Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 60: „Mediziner*innen mit Behinderung (Teil 1)“
Karina: Ein Apfel am Tag, mit dem Doktor keine Plag.
Raúl: Aber was mache ich denn jetzt, wenn ich eine Apfelallergie habe?
Karina: Na deswegen haben wir heute zwei Ärzt*innen da.
Jonas: Ja, ich hoffe, ihr habt eure Versicherungskarte dabei…
Herzlich willkommen zu Die Neue Norm, dem Podcast. Heute widmen wir uns dem Thema Medizin. Wir haben ja schon häufig irgendwie so drumherum erzählt oder häufig das Thema gestriffen, aber dieses Mal geht es wirklich darum. Wir fragen uns, wie ist es heutzutage als Arzt*in mit Behinderung in der Medizin tätig zu sein? Müssen Menschen mit Behinderung unbedingt immer geheilt werden? Und was hat das alles mit den Modellen von Behinderung zu tun? Bei mir sind Karina Sturm und Raúl Krauthausen.
Karina: Hallo.
Raúl: Hi.
Jonas: Mein Name ist Jonas Karpa. Und wie es nun mal so will, also eigentlich dieses “bei mir ist” trifft heute nicht so ganz zu, weil wir widmen uns dem Thema Medizin. Und du, Raúl, hast dir gedacht, okay, du widmest dich auch so ganz persönlich dem Thema Medizin und begibst dich in den Patientenstatus.
Raúl: Ja, ich dachte, ich bin jetzt mal ganz investigativ und habe extra einen Tag vor dieser Aufzeichnung hier mich aufs Maul gelegt und mir dabei beide Beine und einen Arm gebrochen. Und bin jetzt, sagen wir mal, auf Tilidin unterwegs.
Jonas: Bist du auch komplett eingegipst dann?
Raúl: Ja, genau. Aber es geht, ehrlich gesagt. Ich bin erstaunt, wie gute Laune ich habe. Also wie gut meine Laune ist.
Jonas: Und wenn man sich nicht bewegt, tut es ja auch nicht weh.
Raúl: Das stimmt.
Jonas: Du musst nur reden. Also an dieser Stelle gute Besserung dir.
Raúl: Danke.
Jonas: Und mal gucken, ob dir die Laune im Laufe dieses Podcasts vergeht. Aber du hast eben gemeint, investigativ unterwegs. Ich meine, wir drei sind Journalist*innen und keine Ärzt*innen, aber wir haben uns Unterstützung geholt in diesem Podcast. Und zwar haben wir zwei Gäst*innen da. Zum einen Hannah Hübecker. Sie ist Medizinstudentin aus Essen, in meiner alten Heimatstadt Essen. Deshalb freut mich das besonders. Sie ist unter anderem auch Klimaaktivistin und hat die Friedreich’s Ataxie. Da bin ich erst mal darüber gestolpert, über diesen Namen, weil ich dachte, ist das einfach eine Person? Also ich habe Karl Heinz, aber was ist das genau?
Hannah: Oh, da kann ich jetzt auch einen eigenen Podcast mit füllen, glaube ich. Ich sage immer zu Leuten, wenn sie mich fragen, also nichtbehinderte Leute, dass es so ein bisschen wie MS [Redaktion: Multiple Sklerose] ist. Da kann sich dann jeder was darunter vorstellen, aber es stimmt eigentlich nicht. Eigentlich geht es darum, dass meine Nerven und meine Muskeln nicht so miteinander kommunizieren, wie das bei nichtbehinderten Leuten funktioniert. Und dementsprechend ist bei mir halt alles, was irgendwie mit Motorik zu tun hat, ein bisschen schwieriger.
Karina: Außerdem haben wir heute auch noch den Leo Rupp zu Gast. Leo ist Arzt in Berlin am Charite, in Weiterbildung zum Allgemeinarzt. Außerdem ist Leo Rollstuhlfahrer und, was ich total cool finde, dreimal deutscher Meister im Schießen. Leo, wir hatten ja schon mal gesprochen. In deinem Interview hast du mir mal erzählt, dass du eigentlich im Medizinstudium nicht wirklich viele Barrieren hattest. Ist das heute auch noch so? Aber erstmal: Hi!
Leo: Ja, danke, Karina. Ja, danke, in die Runde. Hi, schön, bei euch zu sein. Ja, du hast recht, Karina. Tatsächlich ist es heute immer noch so. Es ist eher noch besser, würde ich fast sagen. Ich sage das immer wieder, aber ich werde es auch nicht müde, es zu sagen. Es gibt fast keinen so barrierefreien oder barrierearmen Arbeitsplatz wie ein Krankenhaus. Weil du natürlich überall auch mit Betten oder eben mit Rollstühlen, Rollatoren etc. hinkommen möchtest und willst und musst. Natürlich gibt es überall Rollstühle, zumindest gerechte Toiletten und das ist halt natürlich sehr praktisch.
Jonas: Und weil wir gemerkt haben, dass es um das Thema Medizin so viel zu erzählen gibt, haben wir uns quasi in dieser Folge gedacht, das passt einfach nicht. Und Hannah, du hast es ja auch eben gesagt, da könnte man einen ganz eigenen Podcast machen. Das passt gar nicht alles in eine Folge. Deshalb werden wir das aufsplitten und werden quasi dann auch nochmal eine zweite Folge zum Thema Medizin und zum Thema Barrierefreiheit machen, die natürlich sowohl für Patient*innen wichtig ist, als auch natürlich dann quasi für Ärzte*innen mit Behinderung. Beide Folgen, sowohl diese, die ihr jetzt gerade hört, als auch die nächste Folge findet ihr natürlich in der ARD Audiothek. Also ist dieses, sich für den Medizinberuf zu entscheiden, auch eine Entscheidung für die Barrierefreiheit gewesen?
Leo: Ja, ich glaube schon, ehrlich gesagt. Ich habe, als ich Abitur gemacht habe, im Prinzip über zwei Dinge nachgedacht. Einmal habe ich darüber nachgedacht, BWL zu studieren und dann habe ich darüber nachgedacht, Humanmedizin zu studieren. Und dann kam mir so in den Sinn, naja, wenn ich irgendwo an der Treppe stehe, zum Hörsaal hoch und da ist eine Prüfung und ich bin im BWL-Studium, dann helfen mir die Leute da bestimmt nicht hoch, weil die alle sehr egozentrisch sind und nur auf ihren eigenen Vorteil gedacht und im Medizinstudium schon. Genau, das war so eine kleine Überlegung, aber am Ende war es tatsächlich eine Entscheidung. Auch bin ich da sehr naiv dran. Da muss ich tatsächlich sagen, dass ich gesagt habe, ich habe da Bock drauf, also mache ich das.
Jonas: Ich habe immer das Gefühl, dass es gerade in der Medizin so auf die finanziellen Aspekte achtet, so auf den Gewinn hinaus, dass es schon eine gewisse Ähnlichkeit gibt zwischen BWL und Medizin.
