Europawahl 2024 – Transkript

Lesezeit ca. 28 Minuten

Die Neue Norm: Eine Sehbehinderung, ein Rollstuhl, eine chronische Erkrankung. Oder: drei Journalist*innen. Jonas Karpa, Raul Krauthausen und Karina Sturm sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.

Folge 51: „Europawahl 2024“

Jonas Karpa: 

So, Leute, am 9. Juni ist Europawahl, seid ihr schon vorbereitet? 

Karina Sturm: 

Nee, überhaupt nicht.

Raúl Krauthausen:

Ich habe sogar Briefwahl beantragt und sogar schon die Briefunterlagen bekommen. 

Jonas: 

Echt? Ich habe noch gar keine Wahlbenachrichtigung erhalten. Bist Du nicht da am 9.?  

Raúl:

Doch, ich bin da, aber ich dachte, ich halte mir das frei und habe überlegt, mit meiner Frau zusammen einen kleinen Wahlabend zu machen, wo wir uns hinsetzen und die KandidatInnen anschauen und dann einfach den Briefumschlag zukleben und abschicken.

Jonas:

Aber vorher abschicken. 

Raúl:

Also nicht erst am Wahlabend, sondern eine Woche vorher oder so. 

Jonas:

Karina, es ist Europawahl. Du bist ja eine Person, die weit rumgekommen ist, schon in vielen Ländern unterwegs war – ist das, was dich im wahrsten Sinne des Wortes abholt?

Karina: 

Sagen wir mal, ich bin nicht ganz so politikaffin, aber es wird besser. Es wird besser.

Jonas:

Ja gut, dass wir uns heute in dieser Podcast-Folge mit diesem Thema beschäftigen. Vielleicht kannst auch du noch etwas dazuzulernen. Herzlich willkommen zu „Die neue Norm, dem Podcast“. Zunächst einmal vielen Dank für die vielen Glückwünsche und Grüße, die wir zu unserer fünfzigsten Podcast-Episode bekommen haben. Wir freuen uns total, dass so viele von euch zuhören, unter anderem vielleicht auch in der ARD Audiothek, und uns monatlich verfolgen. In dieser Podcast-Episode möchten wir über die Europawahl sprechen, die am 9. Juni stattfindet. Und wir möchten klären, inwieweit Europapolitik für Menschen mit Behinderung relevant ist, was vielleicht schon erreicht wurde und was generell so die Forderungen an die Politik sind, wo die Europapolitik gerade in Hinblick auf Inklusion, Barrierefreiheit, Rechte für Menschen mit Behinderung auch ein bisschen regulativ einwirken kann. Bei mir sind Karina Sturm und Raúl Krauthausen. Mein Name ist Jonas Karpa. Die Europawahl findet statt am 9. Juni. Wählen gehen ist die Devise! Warum ist das prinzipiell erst mal so wichtig? Also, ich finde immer generell dieses „Wählen gehen“ … und natürlich ist das wichtig und relevant, aber bei der Europawahl habe ich noch weniger ein Gespür dafür, inwieweit das für mich persönlich Auswirkungen hat als bei der Bundestagswahl, Landtagswahl. Da ist es ja auch schon ein weiter Weg zu denken, die Partei, die dann am Ende gewählt wird, was die für mich persönlich macht. Aber bei der Europawahl ist es noch weniger greifbar. Wie ist es bei eurem Gefühl so?

Karina: 

Also, ich muss ja mal ganz ehrlich zugeben, dass ich vor zehn Jahren oder so teilweise gar nicht gewählt habe, also nur so jede zweite Wahl mal oder so, weil ich mich irgendwie darauf ausgeruht habe, es läuft alles ganz gut und man braucht mich ja nicht … so ungefähr. Das sehe ich mittlerweile auch deutlich anders, also gerade bei der Europawahl jetzt auch. Ich glaube, mir geht es hauptsächlich einfach darum, dass nicht noch mehr rechte Parteien noch mehr Stimmen kriegen und deswegen, glaube ich, zählt einfach gerade jede Stimme dagegen.

