Weihnachtsmarkt mit Langstock. Zwischen Blicken, die ich nicht sehe und Blicken, die ich nicht spüren will

Image „Die Neue Kolumne“ mit dem Zusatz „von Nadine Rokstein“.
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Die Weihnachtszeit ist da. Eine Zeit voll Harmonie, Christbaumkitsch und heißer Schokolade – oder etwa nicht? Unsere Kolumnistin Nadine Rokstein berichtet aus ihrer heutigen und ihrer jugendlichen Perspektive von realen Hindernissen und ableistischen Blicken, die ihr in der Weihnachtszeit begegnen – und warum sie diese Zeit dennoch genießt.

Ableismus in der Weihnachtszeit

Es ist Dezember. Ich mache meinen Mantel zu und lasse meinen Langstock vor mir über den Boden gleiten. Montag, Mittwoch, Sonntag – es könnte jeder beliebige Tag in der Woche sein, denn so sieht mein Alltag aus. Mit meinem treuen Begleiter in meiner Hand ertaste ich mir die Wege durch die Stadt. Gerade in der Weihnachtszeit habe ich dabei jedoch ein mulmiges Gefühl im Bauch. Mehr Menschen sind unterwegs. Mehr Blicke spüre ich – Blicke voller Mitleid, Bewunderung oder auch Irritation schlagen mir entgegen. Dabei tue ich nichts anderes als alle anderen um mich herum: leben. Ich fühle mich in das erste Jahr meiner Behinderung versetzt. In die Zeit, als ich mit 16 lachend mit einem Kakao in der Hand und meiner Mutter an der Seite auf dem Weihnachtsmarkt stand. Das erste blinde Weihnachten und der erste Weihnachtsmarktbesuch mit Langstock. Meine Mutter sah die irritierten Blicke der Menschen, als ich herumalberte und lachend unter den Lichterketten stand. Jung, behindert und fröhlich. Das passte nicht in das Konzept von verinnerlichten Denkmustern und Vorurteilen. Doch diese Bewertung steht letztendlich nur mir zu. Niemand hat das Recht, mein Leben, meine Situation oder meine Behinderung zu bewerten. Niemand sollte sich das anmaßen. Und doch passiert genau das, was mich immer wieder wütend und traurig macht. Zu wissen, dass mich andere Menschen für meine Behinderung bemitleiden, etwas, das sie selbst nicht haben wollen und damit meine Lebensrealität abwerten, tut immer wieder weh. Dass meine Behinderung als etwas gesehen wird, das zu verhindern gilt, eine Lebensrealität, die man unter keinen Umständen haben will und doch meint nachvollziehen zu können, setzt mir jedes Mal zu. Das sind Momente, in denen ich diesen Menschen gerne entgegenschreien möchte: Ich bin glücklich und meine Behinderung und ich sind Best Friends. Hört auf, mich so anzusehen und geht genauso belanglos an mir vorbei, wie an jedem anderen Menschen auch. Und vor allem: ich brauche kein Mitleid. Meine Lebensrealität ist genauso viel wert wie deine. Doch ich sage nichts. 

Barrieren auf dem Weihnachtsmarkt

Dong. Plötzlich wird der gewohnte Weg durch ein Hindernis versperrt. Ich bin auf dem Weihnachtsmarkt. Bis heute werfen mir Menschen immer noch bewundernde Blicke zu oder bemitleiden mich, besonders zur Weihnachtszeit – eine Zeit, in der einige Menschen zur Sentimentalität neigen. Dong! Und wieder geht es nicht weiter. Wieder wird mein gewohnter Weg durch einen Stand auf dem Weihnachtsmarkt versperrt. Besuche bei meiner Ärztin sind im Vergleich deutlich unkomplizierter. Weihnachtsbuden auf den Leitlinien, Kabelkanäle auf meinem gewohnten Weg oder Dekoration und Tannenbäume überall. Was für andere die Sinnlichkeit der Weihnachtszeit repräsentiert, bedeutet für mich und auch für andere Menschen: neue Barrieren. Barrieren auf Zeit. Ganz nach dem Motto: „Willkommen in der Hürdenzeit!“ Dazu gibt es in Supermärkten eine Reizüberflutung von überfüllten Läden, Stimmengewirr und vielen Menschen, die gestresst durch die Gänge irren. Orientierungslosigkeit in Supermärkten gehört dann aufgrund von Sonderaktionen, Adventskalendern und Weihnachtsschokoladenaufstellern zum Alltag.

Nicht aus der Ruhe bringen lassen und online shoppen

Es ist eine Zeit, in der es sich für mich bewährt, Geschenke und Einkäufe online zu erledigen und den ein oder anderen heißen Kakao bei mir auf der Couch zu genießen, während meine Hündin mich hoffnungsvoll anschaut. Aber auch den ein oder anderen Weihnachtsmarktbesuch lasse ich mir nicht nehmen. Ein paar Lichter genießen, „Last Christmas“ in Dauerschleife und Poffertjes mit dem eigentlich wichtigsten zu dieser Zeit für mich: Menschen, die mir etwas bedeuten. Denn meine Behinderung und ich lieben das Leben.

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