Leo: Vielleicht,
Jonas: Eventuell.
Raúl: Aber war dein Studium wirklich barrierefrei?
Leo: Nein, also nein, es war nicht barrierefrei. War es nicht, Raúl. Es begann schon so, ich hatte vorher der Charité gar nicht Bescheid gesagt, dass ich einen Rollstuhl nutze. In der ersten Woche stand ich dann einfach da und dann stand da damals der Chef vom Studierendensekretariat von der Charité und hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und meinte, sie nutzen ja einen Rollstuhl, beziehungsweise das hat er natürlich nicht so formuliert, sondern gesagt, sie sitzen ja im Rollstuhl und hat gesagt, oh, da müssen wir ja mal gucken, wie das klappt. Natürlich hatte es schon Barrieren, aber wie gesagt, es war erstaunlich barrierefrei, weil man immer auch vergisst, glaube ich, oder das nicht so sich vor Augen führt. Natürlich hat die Charité sehr viele Altbauten, gerade auch am Campus Mitte, hier am Hauptbahnhof mit dem großen Hochhaus, da sind viele Altbauten mit dabei, aber auch diese Altbauten, es war ja früher üblich, in den Vorlesungen auch Patientinnen und Patienten zu präsentieren. Das heißt, eigentlich ist jeder Hörsaal mit einer Trage oder einem Bett erreichbar, weil damals, also ich sage jetzt mal wirklich, im 18. Jahrhundert wurden halt eben die Patientinnen und Patienten in die Hörsäle geschoben. Aber dementsprechend sind die Hörsäle halt barrierefrei erreichbar oder barrierearm. Und genauso nur so als weiteres Beispiel nehmen wir jetzt mal das Anatomiegebäude. Das ist natürlich ein uralter Bau mit vorne so einer Freitreppe, das ist alles total unbarrierefrei eigentlich, aber natürlich, ich spitze das jetzt mal zu, werden die Körperspender*innen, also die toten Menschen, die da seziert werden, die werden nicht von den Mitarbeiter*innen über die Schulter geworfen und hochgetragen, sondern es gibt natürlich einen Eingang ohne Stufe mit halt riesigen Fahrstühlen, damit die toten Menschen eben in die vierte Etage gebracht werden können. Und diesen Eingang habe ich dann halt eben auch genutzt. Da hatte ich natürlich Schlüssel für all diese ganzen barrierefreien Hintereingänge während des Studiums und kam dann barrierefrei überall hin.
Karina: Also für die toten Menschen und Leichen und für den Rollstuhlfahrer…
Leo: Ja genau, so war es.
Raúl: Wie war das bei dir, Hannah?
Hannah: Ja, also ich glaube, ich habe irgendwie die gleichen Erfahrungen gemacht und irgendwie sehr unterschiedliche von denen, die Leo jetzt erzählt hat. Als ich angefangen habe zu studieren, war meine Behinderung ja nicht sichtbar und ich glaube, das ist auch einfach ein großer Unterschied, der mich vor ganz viele Hürden gestellt hat, die vielleicht jemand, der von vornherein im Rollstuhl sitzt, gar nicht so kennt oder die nicht so bewusst sind, weil ich halt alles selbst organisieren und ansprechen musste. Dann hatte ich, also Leo hat zwar zum Beispiel auch bei mir recht, dass jeder Hörsaal theoretisch irgendwie einen Zugang hätte, wo ein Bett reingeschoben werden kann. Jetzt habe ich aber zum Beispiel ein Hörsaal, dem ich vor allem letztes Semester dauernd zugeteilt war, wo ich sehr Probleme mit hatte, weil es dort keinen barrierefreien Studentenzugang gibt. Und ja, jetzt gibt es unten den Zugang, wo man theoretisch Betten reinschieben kann. Das Problem ist, dieser untere Zugang ist gesichert durch eine Feuerschutztür und diese Feuerschutztür hat erstens keinen automatischen Türöffner und zweitens ein Schloss, das gleich ist mit den Feuerschutztüren von allen OPs. Und jetzt sollte man aber einer Medizinstudentin im sechsten Semester keinen Zentralschlüssel zu allen OPs geben. Dementsprechend hatte ich ein sehr großes Problem mit diesem Hörsaal, weil man da auch irgendwie nichts machen konnte. Es wurde dann im Endeffekt so gelöst, dass man eine Freundin von mir jetzt dafür bezahlt, dass sie quasi meine Assistenz ist, indem sie den Stufenweg geht und mir die Tür aufmacht von innen. Also ich habe halt sehr, sehr viel Kompliziertes gesehen, auch wenn es theoretisch irgendwie möglich wäre, da bin ich voll bei Leo. Aber es ist halt irgendwie nicht so einfach gewesen, ganz oft das umzusetzen. Und ich glaube halt, dass man mit einer unsichtbaren Behinderung einfach nochmal vor ganz anderen Hürden, gar nicht Schlimmeren, aber halt anderen steht, als jemand mit einer sichtbaren Behinderung.
Karina: Hannah, hattest du… Also das mit der unsichtbaren Behinderung finde ich immer ganz spannend, weil ich das ja auch ganz gut kenne. Jetzt habe ich ja auch noch eine Erkrankung, die kein Mensch kennt. Ich habe das Gefühl, das ist bei deiner Behinderung oder Erkrankung ähnlich.
Hannah: Genau
Karina: Hattest du auch das Problem, weil du eine junge Frau, der sieht man nichts an, hattest du das Problem, dass du gewisse… Ich weiß ja gar nicht, ob du da, was weiß ich mehr, Prüfungszeit oder irgendwelche anderen Anpassungen für die Behinderung, die du erstreiten musstest, oder so. Aber hattest du das Problem, dass du irgendwelche Leute hattest, die einfach komplett angezweifelt haben, dass du eine Behinderung hast?
Hannah: Ja, das hatte ich ganz oft, auch im medizinischen Kontext. Und das halt nie damit gerechnet wurde, also dass ich halt alles bis ins kleinste Detail erklären musste. So, irgendwann war es für mich halt sinnvoll, da hatte ich noch keinen Rollator, jetzt bin ich mit Rollator unterwegs, da hatte ich noch keinen, da brauchte ich aber dann irgendwann eine Sitzmöglichkeit, weil ich einfach nicht 20 Minuten oder so mehr stehen konnte. Das musste ich aber halt dann jedem Prüfer einzeln wieder erklären, warum und welcher Hintergrund und warum das jetzt bei mir so und früher nicht so und jetzt doch und warum nur da und wie ich das denn mit den Treppen mache und überhaupt alles. Das ist schon sehr ermüdend, wenn man das immer so wiedererzählen muss, weil ich halt auch einfach als Studentin, die mit einer unsichtbaren Behinderung angefangen hat, überhaupt nicht informiert wurde über Beratungsmöglichkeiten oder was du jetzt angesprochen hast, so Nachschiedsausgleiche und überhaupt keine Ahnung hatte, was man da beantragen könnte oder sollte und das erst im Laufe der Zeit mir quasi selber erworben habe, wobei ich immer noch nicht glaube, dass ich da jetzt voll den Durchblick habe.