Raúl:

Ja, das ist auch meine größte Motivation, wählen zu gehen, vor allem in Zeiten wie diesen. Das war auch bei den letzten Wahlen, die ich gemacht habe, meine größte Motivation, Schlimmeres zu verhindern. Aber du hast total recht, Jonas, ich verstehe auch noch nicht so ganz, was auf europäischer Ebene gemacht wurde, was mein Leben verändert. Erst im beruflichen Kontext ist mir aufgefallen, dass es doch die ein oder andere Maßnahme gibt, z. B. den sg. European Accessibility Act, die Verpflichtung der EU-Länder, was Barrierefreiheit angeht, besser zu werden. Es bekommt dann Entsprechungen in den jeweiligen Nationen, in Deutschland ist das dann das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz. Und das hat schon Auswirkungen auf unser Leben. Ab nächstes Jahr müssen Websites barrierefrei sein, Automaten auch. Und das werden wir merken, sichtbar zumindest, v. a. wenn es um soziale Medien geht. Und mir war nicht klar, dass es eine EU-Initiative ist. 

Jonas:

Und ich finde immer dieses „Wählen gehen“ auch noch mal so wichtig, weil man es eben auch darf. Ich finde dieses … es ist nicht selbstverständlich, sage ich mal, als Mensch mit Behinderung wählen gehen zu dürfen und eben auch wählen gehen zu können.

Karina: 

Also eigentlich ist es ein Recht mittlerweile. Die UN-BRK in Artikel 29 sagt, dass jede Person das Recht hat, zu wählen. Aber in der Praxis ist es leider trotzdem nicht so. Also insgesamt gibt es ungefähr 800.000 EU-Bürger und Bürgerinnen aus ungefähr 16 Mitgliedstaaten, die aufgrund von irgendwelchen nationalen Vorschriften eben nicht wählen können. Also sei es, weil es Menschen mit sogenannten “geistigen Behinderungen” sind, sei es, weil die Lokale nicht barrierefrei sind. Aber so bleiben eben trotzdem noch sehr, sehr, sehr viele Menschen ausgeschlossen von diesen Wahlen und allen anderen Wahlen.

Jonas:

Raúl, was ist dein skurrilstes Wahlgeherlebnis, Wahllokal-mäßig?

Raúl:

Mein skurrilstes Wahllokalerlebnis war, als ich bei der Bundestagswahl wählen gegangen bin und dann über einen Hintereingang musste, weil der barrierefrei war und als ich fertig war mit dem Wählen, da war der Hintereingang versperrt. Und dann kam ich aus dem Wahllokal nicht mehr raus. Das war so das skurrilste, ist aber auch harmlos, ging noch gut aus. Ich habe gerade eine Liste von Ländern gesehen, wo verglichen wird auf EU-Ebene, welches Land welche Regeln hat. Wusstet ihr, dass sie in Italien an zwei Tagen wählen, am 8. und 9. Juni?

Karina:

Warum?

Raúl:

Ich habe keine Ahnung. In Deutschland gibt es keine Sperrklausel, also nicht diese Fünf-Prozent-Hürde, aber in Italien ist die Hürde bei vier Prozent. 

Karina: 

Wo ihr schon bei „Wusstet ihr Sachen“ seid, wusstet ihr, dass erst seit 2019 tatsächlich in Deutschland keine Wahlrechtsausschlüsse mehr sind? Ich habe den VdK ein bisschen befragt nach Hintergrundinfos und tatsächlich erst am 1. Juli 2019 wurde das in Deutschland abgeschafft, dass Menschen von Wahlen ausgeschlossen werden; das fand ich extrem schockierend. Also jetzt gibt es wohl auch die Möglichkeit zur Wahlassistenz, also das Begleitpersonen bei der Wahl unterstützen dürfen. 

