Ob herzerwärmende Überraschungen oder vermeintliche Mutproben – oft geht es auf Social Media nicht um Menschen mit Behinderungen, sondern um die Emotionen des Publikums. Warum das Mitleid klickt, echte Sichtbarkeit aber auf der Strecke bleibt – und wie Creator*innen zeigen, dass es anders geht, berichtet Kolumnist Jan Uhlenberg.
Ein kurzer Moment – große Emotionen
Ich scrolle durch meine Timeline, ein schneller Wisch nach oben, nach unten – plötzlich bleibt mein Blick hängen: Eine Pflegerin eines Seniorenheims betritt das Zimmer, ein Lächeln im Gesicht. „Tom, gucken Sie mal, wer da ist!“ Sie klingt fast feierlich.
In den Raum tritt Axel Borgmann, Kapitän von Energie Cottbus. Er geht direkt auf Tom zu, der im Rollstuhl sitzt, legt ihm die Hand auf die Schulter. „Freut mich, dich kennenzulernen.“ Tom lächelt, sein Gesicht wirkt überrascht, aber gefasst. „Ich habe mehr Glück als alles andere“, sagt er. In den Kommentaren überschlagen sich die User*innen „Wie toll… Chapeau Diesen Moment wird er nie mehr vergessen. Und denkt alle daran… so ein Zustand kann euch alle treffen!!! “, schreibt eine Kommentatorin. Ein anderer kommentiert: „Das ist gelebte Menschlichkeit – so wertvoll.“ Eine dritte Person schreibt: „Find ich so toll, das rührt mich zu Tränen.“
Diese Art von Reaktionen ist typisch: Sie drücken Bewunderung und Mitgefühl aus – aber was steckt dahinter? Die Aussage „So ein Zustand kann euch alle treffen“ wirkt abwertend und bevormundend, suggeriert aber vor allem eins: Behinderung ist ein Schicksalsschlag, den es zu vermeiden gilt. Genau diese Perspektive trägt dazu bei, dass Behinderung nicht als Teil der gesellschaftlichen Vielfalt gesehen wird, sondern als Ausnahme, die Mitleid verdient.
Natürlich freut sich Tom über den Besuch – und es spricht nichts dagegen, so einen Moment zu zeigen. Doch die Frage ist: Warum steht nicht Tom als Person im Mittelpunkt, sondern die Rührung der Zuschauer? Warum wird in den Kommentaren nicht über das Treffen selbst gesprochen, sondern darüber, wie wertvoll und berührend es für die Außenstehenden ist? Social Media Content könnte Begegnungen auf Augenhöhe zeigen – doch oft werden sie so inszeniert, dass sie vor allem eines auslösen sollen: Emotionen für Klicks!
Wenn Behinderung zur Challenge wird
Ein weiteres Beispiel für problematische Social-Media-Trends sind Challenges, bei denen nicht-behinderte Menschen so tun, als hätten sie eine Behinderung – und das als „Mutprobe“ oder „soziales Experiment“ inszenieren. Diese Art von Inhalte verzerren die Realität und tragen dazu bei, dass Behinderung als etwas Außergewöhnliches oder Fremdes dargestellt wird, anstatt als normaler Bestandteil der Gesellschaft.
Social Media ist eine riesige Rührmaschine – und Behinderung liefert die perfekte Zutat für virale Motivations-Posts. Doch wenn aus Anerkennung ein inszeniertes Spektakel wird, kippt die Bewunderung schnell in Ableismus – klickstark, aber respektlos. Die Message zwischen den Zeilen? Menschen mit Behinderungen sind nur dann sichtbar, wenn sie Erwartungen übertreffen. Sie müssen erst eine „Leistung“ erbringen – sei es ein TikTok-Tanz oder das bloße Absolvieren alltäglicher Aufgaben – um überhaupt beachtet zu werden. Wer nicht in diese Rührungsnarrative passt, bleibt oft unsichtbar.
Auf den ersten Blick mag das harmlos wirken – schließlich bedeutet Aufmerksamkeit doch Sichtbarkeit, oder? Aber nein: Diese Inszenierungen sind nichts anderes als das Recycling jahrzehnte alter Stereotype mit einer klaren Botschaft: „Behinderung ist ein Hindernis, das es zu überwinden gilt.“ Dabei ist das eigentliche Problem nicht der Rollstuhl oder die Prothese, sondern eine Gesellschaft, die Barrieren schafft und sich dann dafür feiert, wenn Menschen mit Behinderungen sie irgendwie überwinden.