Raúl: Und das in einem Medizinstudium, muss man sich mal vorstellen.
Jonas: Habt ihr denn auch quasi das Gefühl, dass eure fachliche Kompetenz aufgrund eurer Behinderung angezweifelt wird?
Hannah: Also das habe ich ehrlich gesagt eher mit meinem Geschlecht als mit meinen Behinderungen, die man inzwischen sieht. Ich habe das Gefühl, dass viele Patient*innen eher das Gegenteil tun, dass sie denken “Wow, der sitzt im Rollstuhl und der ist Arzt, Leo, da muss der ja richtig gut sein, sonst hätte er das ja nicht geschafft.” Also dass eher so interpretiert wird, dass man dann noch viel toller ist. Das wurde mir zumindest öfter mal entgegengebracht. So eine krasse Bewunderung für die Leistung und dann halt auch voll der Überflieger. Und wenn ich dann sage, ja, ich schreibe eigentlich so im Durchschnitt so dreien in den Prüfungen und dann ist man so “Wow, ich dachte, du wärst richtig viel besser noch.” Ja, das ist eher so, was ich höre, was angenommen wird. Und ja, eher mit meinem weiblichen Geschlecht assoziiert kommen immer noch so Sachen, gerade von Leuten der älteren Generation, die dann sagen “Wo ist denn der Arzt und kann ich vielleicht mal mit ihrem Kollegen sprechen?” Oder ja, sowas in der Art.
Raúl: Das heißt, du hast schon einen Patientenkontakt?
Hannah: Ja, genau. Also ich bin im zweiten Teil meines Studiums und das ist ein bisschen kompliziert. Ich sage immer, es ist so ein bisschen wie Bachelor-Master. Also ich bin quasi im Master jetzt. Und der erste Teil, der so dem Bachelor entspricht, da ist sehr viel Theorie, zumindest früher gewesen. Und der zweite Teil ist dann eher in der Klinik und eher mit Patienten, in dem bin ich gerade. Und es gibt inzwischen Unis, die das anders machen und mehr mischen mit Theorie und Praxis. Die Charité macht das zum Beispiel, glaube ich. Aber wir in Essen, wir sind immer noch in den alten Strukturen der klaren Trennung.
Leo: Das ist ja auch klassisches Westdeutschland, ne, in Essen?
Jonas: Aber erlebst du auch Bewunderung? Nach dem Motto “Kann nicht laufen, aber dann muss ja quasi eine Ausgleichsfähigkeit da sein”, also dann ist es total intelligent und deswegen Medizin, das passt ja wie Arsch auf Eimer.
Leo: Ja, voll. Es ist tatsächlich, wie Hannah sagt, ich glaube, da ist diese Überinterpretation des Ausgleichs der Behinderung sozusagen in den Köpfen der Menschen schon drin, dass die halt denken, okay, der ist ja auch noch promoviert, der muss ja bald Professor sein und so weiter. Und ehrlicherweise ist es halt genauso. Ich habe nach der Hälfte des Studiums meinen Schreibtisch rausgeschmissen, weil ich irgendwie keinen Bock hatte zu lernen und hatte noch nicht mal einen Schreibtisch in der Wohnung, ehrlicherweise. Und war, glaube ich, wirklich ein mittelmäßiger Student und hatte ehrlicherweise auch ein Abi mit 2,4. Also ist jetzt auch dann auch immer die Erwartungshalte, dass uns alle denken, ich hatte irgendwie ein 1,0er Abi. Das war bei Nichten so. Und das, was Hannah aber auch nochmal meinte, ich glaube, das ist ein ganz krasser Punkt eigentlich. Darum soll es heute ja eigentlich gar nicht gehen, aber es ist ja schon, dass weibliche Personen in der Medizin, das ist bei uns auch ganz häufig so, dass wir in der Visite irgendwie durch die Notaufnahme, ich arbeite in der Notaufnahme, da bin ich fest angestellt, dass wir irgendwie, wir machen morgens immer eine Übergabe mit Visite und dann stehen wir am Bett des Patienten und dann, ja, denkt der Patient, die Patientin, irgendwie die Oberärztin wäre irgendwie die Medizinstudentin und ich wäre irgendwie der Oberarzt. Was natürlich völliger Irrsinn ist und völliger Quatsch, weil das bin ich halt nicht. Und genauso wird den weiblichen Kolleginnen und Kollegen, egal jetzt, ob sie eine Behinderung haben oder nicht, wird halt hinterhergerufen “Hallo Schwester”. Und das ist natürlich nochmal in dem Fall bei mir ein großer Unterschied, weil ich eben männlich bin und das die Patienten auch sehen und dementsprechend glaube ich, da auch leider noch ein Riesen-Vorteile herrschen, dass, obwohl ja viel mehr Frauen Medizin studieren mittlerweile, dass Ärzte quasi männlich sind und nicht Ärztinnen. Und das glaube ich nochmal, ich glaube, das ist nochmal bei mir jetzt, ich will es gar nicht als Vorteil benennen, aber nochmal ein Unterschied, dass ich halt ein männlicher Arzt mit Behinderung bin sozusagen. Deswegen ist das nochmal anders. Ein Privileg in dem Fall.
Jonas: Du arbeitest in der Notaufnahme und bist dreifacher Deutscher Meister im Schießen. Schussverletzungen, hast du damit auch zu tun?
Leo: Ja klar, wir sind in Berlin.
Jonas: Wir sind in Berlin.
Leo: Ja naja, ist jetzt vielleicht nicht so wie in Johannesburg, aber wir haben schon nicht selten einen Stich und Schussverletzungen, so ist es nicht.
Jonas: Dann bist du ja vielleicht Experte darin. Aber ich finde, dieses quasi Vorbild zu sein und dass das irgendwie vielleicht auch nicht vorstellbar ist, dass eine Person mit Behinderung Ärztin ist, finde ich, zeigt auch nochmal die Tatsache, dass Twitter jetzt x Fake-Accounts Jule Stinkesocke, die ja eine Zeit lang irgendwie aktiv war, wir haben dort in unserem Online-Magazin dieneuenorm.de auch nochmal darüber berichtet, wo es im ZDF vor kurzem eine Doku-Serie zu gab. Eine Person hat sich ausgegeben als Frau, die Ärztin ist und sehr offen über alles gesprochen hat, aber es war eben ein Fake-Account. Aber es war eben deswegen so erfolgreich, meine ich, weil eben dort ein Muster bedient wurde, was viele total inspirierend und als Vorbild gesehen haben und man sich vielleicht auch gewünscht hat, dass es vielleicht auch mehr Vielfalt, mehr Menschen mit Behinderung in solchen Berufen gibt, wo man sich vom ersten Impuls gar nicht so vorstellen kann. Deswegen ist einfach nochmal die Sache, also hattet ihr Vorbilder generell oder gab es irgendwie für euch Role Models, wo ihr gesagt habt, okay, man muss ja manchmal eigentlich auch drauf gestoßen werden, dass es möglich ist, in gewissen Bereichen tätig zu sein?
