Während viele ihre Koffer für den Sommerurlaub packen, plant sie mit Bedacht, wie viel ein kleiner Ausflug kosten darf – nicht finanziell, sondern körperlich. In dieser Kolumne erzählt Jennifer Sonntag darüber, warum ihr Radius mit ME/CFS kleiner geworden ist, wie Bücher und Klänge zu Fernzielen werden und warum eine Reise manchmal nicht an entlegene Orte führt, sondern zu einer inneren Reise wird.
Reisesehnsucht trifft Realität
Ich bin aufgrund meiner Behinderung reisebeeinträchtigt. Nicht wegen meiner Blindheit, sondern weil ich zusätzlich mit der schweren neuro-immunologischen Erkrankung ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis) lebe. Während gerade jetzt in den Sommermonaten viele Menschen aufregende Urlaubsreisen planen, bin ich mir der Tatsache bewusst, dass mich schon ein kleiner Tagesausflug zurück ins Bett zwingen wird. Wie gestalte ich aber mit dieser schweren Multisystemerkrankung meinen Urlaub?
ME/CFS führt zu starken körperlichen Beeinträchtigungen, die mein Aktivitätsniveau erheblich herabsetzt. Ich kann oft nicht lange stehen und sitzen und habe überall starke Schmerzen. Deshalb muss ich sehr viel liegen, wobei ein typisches Symptom der Erkrankung ist, dass dies nicht zur Regeneration führt, sondern mein Akku nie wieder richtig aufgeladen werden kann. Selbst an guten Tagen liegt der Ladestatus nur etwa bei 30 Prozent. Schon ein kurzes Telefonat kann körperliche und neurologische Schwerstarbeit sein und eine Verstärkung aller Symptome provozieren. Das nennt man dann PEM, die Post-Exertionelle Malaise. Die Fatigue und der Brainfog – der Gehirnnebel – beeinträchtigen extrem meine Konzentration, auf die ich als vollblinde Person besonders angewiesen bin. Ich brauche also für Kopf und Körper ein gutes Energie-Management, das so enannte Pacing, um aus den wenigen Reserven, die ich habe, Arbeitsfähigkeit und Lebensfreude zu generieren. ME/CFS ist seit Long Covid auch öffentlich bekannter geworden. Das postvirale Erschöpfungssyndrom ist nicht mit der Art „geschafft sein“ zu vergleichen, was gesunde Menschen nach einem anstrengenden Arbeitstag erleben. Man muss sich eher in die Situation versetzen, in der man viele Tage mit einer so schweren Grippe im Bett lag, dass einem schon das Zähneputzen wie Hochleistungssport vorkam. Nur können ME/CFS-Betroffene aus diesem Zustand nicht wieder auferstehen.
Wenn selbst der Tagesausflug zum Kraftakt wird
Was meinen privaten Reiseradius betrifft, wurde für mich zur Normalität, was die meisten Menschen während der Corona-Pandemie vorübergehend als absoluten Ausnahmezustand erlebten. In der Zeit der strengen Auflagen fühlte ich mich ein bisschen weniger allein und sogar ein bisschen normal, weil alle zeitweise auf die eigenen vier Wände, das eigene Wohnumfeld oder bescheidene Ausflugsziele in der Region zurückgeworfen waren. Auch wenn sich für die Mehrheitsgesellschaft diese für viele unerträgliche Situation wieder auflöste, bleibt sie für Menschen, die mit ME/CFS leben, ein Dauerzustand – nicht, weil die Krankheit ansteckend ist und man sich deshalb isolieren muss, sondern weil sie so stark schwächt, dass sie zur Reiseunfähigkeit führt. In schweren Phasen musste ich also lernen, das eigene Bett, das Zimmer, die Wohnung für mich als Urlaubs- oder Reiseort erfahrbar zu machen und mir mit allen zur Verfügung stehenden Sinnen die Welt in mein kleines Reich zu holen. Das gelang mir durch Klänge, Düfte, Aromen, Tasterfahrungen und ganz viel Bewegung im Geist, durch meine Bücher und nahe Menschen. Meine Yogamatte und mein Hula-Hoop-Reifen ließen enge Räume weit werden und das Schlauchboot in unserem Garten-Pool wurde zu meinem Traumschiff. Eine neue Freiheit erlebte ich beim Laufen mit meinem Blindenführhund, der sich meinen gesundheitlichen Möglichkeiten anpasste. Da sich der Hund super auf mein Tempo einstellte und ich meine Hand entspannt auf den Führbügel legen konnte, verkrampfte ich beim Gehen mit Hund oft weniger, als beim angewinkelten Unterhaken bei einer Begleitperson oder beim anstrengenden Pendeln mit dem Langstock. Mir wurde bewusst, dass Freiheit in meinen Augen etwas ganz anderes war, als für objektiv freiere Menschen, die sich aber subjektiv viel unfreier fühlten.