Raúl:

Also, das ist ja tatsächlich interessant, darfst du zu zweit in die Kabine gehen?

Karina:

Also mit Wahlassistenz würde ich jetzt einfach mal sagen ja, ansonsten vermutlich nicht. 

Jonas:

Ja, aber das ist inzwischen möglich, zumal es dahingehend, wenn es gerade auch um Assistenzbedarf geht, natürlich auch ein bisschen das ganze Wählengehen ad absurdum führt, wenn manche Leute, so wie du Raúl, zum Beispiel Briefwahl machen, das zuhause stattfindet … wobei, glaube ich, es auch schön wäre, sich selbst eine kleine Wahlkabine zu bauen und zu sagen: „Hier, PartnerInnen, geh bitte aus dem Raum, ich wähle jetzt hier“ und sich das dann wirklich so baut, dass auf jedem Fall gar niemand zuguckt. Aber da hat man ja ebenso einen nicht-geschützten Raum. Deswegen ist das auf jeden Fall möglich.

Karina:

Ich habe auch gelesen, das ist vielleicht auch ganz spannend, in manchen Ländern dürfen behinderte Menschen zwar theoretisch wählen, aber da ist nur erlaubt, dass nur eine Person das Wahllokal bei der Stimmabgabe betritt. Und wenn die praktisch einen Betreuer haben, der da mit müsste, dann könnten die trotzdem nicht wählen. Also, da gibt es schon immer noch einen Haufen Ausschlüsse, selbst wenn die Gesetze theoretisch eigentlich ein Wahlrecht einräumen.

Raúl:

Aber wie Jonas sagt, sobald es eine Briefwahl gibt, kann ja sowieso nicht mehr gewährleistet werden, wer dabei ist oder ob nicht deine Eltern den Wahlzettel ausfüllen …das ist ja völlig absurd. 

Jonas: 

Aber wir haben ja anfangs gesagt, warum es eben auch so wichtig ist, wählen zu gehen. Ich glaube schon, dass wir politisch und gesellschaftlich auf einer Art Scheideweg sind. In welche Richtung biegen wir ab? Spielt Vielfalt, Gleichberechtigung, Toleranz in Zukunft weiterhin eine wichtige Rolle? Oder sind eben Parteien vielleicht an der Macht, die das Ganze gar nicht so sehen und Antidiskriminierung überhaupt nicht auf dem Schirm haben? Das wird, glaube ich, auch noch mal umso deutlicher, wenn man auch noch mal in gewisse Wahlprogramme einfach reinguckt.

Karina:

Ja, das wirds, das ist wirklich extrem traurig. Ich habe mir das Wahlprogramm von der AfD durchgelesen. Behinderung taucht gar nicht auf. Inklusion taucht nur auf in Anführungszeichen, und die Überschrift heißt „Inklusion“ aber richtig. Und was die AfD damit meint, ich zitiere das jetzt einfach mal direkt aus dem Wahlprogramm, ist: “Die Forderung der Vereinten Nationen und der EU, behinderten Kindern Teilhabe im Bildungssystem zu garantieren, ist in Deutschland mit dem Förderschulsystem erfüllt. Eine Inklusion um jeden Preis geht zu Lasten der Bildungsqualität aller Beteiligten. Die AfD setzt sich deshalb für den Erhalt der Förder- und Sonderschulen und für eine Inklusion mit Augenmaß ein.”

Jonas:

Inklusion mit Augenmaß … als Person mit Sehbehinderung…

Karina:

Fühlst du dich gerade diskriminiert alleine durch das Wort Augenmaß?

Jonas:

Absolut. Ich fühle mich da generell durch das Wahlprogramm der AfD diskriminiert. Aber interessant, wie da ja Sachen drinstehen oder behauptet werden, die einfach auch faktisch falsch sind.