Leo: Ja, also in dem Sinne, im weitesten Sinne hatte ich insofern ein Role Model, eine gute Freundin von mir, die hat die gleiche Behinderung wie ich, also diastrophische Dysplasie, ist tatsächlich nicht nach einem alten weißen Mann benannt. Die ist Referatsleiterin hier im Justizministerium, die hat Jura studiert. Und als ich so 12, 13, 14 war, da war sie Staatsanwältin und war damals Anfang 30 und dann war das für mich immer ein Riesenvorbild und die wollte auch Medizin studieren, hat das damals nicht getan. Sie ist 20 Jahre älter, weil sie es damals noch nicht so richtig durfte. Es gab quasi in der Approbationsordnung in Deutschland ein Passus, dass man körperlich und geistig unversehrt sein muss, um approbierter Arzt oder Ärztin zu sein in Deutschland. Wenn man eine erworbene Behinderung hat, sozusagen im Verlauf seines Lebens, dann wurde einem die Approbation nicht entzogen, aber man durfte quasi, ich weiß nicht, bis wann das war, das müsste man nochmal recherchieren, aber man durfte eben nicht schon einer vorhandenen Behinderung approbierter Arzt oder Ärztin sein.
Jonas: Wie mit dem Führerschein.
Leo: Ja, genau.
Jonas: Das wurde aber abgeschafft.
Leo: Zum Glück, ich habe 2011 angefangen zu studieren im Wintersemester, da war das zum Glück nicht mehr so. Aber genau, das war für mich schon so ein Role Model, aber ich hatte keinen, tatsächlich hatte ich keinen Role Model in dem Sinne, dass ich, ich kannte vorher niemanden so richtig als Arzt oder Ärztin mit einer Behinderung. Also so einen Role Model hatte ich tatsächlich dann nicht.
Jonas: Dr. House?.
Leo: Ja, ja, also mag ich auch sehr, muss ich sagen, aber ja.
Raúl: Und bei dir, Hannah?
Hannah: Bei mir war es so, dass ich schon in der Oberstufe so gemerkt habe, dass ich irgendwie es in Richtung Medizin oder Naturwissenschaften machen will. Und ich habe ja erst so mit, ja, so 18 vielleicht wirklich verstanden, dass ich eine Behinderung habe und dass das auch stärker werden wird so. Ich hatte aber in meiner Jugendzeit wirklich überhaupt keine Vorbilder in irgendeiner Form, die in irgendeiner Form eine Behinderung hatten. Leider weder in Medizin noch in irgendwelchen anderen Bereichen oder so. Ich habe dann über Instagram zum Glück sehr schnell nach meiner Diagnose und eigentlich auch schon davor, also als ich dann mehr in die Bubble reingekommen bin, Leute kennengelernt. Und ich würde sagen, dass mir das enorm viel gebracht hat. Auf der einen Seite Leute kennenzulernen, die halt die gleiche Diagnose haben wie ich, aber auch Leute, die irgendwie das Gleiche machen wie ich. Das ist jetzt ein bisschen sehr übertrieben, aber halt irgendwie Aktivismus machen wie Karina oder wie Raúl oder irgendwie Medizin machen. Und ja, Leo, ich habe dich auch auf Instagram entdeckt und das fand ich dann auch sehr cool. Und ich glaube, dass das was sehr Wichtiges ist, dass das auf Social Media mehr präsent ist, weil sich das dann mehr jüngere Leute auch zutrauen, so einen Weg einzuschlagen und es halt mal zu versuchen, wenn es einem liegt und Spaß macht.
[musikalischer Trenner]
Jonas: Eine kurze Unterbrechung für einen wichtigen Hinweis – und nein, es ist Gottseidank kein medizinischer Notfall. Wir freuen uns sehr euch mitzuteilen, dass wir auch in diesem Jahr mit unserem Podcast live zu sehen und zu hören sein werden. Am Samstag, den 29. März, sind wir ab 15.15 Uhr auf der Leipziger Buchmesse und sprechen auf dem Forum offene Gesellschaft über Behinderung in der Literatur. Wir schauen, wie authentisch Behinderung in der Belletristik dargestellt wird und haben ein paar Buchempfehlungen im Gepäck. Keine Bücher, in denen der Mörder immer der Gärtner ist oder ganz plötzlich die alte Jugendliebe auftaucht und Beziehungen zum Wanken bringt, sondern Bücher, in denen Behinderung und Inklusion einen Rolle spielen.
Wir freuen uns, euch am 29. März um 15.15 Uhr auf der Leipziger Buchmesse zu treffen. Weitere Informationen findet ihr in den Shownotes auf dieneuenorm.de
[musikalischer Trenner]
Jonas: Ich hatte ja anfangs gesagt, dass wir quasi schon häufig irgendwie das Thema Medizin gestriffen haben. Also sei es in einer Podcast-Episode, wo wir darüber gesprochen haben, was so die Unterschiede zwischen Leben in der Stadt, Leben auf dem Land ist und wir relativ schnell bei so Gesundheitsversorgung irgendwie gelandet sind oder generell das Thema Barrierefreiheit. Häufig wird aber natürlich irgendwie auch versucht, wenn wir das Thema Behinderung, Inklusion beleuchten, dann eben nicht immer nur auf das Medizinische zu gucken, nicht immer zu unterscheiden zwischen “Oh, die Person ist krank und diese Person ist gesund”, sondern eben zu gucken, hat eine Behinderung oder hat keine Behinderung. Wie ist es für euch, die ja im medizinischen Kontext, in der Medizin unterwegs seid, mit diesem Thema Menschen heilen zu wollen, sie von Leid zu erlösen oder für sie ein besseres Leben zu machen, das in Kombination mit dem großen Thema Behinderung. Wie passt das für euch zusammen?