Pandemie als paradoxer Gleichmacher
Ehe ich auch nur ansatzweise emotional verarbeiten konnte, dass private Reisen für mich nicht mehr funktionierten wie zuvor, quälte ich mich mit der Frage, wie ich als pflichtbewusster Mensch mit dem Thema Dienstreisen umgehen sollte. Ich erhielt viele Anfragen für Lesungen und Podiumsdiskussionen, Dreharbeiten und Bühnentätigkeit. Einerseits freute ich mich natürlich über diese Anerkennung meiner Arbeit, andererseits war all das mit ME/CFS niemals zu stemmen. Ich hatte die Krankheit noch nicht einmal für mich selbst verstanden, wie sollte ich sie nun für andere kommunizieren? Es sah ja niemand, dass ich privat keine Urlaubsreisen unternehmen konnte, das ließ sich verbergen, aber wenn ich dienstlich keiner Reisetätigkeit nachgehen konnte, musste ich das nach außen verbalisieren. Das fiel mir unfassbar schwer und war mindestens genauso schwer zu ertragen wie die Krankheit an sich. Schon weit vor der Corona-Pandemie, als Zoom-Meetings noch nicht in aller Munde waren, machte ich mich deshalb stark für digitale Konferenzen und Hybrid-Veranstaltungen. Trotz – und hier ist das trotz bewusst gewählt – dieser schweren Erkrankung, konnte ich eine engagierte Frau bleiben, die sich als Sozialpädagogin, Fachjournalistin und Inklusionsbotschafterin auch durch ihre Bücher, Kolumnen und Sendungen einbrachte. Diese Projekte wurden zu meinen Reisen. Da ich als blinde Frau einen starken Bezug zu inneren Bilder- und Denkwelten entwickelt hatte, konnte ich daraus auch stets in meiner Arbeit einen Mehrwert schaffen, ohne mich dabei vollständig von ME/CFS fremdbestimmen zu lassen.
Reise mit allen Sinnen – im eigenen Zuhause
Ich war bereits als Kind sehr kreativ und fantasievoll. Meine Gedanken brauchten viel Platz. Damals konnte ich noch sehen und war körperlich gesund. Heute kommt es mir sehr entgegen, dass mein Kopf irgendwie immer unterwegs ist und ich mich eigentlich nie langweile. Ich glaube, Reisen hat für mich persönlich wenig mit Kreuzfahrtschiffen und Flugzeugen zu tun. Für meinen Partner ist das ähnlich, weshalb wir diese Urlaubskultur bereits vor meiner Erkrankung nicht ausgebildet haben. Es war sogar meine erste Flugreise mit meinen Eltern und Freunden nach Griechenland, die mich schon als Teenagerin irgendwie deplatziert fühlen ließ, in dieser Art des Reisens. Wenn ich also gut mit mir allein sein kann und darin eine ganz eigene Freiheit erlebe, könnte man ja auf den Gedanken kommen, meine Reisebeeinträchtigung durch ME/CFS sei gar nicht schlimm. Nein, so einfach ist es leider nicht. Ich erlebe zwar selten FOMO (Fear of missing out / Die Angst, etwas zu verpassen), wenn ich auf allen Kanälen, on- und offline, mit Reise-Storys überschüttet werde – es überfordert mich eher. Aber ich vermisse meinen geliebten Ostsee-Urlaub, die Seebrücken, die Gesichter des Meeres, die Steilküsten, die Verschwisterung von Strand und Wald, den heißen Sand unter den Füßen. Es gibt Orte, die bedeuten auch mir die Welt und es tut unfassbar weh, dort nicht hinfahren zu können. Da sind all die inneren Urlaubsfotos und die verlorenen Ferienziele, zu denen auch ich eine starke Verbindung habe. Wie muss es erst ME/CFS-Betroffenen gehen, deren absolute Leidenschaft das Reisen war?

Reisen in die Umgebung
Ich konnte nach vielen Jahren der Suche glücklicherweise eine Alternative zu meinem Ostsee-Urlaub finden. Nicht weit von meinem Zuhause entfernt gibt es eine Seenlandschaft, ein geflutetes Abraumgebiet, was zur Ferienoase umgestaltet wurde. Das erste für mich wichtige Kriterium war also erfüllt: Ich musste nicht lange anreisen und konnte, falls das Experiment scheiterte, schnell wieder nach Hause fahren. Somit blieben meine ärztlichen Ansprechpartner*innen auch in Reichweite, abgesehen davon, dass meine Notfallmedis immer dabei sind. Außerdem buchten wir nur wenige Tage, denn weniger ist für mein Nervensystem oft mehr. Am hilfreichsten war für mich aber die Option, dass unser Ferienhaus einen eigenen kleinen Strandabschnitt direkt an der Terrasse hatte, ich musste also nur ganz kurze Wege bewältigen, z.B. vom Bett ins Wasser und zurück. Gleichzeitig war ich nicht so reizüberflutet von anderen Menschen. Da im Urlaub alles ungewohnt war, musste ich hier besonders auf Pacing achten, noch viel mehr, als ohnehin schon. Wenn ich also im Strandrestaurant essen war oder mit dem Hund die Umgebung erkundete, musste ich wieder längere Zeit liegen. Auch die Selbstversorgung im Ferienhaus war durch die Unterstützung meines Partners möglich, wenn ich Energie sparen musste und nicht viel laufen oder sitzen konnte. Das Auto, was wir direkt vor der Haustür parken konnten, war temporär hilfreich, um längere Laufstrecken zu überbrücken. Es gibt bei ME/CFS also immer einen Plan B. Da ich es liebe zu schwimmen, durch die Krankheit aber schnell die Kraft verlieren kann, möchte ich beim nächsten Urlaub eine Schwimmhilfe ausprobieren, die an einem Gürtel befestigt wird und im Wasser hinter mir hertreibt. Bei Bedarf kann ich meine Arme darauf ablegen. Diesen wertvollen Tipp erhielt ich von einer Freundin. Das gibt mir auch als vollblinde Person in offenen Gewässern Sicherheit, da ich allein schwimme und durch die Boje besser gesehen werden kann, falls ich einmal abdriften sollte.
