlegen. Wenn die Merkzeichen stimmen, bekommt man – gegen eine Gebühr – den Schlüssel zugeschickt.
Begenung vor der Toilettentür
Als ich mir gerade die Hände wusch, klopfte jemand von außen an die Tür. Ich fuhr mit meinem Rollstuhl zur Tür, entriegelte das Schloss und öffnete. Vor mir stand ein Mann, der mindestens 10 Jahre älter war als ich und schaute mich über den Rand seiner Brille fragend an. „Fertig?“ „Äh… ja.“, antwortete ich irritiert. In dem Moment dachte ich zwei Dinge. Erstens: Was sollte die Frage? Wenn ich die Tür öffne, bin ich natürlich „fertig“. Das, was mich am meisten verwunderte, war, dass er vor mir aufrecht stand. Er hatte keinen Rollator oder Gehstützen oder ähnliches bei sich. Nichts deutete für mich darauf hin, dass er eine Gehbehinderung haben könnte und die Herrentoiletten waren ja nur den Gang runter. „Ähm… das ist eine Toilette nur für Rollstuhlfahrer“, sagte ich zu ihm. Wortlos zeigte er mir einen Schlüssel in seiner Hand. Es war ein Euroschlüssel. „Ich habe auch eine Behinderung, auch wenn ich nicht so aussehe“, sagte er. Dann ging er schnell an mir vorbei in die Toilette und zischte mir noch etwas hinterher, bevor er die Tür schloss. „Entschuldigung, das konnte ich ja nicht wissen.“, entgegnete ich.
Erkenntnis und nachträgliche Recherche
Mir war meine Fehleinschätzung der Situation unangenehm und ich war so in Gedanken, dass ich vergaß, meine Bücher für die Ausleihe zu scannen und den Hausalarm auslöste. Diese unangenehme Situation ließ sich mit einem Scanner beheben – die andere begleitete mich bis nach Hause.
Zuhause recherchierte ich nochmal zum Euroschlüssel und brachte in Erfahrung, dass auch Menschen mit Erkrankungen der Blase oder des Darmtraktes diesen Schlüssel bekommen können. Nun war mir die Situation noch peinlicher. Ich hatte mich dieser Person gegenüber ableistisch verhalten und gedacht, sie wollte nur aus Zeitdruck die rollstuhlgerechte Toilette benutzen, obwohl sie keinen Anspruch darauf hat. So kann man sich irren.
Unsichtbare Behinderungen und falsche Annahmen
Vorher dachte ich, dass nur Personen mit Gehbehinderung und Personen, die einen Rollstuhl nutzen, Anspruch auf diesen Schlüssel haben. Ich verknüpfte das mit dem Rollstuhlbild, das an den Türen zu sehen ist. Mir war gar nicht bewusst, dass auch Menschen, die ein Stoma, Morbus Crohn oder colitis ulcerosa haben einen Euroschlüssel bekommen können. Viele Behinderungen sind aber unsichtbar. Das heißt auch, dass mögliche Bedarfe von außen nicht unbedingt sichtbar sind. Ich mag es nicht, wenn Außenstehende aufgrund meiner Behinderung Annahmen treffen. Und diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass auch ich Annahmen treffe, die genauso unwahr sein können. Eine sichtbare Behinderung bedeutet nicht automatisch, dass ich immer Hilfe brauche. Und Menschen, die erst einmal nicht-behindert scheinen, können dennoch eine Behinderung – und Anspruch auf Unterstützung haben.
Und jetzt?
Wir müssen alle lernen, unsere ableistischen Denkmuster zu erkennen und nach und nach abzulegen.
Das nächste Mal möchte ich die Situation anders handhaben: Ja, vielleicht möchte jemand eine Toilette nutzen, auf die kein Anspruch besteht.
Oder vielleicht kenne ich die Hintergründe nicht und muss sie auch nicht kennen. In Zukunft werde ich auf die Frage: „Fertig?“ einfach nur mit „Ja“ antworten und die Toilette verlassen.