Leo: Ich glaube, es ist ein Riesenfeld, was du jetzt alle sprichst. Ich glaube, am Ende ist es die große Frage, was ist die Definition von Krankheit und was ist die Definition von Behinderung. Also ist eine Behinderung gleichzusetzen mit einer Krankheit und ist eine Behinderung gleichzusetzen mit einem Leidensdruck? Und ich würde sagen, nein. Also ich habe zwar eine angeborene Behinderung, aber die sehe ich primär jetzt erstmal nicht als Krankheit. Diese Behinderung hat vielleicht Symptome und diese Symptome können an manchen Tagen oder an Momenten schlechter sein und an anderen Momenten weniger oder einfach nicht vorhanden und daraus ergibt sich dann im nächsten Punkt Leidensdruck. Das Wort Leid ist ein blödes Wort, aber es ist schon Leidensdruck und daraus ergibt sich ja quasi die Tatsache. Also um es mal ein bisschen plastisch darzustellen, ich würde ja jetzt nicht sagen, okay, ich rolle jetzt in die Notaufnahme und sage, hallo, hier bin ich, helft mir, weil heute ist irgendwie Mittwoch und ich hatte irgendwie Nachtdienst und fühle mich irgendwie schlecht, aber es liegt halt nicht an meiner Behinderung. Und wenn ich jetzt aber plötzlich irgendwie mir beim Gurkenschälen zu Hause in den Finger schneide und eine Wunde habe, dann würde ich schon ins Krankenhaus gehen und das ist ja unabhängig von meiner Behinderung. Das ist dann ja eine akute Verletzung/Krankheit und deswegen gehe ich dann in die Notaufnahme und lasse mich da behandeln. Das ist erstmal so das eine und dann ist es aber ja auf der anderen Seite auch an dem medizinischen Personal, das ist dann ja auch egal, ob Pflegekräfte oder Ärztinnen und Ärzte auch dazu in der Lage zu sein, zu unterscheiden zwischen Behinderung und Krankheit und aber auch dann im Zusammenspiel, und das ist wieder ganz wichtig, mit dem Menschen, der vor einem sitzt, liegt, steht, zu definieren, was ist denn jetzt eigentlich ein Ist-Stand, also die Behinderung zum Beispiel, und was ist quasi jetzt gerade etwas, was einer medizinischen Betreuung bedarf, also quasi einer Veränderung dieses Ist-Standes, also zum Beispiel eben eine Verschlechterung eines Symptoms der Behinderung und der Mensch braucht Hilfe in dem Moment medizinisch. Und dann ist es wiederum an diesem medizinischen Personal, da Hilfe anzubieten in Form von Medikamenten, in Form von was auch immer, zum Beispiel auch in Form von Gips bei gebrochenen Knochen, um eben wieder diesen alten Ist-Stand der Behinderung herzustellen, mit dem diese Person eigentlich total zufrieden ist im Rahmen dieser Behinderung.
Karina: Darf ich da kurz reingrätschen?
Leo: Ja, bitteschön.
Karina: Ich habe jetzt sehr viel. Also es gibt ja diese verschiedenen Modelle von Behinderung, und das wisst ihr ja wahrscheinlich auch beide, ihr seid ja auch beide aktivistisch unterwegs, dass gerade in der Medizin das medizinische Modell immer noch sehr deutlich vorherrscht und für unsere Hörer*innen, die das vielleicht noch nicht so kennen, das medizinische Modell von Behinderung sieht Behinderung quasi als das Problem an von der Person und das Hauptziel ist die Heilung oder die irgendwie Linderung. Also es geht viel um, die Person wird reduziert auf eine Diagnose und die Person ist das Problem und nicht irgendwie das Umfeld, das halt nicht inklusiv ist. Das ist was, was ich auch ganz oft im Medizinbereich treffe, aber bei dir klingt das, Leo, ja sehr viel differenzierter so, ne? Also bei dir klingt das irgendwie aus einer Mischung von irgendwelchen Modellen oder so. Bringt ihr da auch irgendwie eure eigene Perspektive von Behinderung mit ein und habt deswegen einen anderen Blick drauf? Oder ist es einfach so, dass mittlerweile Medizin so modern ist, dass eure Kolleg*innen das irgendwie auch so verstehen?
Hannah: Ich glaube, im Optimalfall würden sie es auch so verstehen und ich glaube, dass das auch immer mehr so ist. Also wahrscheinlich jetzt vor allem zum Beispiel in meinem Umfeld oder wahrscheinlich auch in Leos Umfeld, dass Kolleg*innen dafür halt dann nochmal mehr sensibilisiert sind, als dass jetzt andere sind. Trotzdem glaube ich, dass dieser Entwurf, den Leo gemacht hat, den ich voll unterstützen würde, dass das sehr unterschiedlich ist von Person zu Person, wo sich die Behinderung bewegt und ob mal Teile von ihr ja in eine Richtung von einem Leiden reingehen. Weil für mich würde ich jetzt auch sagen, dass bei mir meine Behinderung sehr stark ab ist von meiner Gesundheit, weil ich würde sagen, ich bin gerade gesund und wenn ich Fieber habe und im Bett liege, bin ich krank und wenn ich keine Ahnung vom Auto angefahren werde, bin ich verletzt. Und das sind für mich alles unterschiedliche Zustände. So von mir und haben so miteinander erstmal nichts zu tun. Aber ich glaube, dass das für jeden unterschiedlich ist und dass eine Behinderung, wie Leo gesagt hat, durchaus auch Symptome inkludieren kann, die dann irgendwie, wenn sie schlimmer werden oder wenn sie zunehmend sind oder wenn irgendwas passiert ist, dass sie dann zu einem Leiden werden und dann auch in Richtung einer Krankheit gehen können.
Karina: Also ich finde das ganz spannend mit gesund und krank. Also ich würde mich glaube ich per se schon generell so als chronisch krank bezeichnen, aber offensichtlich gibt es dann auch noch akut krank, wie Hannah sagt, wenn man gerade Fieber hat oder einen Infekt oder so. Wie ist das bei euch? Würdet ihr euch generell als nicht gesund oder krank bezeichnen?
Raúl: Es heißt ja offiziell Glasknochenkrankheit, meine Behinderung, also Volksmund eher. Offiziell heißt es Osteogenesis Imperfecta.
Jonas: Gibt es auch Plusquamperfekta?
Raúl: Ne, nicht Plusquamperfekta, sondern Imperfecta. Und da schwingt natürlich das Wort Krankheit immer mit, aber ich selber empfinde mich nicht als krank. Weil wenn ich krank bin, dann habe ich, wie Hannah sagt, eine Fieber oder eine Erkältung oder irgendeinen Infekt. Ich bin jetzt verletzt, weil ich gestürzt bin und mir Knochen gebrochen habe, so wie andere auch verletzt wären, wenn sie gestürzt wären. Und ich finde es manchmal schwierig, wenn ich beim Arzt bin oder Ärztin, da dann auf Fachpersonal zu treffen, die in der Lage sind, das zu unterscheiden. Also es dauert nicht lange, bis die Leute dann fragen, was ist denn ihre Grunderkrankung und kann das zusammenhängen und so. Mein Hausarzt ist inzwischen so gechillt, dass er sagt, naja, sie haben ein Fieber.
Hannah: Ja, ich finde es ganz interessant, weil ich glaube, ganz kurz, sorry, Jonas, ich gehe sofort weiter, aber ich glaube, dass das bei mir so eine mega feine Abgrenzung von den Wörtern ist, weil ich glaube, ich würde, wie Raúl gerade gesagt hat, auch nicht sagen, ich bin krank, sondern dann eher, ich bin gesund. Wenn jetzt jemand fragt, bist du chronisch krank, wird es für mich schon schwierig, dann ist es wahrscheinlich noch eher ein Nein. Aber wenn jemand fragt, hast du eine chronische Erkrankung, dann weiß ich gar nicht mehr, was ich sagen soll. Weil ich finde, Erkrankung ist für mich irgendwie wieder offener. Und das sagen zum Beispiel auch viele mit meiner Diagnose, sagen, sie haben eine chronische Erkrankung und damit fühle ich mich persönlich irgendwie wohler. Aber ich finde es auch total schwierig.
