Wählen ist ein Grundrecht – doch was, wenn es nicht für alle gleich zugänglich ist? Die Bundestagswahl 2025 rückt näher, und während viele den Gang zur Urne als Selbstverständlichkeit betrachten, stehen Menschen mit Behinderungen oft vor unerwarteten Barrieren. Unsere Kolumnistin Anne Gersdorff erinnert sich an das Wählen als gemeinschaftliches Ereignis in ihrer Familie – und schildert, warum sie heute meist auf die Briefwahl zurückgreift. Was muss sich ändern, damit wirklich alle wählen können?
Die Bundestagswahl 2025 steht vor der Tür und in den aktuellen Zeiten ist es wichtiger denn je, die eigene Stimme für die Demokratie zu erheben und vom Wahlrecht Gebrauch zu machen.
Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen und weiß, wie wichtig es für meine Familie war und ist, den Gang zur Urne zu machen. So wurde in meiner Familie das Wählengehen regelrecht zelebriert. Alle haben sich dafür extra schick gemacht und sind gemeinsam zum Wahllokal spaziert. Mein Opa und mein Vater sind nach der Stimmabgabe oft noch gemeinsam ein Bier trinken gegangen, auch wenn sie nicht politisch einer Meinung waren und das Kreuz an anderen Stellen setzten. Die Wahl hat bei mir in der Familie einen hohen Stellenwert. Sie ist ein gesellschaftliches Ereignis.
Am 23. Februar 2025 werde ich selbstverständlich auch wieder meine Stimme abgeben, wobei das gar nicht so selbstverständlich ist. Ich bin zwar nicht von den Wahlrechtsausschlüssen betroffen, die lange flächendeckend für behinderte Menschen galten, die unter gesetzlicher Betreuung standen. Als Mensch mit Behinderung bin ich aber auf Barrierefreiheit angewiesen. Ich glaube ich war, seitdem ich wählen darf, erst dreimal in einem Wahllokal wählen, da es doch herausfordernder ist, als Wählen per Briefwahl zu nutzen.
Als Person, die einen Elektrorollstuhl nutzt und umfassend auf Assistenz angewiesen ist, verlasse ich mich zwar auf die Angabe des Wahlscheins, dass das Wahllokal barrierefrei sei, jedoch gibt und gab es immer wieder (nicht nur bauliche) Barrieren. Laut der wahlhelfenenden Person hätte meine Assistenz mich bei meiner Wahl beeinflussen können. Dadurch sei keine geheime Wahl gewährleistet. Ich verstehe den Aspekt, dass das Einwirken bei einer geheimen Wahl verhindert werden soll – insbesondere dann, wenn zwischen den beiden Personen ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. Zum Beispiel, wenn Eltern oder Betreuungspersonen in einer Einrichtung das Kreuz für eine Person setzen. Mir persönlich war diese Situation unangenehm, da zwischen mir und meiner Assistentin eine professionelle Ebene besteht. Ich kann das Kreuz auf dem Wahlzettel selbst setzen. Ich brauche lediglich Unterstützung, um den Zettel richtig zu platzieren, den Stift zu greifen und den Wahlzettel in die Urne zu werfen.
Schlussendlich durfte ich, nach einiger Diskussion, doch vor Ort wählen. Ich würde es heutzutage auch darauf ankommen lassen, da ich zum einen durch meine Assistenz so flexibel bin, auch in ein anderes, barrierefreies Wahllokal zu fahren und ich zum anderen auch argumentationsfreudig bin und mein Wahlrecht einfordere. Doch das sind nicht alle Menschen mit Behinderungen.
So ist es insbesondere für behinderte Menschen oftmals leichter und entspannter, auf die Briefwahl zurückzugreifen – so mache ich es mittlerweile auch. Ich finde es nur wichtig, dass trotzdem jeder Mensch die Wahl hat, wie und wo er*sie wählt. Gerade jetzt, wo die Wahl kurzfristiger geplant wurde, wurde davon abgeraten, sich auf die Briefwahl zu verlassen, wenn man sicher sein wollte, dass die eigene Stimme gezählt wird. Zu knapp erschien die Zeit zum Versenden der nötigen Unterlagen. Außerdem sind die Briefwahlunterlagen mit ihren mehrfach zu faltenden Blättern und den nicht selbstklebenden Umschlägen auch für Menschen, die in ihrer Motorik eingeschränkt sind, schwer handhabbar.
Viel schöner wäre es doch, wenn es Schulungen und Awareness-Konzepte für Wahlhelfer*innen gäbe, damit diese wüssten, wie sie mit Wähler*innen umgehen sollen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind: Wie stelle ich Wahlkabinen auf, damit Rollstuhlfahrer*innen genügend Platz haben? Wie kann ich blinde oder sehbehinderte Menschen unterstützen? Wie kommuniziere ich mit gehörlosen Personen?
So werden behinderte Menschen nicht „gezwungen“, die Briefwahl zu nutzen und wir würden mehr Begegnung beim gesamtgesellschaftlichen Akt des Wählens schaffen – und sei es danach auf ein (alkoholfreies) Bier.
Wahllokal oder #QualLokal?
Wie barrierefrei war das Wahllokal, in dem du gewählt hast? Mach mit und fülle das Formular zum Barriere-Check aus. So hilfst du dem Team von Wheelmap.org, wichtige Erkenntnisse für das zukünftige Bewertungsschema für den Ortstyp „Wahllokal“ zu finden. Weitere Infos gibt es hier.