Privatsphäre versus Reichweite
Doch der problematische Umgang mit Behinderung endet nicht bei den Kommentaren. Noch besorgniserregender wird es, wenn solche Videos nicht von den Betroffenen selbst hochgeladen werden, sondern von Dritten, die damit Klicks und Aufmerksamkeit generieren. Ein Beispiel dafür ist ein TikTok-Account, auf dem eine Mutter regelmäßig Videos ihres Sohnes mit Behinderung postet und intime Momente seines Alltags teilt. In einem Video beugt sie sich über ihn, spricht mit ihm, während er seitlich auf einem Bett liegt. Er kann sich kaum bewegen, und das Sprechen fällt ihm schwer. Die Frage bleibt: Hat er jemals zugestimmt, dass dieser Moment ins Internet gestellt wird? Oder dient das Reel nur dazu, Mitleid zu erzeugen und damit die Reichweite zu erhöhen? Social-Media-Plattformen pushen solche Inhalte gezielt, weil sie hohe Engagement-Raten erzielen – und Emotionen nun mal mehr Klicks bringen als Alltag.
Die Aktivistin Stella Young prägte den Begriff „Inspiration Porn“, mit dem sie die Objektifizierung behinderter Menschen für die Vorteile Nichtbehinderter problematisiert. Genau das kritisieren viele Betroffene seit Jahren. Sie fordern, dass ihre Geschichten nicht nur dann erzählt werden, wenn sie Emotionen auslösen, sondern dass sie in den Medien genauso selbstverständlich Platz finden müssen wie andere Lebensrealitäten auch.
Mehr als Mitleid: Creator*innen, die Klischees aufbrechen
Natürlich gibt es auch positive Beispiele – und manche davon gehen viral. Gerade Inhalte, die Unterhaltung in den Vordergrund stellen, erreichen oft ein großes Publikum. Doch häufig sind es stereotype Darstellungen, die am meisten Reichweite bekommen. Viele Creator*innen mit Behinderung posten lustige, spannende, absurde oder alltägliche Inhalte – ohne den ständigen Unterton von „Held*innentum“ auf der einen oder „Leidensgeschichte“ auf der anderen Seite. Doch trotz großer Erfolge einiger weniger bleibt es für viele schwierig, dieselbe Sichtbarkeit zu erlangen, da Plattformen wie Instagram und TikTok weiterhin Inhalte bevorzugen, die starke emotionale Reaktionen hervorrufen. Je überzogener die Darstellung, desto größer die Reichweite. So werden stereotype Bilder von Behinderung häufiger verbreitet als echte Einblicke in den Alltag der Betroffenen. Beispiele für Creatorinnen, die sich kritisch mit Ableismus auseinandersetzen, sind etwa Luisa L’Audace oder Matilda Jelitto. Sie hinterfragen gesellschaftliche Stereotype und schaffen humorvolle wie aufklärende Inhalte. Während Jelitto Musik analysiert und sich zusätzlich mit Ableismus sowie Medienrepräsentation auseinandersetzt, nutzt L’Audace andere kreative Formate, indem sie über Ableismus aufklärt, sensibilisiert und empowernde Inhalte teilt.
Was, wenn Social Media Behinderung als normalen Bestandteil des Lebens zeigen würde und Algorithmen so angepasst würden, dass diverse Perspektiven sichtbarer werden – unabhängig vom Klickpotenzial?
Stell dir vor, ein Clip mit einer behinderten Person wäre einfach nur ein ganz normales Reel – ohne heldenhafte Übertreibungen, ohne den Hollywood-Soundtrack der Ergriffenheit, ohne dieses klebrige Gefühl von Selbstbeweihräucherung in den Kommentaren. Doch die Realität sieht anders aus: Die Entwicklung ist derzeit sogar gegenläufig. META hat kürzlich angekündigt, seine Zusammenarbeit mit Faktenprüfern einzustellen, was zur weiteren Verbreitung problematischer Inhalte beitragen könnte.
Bis dahin bleibt die Frage: Würden wir auch applaudieren, wenn ein nicht-behinderter Mensch einfach nur aufsteht, sich anzieht und zur Arbeit geht?“
7 Antworten
Mega gut geschrieben, lieber Jan. Du sprichst mir aus der Seele.
Freut mich 🙂
Toller Artikel!
Danke dafür. Wir gerne und oft geteilt
Danke schön ❤️
Danke schön 🙂
Lieber Jan, endlich hast du was veröffentlicht! Ich lese deine Texte so gern und freue mich schon auf weitere.
Du trifft den richtigen Ton, es ist kurzweilig und treffend informativ.
Bitte mehr davon und liebe Grüße
Christina
Danke sehr 🙂