Jonas: Mir fällt gerade die Geschichte ein von der Moderatorin und auch, früher hat sie Poetry Slams gemacht, ich weiß gar nicht mehr, ob sie es immer noch macht, Ninia LaGrande war mal bei dir in deiner Talkshow zu Gast, Raúl, wo sie in einem Slam Poetry Text mal von einem Erlebnis erzählt hat, wo sie als kleinwüchsige Frau bei ihrer Gynäkologin war und die dann total erschrocken war im Sinne von, oh mein Gott, ihre Gebärmutter ist ja ganz klein. Und sie dann sagte, ja, alles ist an mir kleiner. Also diese Sensibilität dann quasi bei Besuchen bei Ärztinnen eben zu gucken, was ist der Grundstatus, was ist so gegeben und was ist dann wirklich die Erkrankung. Aber um auf deine Frage, Karina, zurückzukommen im Sinne von medizinisches Modell, ich finde es immer so wichtig eben auch zu gucken, es gibt ja auch das soziale Modell von Behinderung. Also nicht nur, dass man eben eine Behinderung hat und eine Diagnose dahinter steckt, sondern eben auch, dass man behindert wird. Und ich sage immer sehr gerne, dass ich selten morgens irgendwie aufstehe und dann sage, guten Morgen Jonas, du Mensch mit Behinderung. Und ich merke meine Behinderung erst dann, wenn ich quasi auf die erste Barriere stoße beziehungsweise die Umwelt nicht auf mich angepasst ist. Also dieser Fokus auf behindert werden in diesem Kontext Behinderung, den nochmal irgendwie hervorzuheben. Deswegen finde ich es schwierig, in dem Moment mich selbst auch als krank zu bezeichnen. Gleichzeitig aber auch natürlich die Tatsache, dass es natürlich manche Erkrankungen oder manche auch mit Behinderung eingehenden Dinge gibt, die trotz alledem behandelbar sind oder heilbar sind oder herauszögerbar sind. Deswegen ist auch dieses sowohl aus aktivistischer Sicht zu sehen, als auch natürlich aus meiner Alltagsperspektive. Wir versuchen natürlich das Thema Behinderung wieder etwas positiver zu besetzen oder zu sagen, es ist nicht schlimm eine Behinderung zu haben und nicht alle Menschen leiden an ihrer Behinderung. Aber natürlich die Tatsache zu sagen, auch das ist eine Perspektive, die wichtig ist und die wir auch zulassen können. Man darf auch an seiner Behinderung leiden. Und das wäre auch mal eine Frage an euch. Wenn ich persönlich die Wahl hätte, zwischen meine Behinderung zu haben und keine Behinderung zu haben, würde ich glaube ich immer sagen, ich hätte lieber keine Behinderung. Wie geht es euch damit?
Leo: Ich antworte kurz auf deine Frage, aber dann muss ich nochmal kurz auf etwas zurückkommen, was ihr eben gesagt habt. Also ich glaube, ich würde meine Behinderung gerne in dem Moment einfrieren, in dem sie gerade ist. Also meine Behinderung ist halt auch tendenziell schlechter werdend, von vielen Aspekten her. Und ich glaube, ich würde nicht meine Behinderung abgeben wollen, weil sie mich schon sehr zu dem gemacht hat, was ich bin. Das ist jetzt sehr philosophisch, aber ich glaube, ich würde sie schon nicht zwingend abgeben wollen, aber würde sie gerne an dem Punkt behalten, wie sie jetzt gerade ist. Ich möchte aber auf eine Sache zurückkommen, weil jetzt sind wir glaube ich, jetzt hier im Raum und auch im virtuellen Raum, sind wir jetzt irgendwie fünf Menschen, die eigentlich relativ jung sind mit Behinderungen, die auch eigentlich sehr gut mit ihrer Behinderung glaube ich umgehen können. Und was ich aber alltäglich auch sehr viel erlebe, sind aber auch Menschen, die, also wir können das sehr gut abgrenzen jetzt gerade. Und ich glaube, am Ende ist es aber auch so, es gibt sehr, sehr viele Menschen, die erlangen eine Behinderung. Ich sage immer auch so platt, kein Mensch stirbt ohne Behinderung. Ich glaube, das ist immer auch noch mal ganz wichtig, auch jetzt gerade im Bundestagswahlkampf noch mal zu vergegenwärtigen.
Raúl: Das ist ein starker Satz.
Leo: Ja, und deswegen geht uns Inklusion alle was an am Ende. Und was ich aber sagen will, ich sehe so viele ältere Menschen auch in der Notaufnahme, die sind irgendwie 87 und hatten einen Schlaganfall und kommen dann zum, wörtlich siebten Mal innerhalb von drei Wochen in die Notaufnahme und wollen geheilt werden. Und das ist halt nicht realistisch. Ich glaube, man muss halt auch immer, auch Jonas, du hast gerade richtig und treffend gesagt, es gibt natürlich auch Behandlungsmethoden für Behinderungen und es gibt auch Heilungsansätze oder Symptomverbesserungsansätze für bestimmte Behinderungen, auch für erworbene Behinderungen. Aber wenn ich einen Schlaganfall hatte und es ist Gehirngewebe untergegangen, dann wird es in diesem Leben nicht wiederkommen. Und da gibt es dann Symptomverbesserungen, es gibt Hilfsmittel, es gibt Umfeldverbesserungen, um Barrieren abzubauen. Aber dieser Wunsch der Heilung, und den treffe ich tatsächlich auch oft an bei älteren Menschen, das ist unrealistisch. Und ich glaube, da muss man auch noch mal ganz klar definieren, was kann Medizin, was soll Medizin können und dann aber wiederum auch die Erwartungshaltung der Patientinnen und Patienten zu definieren. Und ich glaube, das ist total wichtig. Und deswegen ist es, glaube ich, so eine, das ist schwierig, das weiß ich, aber eine extrem wichtige Mischung zwischen dem Angebot, welches die Ärztinnen und Ärzte den Patientinnen und Patienten geben können, und aber auch die Erwartungshaltung der Patientinnen und Patienten, dass eben nicht alles möglich ist. Man lebt eben auch nicht ewig, das ist nun mal halt so. Und dass man da irgendwie zusammenfindet, und das wird heutzutage zum Glück auch mittlerweile auch ja viel gelehrt an deutschen Universitätskliniken, aber dieses Shared Decision Making, also, dass man mit den Patientinnen und Patienten zusammen überlegt, wie man vorangeht. Also dieses alte Konzept, dass der grauhaarige alte weiße Arzt vor dem Patientenbett steht und sagt, so machen wir das, Frau Mayer, dass das halt überholt ist, sondern dass man sagt, okay, wir haben die und die Optionen jetzt für Ihre zum Beispiel akute Erkrankung oder eben für Ihre Behinderung, haben wir jetzt die und die Optionen, ich kann Ihnen das anbieten und Sie können mit mir zusammen, ich befähige Sie quasi dazu mit meinem Fachwissen, was ich dann eben dem Menschen aufbereite, in einer verständlichen Art und Weise befähige ich den Menschen dazu, eine Entscheidung möglichst zusammen mit mir als Arzt zu treffen, wie er gerne weiter therapiert werden möchte, in welche Richtung auch immer. Und das kann ja auch sein, dass der Mensch das gar nicht möchte und zum Beispiel stirbt. Das ist dann eben Palliativmedizin. Also das ist ja auch eine total adäquate Entscheidung.