Zusätzliche Barriere: Ableismus
Für die Wintermonate hat es sich bewährt, Urlaub in einem schönen Wellness-Hotel zu machen. Ein eigenes Zimmer ist für mich wichtig, da ich mich bei Bedarf zurückziehen und alles nach meinen Bedürfnissen einrichten kann. Im Wellness-Bereich muss ich schauen, welche Behandlungen gut tun und nicht überfordern. Leider gab es bei einigen Hotels immer wieder Personal, was meinen Blindenführhund im Restaurant nicht erlaubte. Das war für mich besonders dramatisch, weil dieses verlängerte Wochenende oft nur die einzige Reise war, die ich aufgrund meiner Erkrankung im gesamten Jahr bewältigen konnte, und bei Vollpension bedeutete das, dass ich mehrmals am Tag mit meinem Assistenzhund auf mein Zimmer geschickt wurde. Dabei war es mir so wichtig, auch mal einen Hauch von Urlaub zu erleben, mit meiner Familie gemeinsam die besonderen Speisen genießen zu können und mein Hilfsmittel nicht abgesprochen zu bekommen. Diese Ausgrenzung und die Auseinandersetzung mit dem Personal führte natürlich nicht zur Erholung, sondern zur Verstärkung meiner Symptome und löste einen Crash aus. Gerade weil ich die Kraft nicht hatte, im Nachhinein immer wieder inklusionsaktivistisch tätig zu werden und auch Ängste entwickelte, dass Absprachen nicht eingehalten wurden, traue ich mich selten, etwas Neues auszuprobieren. Ich fahre deshalb gern an Orte, an denen ich gute Erfahrungen gemacht habe und nicht zusätzlich mit Ableismus konfrontiert wurde.
Ein Konzert ist meine Reise
Es gibt etwas, was für mich eine so große Bedeutung hat, wie für viele Menschen das Reisen: die Konzerte meiner Lieblingsbands! Nun sind ME/CFS-Betroffene sehr reizempfindlich und von sozialem Input absolut überfordert. So ist das auch bei mir. Ich kann mich im Alltag nur in einem ruhigen Umfeld mit wenigen Menschen in einem überschaubaren zeitlichen Rahmen treffen und brauche dann einige Tage vor oder nach Terminen zusätzliche Abschottung. Es gibt jedoch eine Ausnahme, bei der ich die Reizüberflutung selbstbestimmt suche. Bei mir persönlich ist es so, dass ich ausgerechnet bei richtig lauten Konzerten und obwohl ich eigentlich extrem geräuschempfindlich bin, auch mal aus meinem Kopf und Körper herauskomme, sodass ich völlig in der Musik und in den Massen untergehe. Ohne meinen angepassten Gehörschutz und meinen Klappstuhl geht allerdings nichts. Leider gab es auch hier regelmäßig Diskussionen wegen meiner Sitzhilfe, die ich bei vielen Events aus Sicherheitsgründen nicht mitnehmen durfte. Es hieß dann immer: „Entweder Rollstuhl oder stehen“. Gerade für Menschen mit neurologischen Erkrankungen wie ME/CFS, Long Covid oder z.B. Parkinson gäbe es mehr gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe, wenn Sitzplätze mit eingeplant würden, denn es gibt viele Graustufen zwischen Rollstuhl und nicht Rollstuhl. Bei anderen Themen haben wir es doch auch geschafft, Safer Spaces und Awareness-Teams zu etablieren.
Reisen bedeutet für mich persönlich nicht nur in den Urlaub zu fahren, sondern auch das Erleben von Kunst und Kultur, Musik und Literatur, aber auch in meiner eigenen Kreativität und Schöpferkraft aufzugehen. Die Reiseroute meines Lebens ist spektakulär und ziemlich herausfordernd. An vielen verrückten Orten dieser Absonderswelt bin ich bereits gewesen und ich freue mich darauf, mit ME/CFS meinen ganz eigenen Reiseführer zu schreiben.