Jonas: Und ich glaube, das ist total wichtig und extrem schwer wiederum aber auch, dass man eben so offen an die Patientinnen und Patienten herantritt. Wie geht es dir, Raúl, Karina, Hannah? Würdet ihr die Heilung annehmen, zulassen oder auch wollen?
Karina: Also mir fällt das ultra schwer, weil auf der einen Seite da so viel Druck aus der Community selber kommt auch. Also wenn man nur das Wort irgendwie Heilung in den Mund nimmt, kriegt man dann schon irgendwie gleich Beschimpfungen, wie abelistisch man ist und so. Ich verstehe auch, woher das kommt. Also das ist ja einfach dieser Narrativ der Heilung. Behinderung als etwas Schlechtes zu sehen, als irgendwie ein Defizit und so, das ist ja verankert ganz tief in unserer Geschichte auch. Und das ist ableistisch, aber ich finde, das muss es halt irgendwie auch eine Mitte geben für Leute, die zum Beispiel schwere chronische Krankheiten haben. Und ich würde auch jeden Tag vor allem, also jetzt momentan habe ich eh eine extrem schlechte Phase mit super viel Schmerzen und so. In solchen Phasen würde ich sofort sagen, ja, nimm’s alles bitte.Ich würde super gerne meine Erfahrungen behalten, die ich gemacht habe die letzten 15 Jahre, seit ich chronisch krank bin, weil das einfach schon dazu beigetragen hat, dass ich viele Dinge vielleicht heute ein bisschen anders sehe als damals. Aber also ich brauche nichts von diesen Symptomen, ehrlich gesagt.
Hannah: Also ich glaube, ich wäre ziemlich bei Leo und würde da ziemlich genau die gleiche Antwort geben. Friedreich’s Ataxie, für die, die es vielleicht das erste Mal hören oder so, ist sehr schnell, also im Vergleich zu dem, was du erzählt hast, Leo, ist es deutlich schneller fortschreitend, so sag ich mal. Und dieses Leben damit, dass dir Fähigkeiten quasi jeden Tag abhanden kommen und halt immer mehr abhanden kommen, aber du nicht damit rechnen kannst, wann und nicht damit planen kannst, was du in zwei, drei, fünf Jahren, was genau für dich passen würde. Das wäre gerne etwas, was ich nicht mehr brauchen würde so. Aber ja, also meine Erkrankung hat mir auch wahnsinnig viel gegeben und ich bin halt in einer wahnsinnig privilegierten Situation aufgewachsen hier in Deutschland und wurde von meiner Familie und meinen Freunden immer unterstützt und kann deshalb sagen, dass ich ein sehr, sehr tolles Leben führe mit meiner Behinderung. Und deshalb würde ich die, so wie sie jetzt ist, gerne einfrieren und behalten.
Karina: Darf ich dich da kurz fragen, wie gehst du denn in Bezug auf dieses Nie-Wissen, wann es irgendwie fortschreitet und so um mit der Zukunftsplanung? Also hast du da welche Coping-Mechanismen und aber auch, wie planst du deine Zukunft?
Hannah: Ich glaube, das hier ist mein größter Coping-Mechanismus. Also Aktivismus ist, glaube ich, mein Hauptbewältigungsmechanismus. Ansonsten war ich in meiner Jugend immer ein sehr planungsfreudiger Mensch. Ich glaube, ich bin das auch immer noch. Ich habe aber halt abgewöhnt, so alles durchzuplanen und habe gemerkt, dass man mit meiner Behinderung und meiner, ich sage es wieder, meiner chronischen Erkrankung halt nicht genau sagen kann, wie es am besten funktioniert nächstes, übernächstes in fünf Jahren. Und das ist halt einfach was, was mir auch enorm viel gegeben hat, dass ich halt mehr so im Moment lebe und genau, dass so wie ich in die Zukunft blicke. Und ja, ich glaube, was auch viel Einfluss darauf hat, ist, dass ich inzwischen Kontakt habe mit anderen Menschen, die die gleiche seltene Diagnose haben. Und da sind ein paar bei, die ja Mama geworden sind. Und das sind dann natürlich so Sachen, die man dann sehr gerne sieht, als ich jüngere Betroffene und sich dann denkt, ah schön, vielleicht geht das ja mit meiner Behinderung auch oder so ähnlich.
Raúl: Ich würde da gerne wirklich anknüpfen, um deine Frage zu beantworten, Jonas, ob ich mir meine Behinderung wegwünschen würde, wenn man mich frügte. Ich würde sagen, nö. Aber ganz einfach aus dem Grund, weil ich es nicht anders kenne. Und wenn ich zurückblicke, dann hatte ich, glaube ich, wirklich oder habe ein schönes Leben. Und natürlich sind Schmerzen doof, aber ich meine, Schmerzen kommen und Schmerzen gehen. Und ich möchte das wirklich nochmal unterstreichen, was Hannah gesagt hat und auch Leo gesagt hat, dass man in der Tatsache behindert zu sein, man wirklich auch ganz viel lernt. Also man lernt das Leben. Man lernt das Leben zu bewältigen, man ist kreativ, Lösungsansätze zu finden. Ich würde sagen, mich hauen die Sachen nicht so schnell aus der Bahn. Ich sehe auch oft noch in finsteren Zeiten irgendwie das Licht, das Positive. Und auch dieses “im Moment-Leben”, das klingt so kitschig, das klingt immer so wie Hollywood, aber das ist wirklich etwas, was man lernt, wenn man behindert ist oder chronisch krank ist, weil es kann eben so schnell vorbei sein. Und ich sehe manchmal, keine Ahnung, in der kleinsten Sache etwas Schönes, obwohl ich jemand bin, der eigentlich als sehr ungeduldig wahrgenommen wird und Unrast irgendwie lebt. Aber ich kann auch einfach da sein und im Bett liegen und einfach denken, schöner Tag.
Jonas: Ja, klingt gut.
Raúl: Ich glaube, das muss man Betroffenen auch glauben, wenn sie das sagen. Vielleicht sind wir auch so ein bisschen Hollywood-verseucht oder auch so in diesen ganzen, keine Ahnung, Groschen-Romanen verseucht, aber ich kann das total fühlen, was Hannah da gesagt hat.
Jonas: Ich finde es aber auch nochmal, weil du, Karina, das eben gesagt hast mit dem Thema Heilung und wie es die Community sieht. Aktuell geistet quasi auch bei Instagram eine Kampagne durch, gerade mit dem Thema “Küss dich wach”, wo es um Heilungen geht von Menschen mit Lernschwierigkeiten, beziehungsweise um das Thema geht, dass eben Lernschwierigkeiten nicht nötig sein müssen. Und es ist eine Kampagne, wo ganz viele bekannte Personen mitmachen und diese Kampagne unterstützen. Und wir haben auch bei uns im Magazin auf www.die-neue-norm.de dazu nochmal einen Kommentar von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die eben genauso sagen, okay, natürlich ist es jedem selbst überlassen, aber dieser Grundtenor, dass Behinderung nicht sein muss, dass das doch so schlimm ist und dass Menschen darunter leiden und all das, was dazu gehört, einfach grundlegend eine sehr ableistische und behindertenfeindliche Haltung ist und, glaube ich, auch in dem Sinne nicht zielführend ist für Inklusion.
Leo: Ja, aber ich glaube trotzdem, ich greife das nochmal auf, weil ich es wichtig finde, ich glaube, wir dürfen das nicht vergessen, dass viele Menschen gerade, und das hat Raúl eben unterschieden und das ist eine ganz wichtige Unterscheidung, es gibt Menschen, die haben eben eine angeborene Behinderung oder eine Behinderung, die sie in jungen Jahren bekommen oder es gibt Menschen, die eine Behinderung erwerben durch eine Erkrankung im höheren Alter, durch einen Unfall, was auch immer. Und das ist ein Riesenunterschied, also das ist schon mal Punkt eins. Und in meiner täglichen Arbeit als Arzt ist es aber auch, wir sind jetzt alle sehr aufgeschlossen zu dem Thema, ich glaube, wir dürfen nicht vergessen, dass es ganz, ganz viele Menschen gibt, die geben sich dessen total hin. Also die kommen wirklich in die Notaufnahme oder gehen halt generell zum Arzt und sagen, ja, ich bin ja behindert und mein Leben ist vorbei. Und die haben gar keine Perspektive und die sind auch, die wollen dann, dass man sie heilt. Und das ist halt, und ganz oft, das erlebe ich wirklich auch häufig, ist es auch so, da bin ich dann auch relativ streng, muss ich sagen. Ich glaube, also ich hoffe sehr, dass ich es immer im Sinne des Menschen tue, aber kommt halt irgendwie, also ich nenne euch ein Beispiel, in der Notaufnahme sind keine Angehörigen erlaubt. Und dann kommt, hatte ich jetzt letzte Woche erst im Spätdienst, ein junger Mann, der war Ende 20, der nutzte einen Rollstuhl und da war der Vater mit dabei. Und dann ist der Vater dem nicht von der Seite gewichen. Und dann habe ich gesagt, okay, Angehörige sind hier nicht erlaubt. Brauchen Sie bei irgendwas Hilfe, was nur Ihr Vater machen soll oder darf, dann ist es für mich in Ordnung. Und dann meinte dieser junge Mann, Ende 20, nö, brauch ich nicht. Und ich meinte, ja wunderbar, dann können Sie ja jetzt rausgehen, zu dem Vater. Weil der Ende 20 war, also ich sehe es halt nicht, dass der sich so seiner Behinderung hingibt, in dem Fall der Vater ja aber auch, dass der dem nicht von der Seite weicht. Und ich hoffe sehr, dass ich, wie gesagt, offen am Anfang diese Möglichkeit skizziert habe, dass er da bleiben darf, wenn es irgendwas gibt, wo er quasi seinen Vater benötigt in dem Fall. Hat er aber ja verneint, also fliegt natürlich dieser Vater raus. Also weil der Vater fliegt bei jedem anderen Ende 20-Jährigen genauso raus. Also warum soll der mit drin bleiben? Also es ist ein ganz normaler Ende 20-Jähriger gewesen, mit einer körperlichen Behinderung. Und das ist, glaube ich, ja, ich glaube, wie gesagt, ich glaube, das dürfen wir nicht vergessen, dass das auch viele in diesem Land gibt. Gerade viele ältere Menschen auch tatsächlich, die eben nicht so aufgeschlossen mit dieser Differenzierung auch zwischen Krankheit, Behinderung, Unfall und so weiter umgehen, Verletzungen. Und das es da auch viel Aufklärung noch für ältere Menschen bedarf, glaube ich.
Jonas: Deshalb, ich finde das total spannend, was du gerade ansprichst, gerade dieses ganze Themenfeld medizinische Versorgung, weil ich glaube, ich auch das Gefühl habe, dass dieses Bewusstsein für den eigenen Körper, Bewusstsein für die eigene Behinderung oder Bewusstsein für Behinderung an sich, wer hat das nicht mehr als eben betroffene Personen, also Menschen mit Behinderung. Und deswegen würde ich sagen, dass wir uns in der zweiten Folge unseres Podcasts über Medizin mal ein bisschen dem Thema widmen, wie sieht denn eigentlich die medizinische Versorgung für Menschen mit Behinderung aus? Du hast am Anfang gesagt, dass natürlich das Krankenhaus für dich als Arzt sehr barrierefrei ist, aber wie sieht es eben aus mit Zugängen für Patient*innen mit Behinderung? Was sind Barrieren, auf die sie stoßen und wie ist eben auch dort der persönliche Umgang von Patient*innen mit Behinderung mit Ärzt*innen und dem Ganzen sich immer wieder vielleicht auch erklären müssen. Deshalb vielen Dank fürs Erste, dass ihr beide da wart, Hannah und Leo, und uns ein bisschen quasi über euch und eure Arbeit erzählt habt. Und wir werden uns dann quasi im nächsten Monat dann wieder hören zum Thema Medizin. Und Raúl, du hast es eben gesagt, das ist so ein Thema Geschichten aus den Groschenromanen. Deshalb hier auch nochmal der Hinweis, wenn ihr uns mal live erleben möchtet, den Podcast “Die Neue Norm”, dann kommt gerne vorbei. Wir sind am 29. März, das ist ein Samstag, sind wir auf der Leipziger Buchmesse live um 15.15 Uhr und sprechen über Literatur und wie Behinderung in Literatur, in Romanen, in Krimis, in Thrillern vorkommt und vor allem auch, wie authentisch sie vorkommt, wenn sie denn in diesen Büchern vorkommt. Also am 29. März um 15.15 Uhr auf der Leipziger Buchmesse. Vielen Dank, dass ihr da wart und wir freuen uns, wenn ihr dann auch in dem nächsten Monat wieder mit dabei seid. Bis dahin.
Raúl und Karina: Tschüss!
Hannah und Leo: Tschüss!