Karina:

Ja, aber das interessiert irgendwie immer niemanden, dass die Sachen auch widerlegt werden können, und zwar ziemlich einfach durch Studien. Auch ein interessanter Satz fand ich: Auch der Kampf gegen „Rassismus“ in Anführungsstrichen und „Diskriminierung“ in Anführungsstrichen, von denen die europäischen Gesellschaften angeblich strukturell durchsetzt seien, wird von der EU vorangetrieben. Das sorgt für ein repressives kulturelles Klima im Sinne einer immer rigideren in Anführungsstrichen “politischen Korrektheit” und für in Anführungsstrichen „Cancel Culture“ gegenüber allen abweichenden Positionen. Das ist auch ein Zitat aus dem Wahlprogramm. 

Raúl:

Jetzt haben wir halt das Dilemma. Also als JournalistInnen zitieren wir jetzt ein AfD-Wahlprogramm, obwohl sie ja quasi das Problem sind. Und ich bin ja inzwischen überzeugt, dass man die nicht entzaubern kann mit Argumenten und Fakten und Studien, weil es ihnen einfach egal ist, was die Argumente, Fakten und Studien sagen. Und sie es immer so drehen, dass es quasi passt. Also wenn sie behaupten, die Inklusion sei erfüllt in Deutschland mit dem Sonder- und Förderschulsystem, was faktisch einfach nicht stimmt, was auch nicht die Idee der Inklusion ist, dann scheint es da ja auch keine Gesprächsbereitschaft zu geben.

Karina:

Nein, aber ich finde schon, dass, wenn wir uns nicht auf Fakten basieren, auf was dann? Also, wenn die Gegenseite das nicht macht, dann müssen wir zumindest unsere Behauptungen untermauern. Deswegen finde ich das auch ganz wichtig, dass du das noch mal gesagt hast, dass es da diverse Studien gibt, die sagen, dass Inklusion von behinderten Kindern nicht zu Lasten von irgendwem geht. 

Raúl:

Hatten wir auch die eine oder andere Podcast-Folge dazu. Worauf ich hinaus wollte, dass wir letztendlich uns an etwas abarbeiten, was gar nicht abgearbeitet werden will. Die einzigen, die wir überzeugen können, sind die WählerInnen, aber quasi nicht die Leute, die bereits sich entschieden haben, diese zu wählen. Da bin ich inzwischen ziemlich desillusioniert. Deswegen ist es so wichtig, dass die, die nicht wählen gehen, jetzt wählen gehen und zwar nicht die AfD.

Jonas:

Wenn wir hier quasi in diesem Podcast über Studien sprechen und über Quellen, dann findet die ihr natürlich auch in unseren Shownotes auf www.dieneuenorm.de, wo wir das Ganze nochmal für euch zusammengetragen haben. Wie gesagt, wenn einzelne Parteien jetzt darüber reden, dass Inklusion erreicht ist oder ob das jetzt quasi gar nicht so hilfreich ist … wir haben ja am Anfang so ein bisschen süffisant gefragt, inwieweit EU-Politik für Menschen mit Behinderung relevant ist. Wir haben schon ein paar Sachen anklingen lassen, wo wirklich EU-Politik eingegriffen hat, beziehungsweise etwas verändert hat. Und die Liste ist gar nicht so lang, aber eben auch nicht so kurz. Aber es gibt tatsächlich Dinge, wo die Europapolitik Sachen verändert hat, die für uns Menschen mit Behinderung einen positiven Mehrwert vielleicht auch haben.

Karina:

Ja, da gibt es mehrere Sachen. Also Raúl hat ja schon das Barrierefreiheitstärkungsgesetz erwähnt. Es ist auch so, dass der EU-Haushalt zum Beispiel die Gelder vom Europäischen Sozialfonds kontrolliert. Da gab es ja vor kurzem erst ein bisschen Skandale in Österreich, dass die im Endeffekt europäische Gelder für völlig andere Bereiche genutzt haben, um wieder Sondereinrichtungen wie Werkstätten und Wohneinrichtungen auszubauen. Deswegen ist das wohl durchaus auch wichtig, dass das von oben her kontrolliert wird. Und dann gibt es da ja auch noch den Marrakesch-Vertrag zum Beispiel. Fand ich ganz interessant, wusste ich auch erst gar nicht, erst durch eine Unterhaltung mit einem Freund, der blind ist, der mir erzählt hat, dass unser Buch theoretisch – unser Buch heißt „Stoppt Ableismus“ – und das könnte theoretisch als Audiobuch existieren, wenn man das über die Bücherei vom Blinden- und Sehbehindertenverband macht. Weil die dürfen Bücher barrierefrei machen, ohne dass da irgendwie ein rechtliches Problem ist. Und das geht zurück auf diesen Marrakesch-Vertrag, der Bücher in barrierefreie Formate, wie zum Beispiel Braille, Großdruck oder Audio erlaubt, die zu produzieren innerhalb der EU.

Jonas:

Ich mag das immer total, wenn Verträge immer so prägnante Namen haben oder etwas, wie der Marrakesch-Vertrag, wo man jetzt beim ersten Mal, wo man das quasi hört, gar nichts auf dem Schirm hat, wofür steht das, weil das im Namen nicht so drin steckt und es aber wirklich in der Tat total wichtig ist, gerade Bücher, Literatur barrierefrei zugänglich zu machen. Also ich finde, wenn man jedes Mal dann über die Rechte am Werk diskutieren muss, nur weil es um das Thema Barrierefreiheit geht, dann kommen wir, glaube ich, nicht weiter. Deshalb ist dieser Marrakesch-Vertrag, auch wenn er vielleicht jetzt für einige relativ irrelevant ist, aber zumindest für blinde Menschen oder Menschen mit Sehbehinderung schon eine große Errungenschaft, weil es, glaube ich, auch einfach noch mal Prozesse im Rahmen der Barrierefreiheit einfach sehr beschleunigt, bevor man dann immer jedes einzelne Buch, jedes einzelne Werk anfragen muss und das ist ein Hin und Her und eine Korrespondenz. Wer macht das? Darf das gemacht werden? Und dieser Vertrag dann einfach ganz klar vorgibt, ja, das ist so gegeben, beziehungsweise es darf gemacht werden und es darf barrierefrei umgesetzt werden. Und daran kann man sich eben auch halten.

Karina:

Es ist total spannend, denn den gibt es auch erst seit 2019 und ist auch noch nicht sehr alt. 

Raúl:

Marrakesch klingt so nach Urlaub.

Jonas:

Der Marrakesch-Vertrag, das ist quasi das Recht, das jeder hat, einmal im Jahr nach Marrakesch zu fahren.

Karina: 

Ich wollte nur noch darauf hinweisen, dass es auch noch die Vorzeigeinitiative „Accessible EU“ gibt, so eine Website, die im Rahmen von der Strategie der Europäischen Kommission … da gab es eine Strategie von 21 bis 30, und da wurde die als ein Ressourcenzentrum für Barrierefreiheit vorgestellt. Und tatsächlich bin ich auf die Seite auch erst vor ein paar Tagen gestoßen. Ich wusste nicht mal, dass die existiert. Kanntet ihr die?

Raúl:

Ich habe davon mal gehört, aber mir noch gar nicht angeschaut. Ich bin eigentlich nicht so oft auf Behörden-Websites unterwegs. 

Jonas.

Immer nur auf deiner eigenen?

Raúl:

Nein, die sind ja oft so trocken und so wenig einladend.

Karina:

Das stimmt. 

Jonas:

Ich finde, ich glaube, da herrscht generell gerade, was irgendwie Europapolitik angeht, zum Teil ein großer Gap, was so den Wissens- und Informationstransfer angeht. Also das ist wirklich, wenn man sich mit dieser ganzen Thematik auseinandersetzt und auch noch mal wirklich schaut, was hat die Europapolitik vielleicht alles schon erreicht oder umgesetzt, dass man wirklich auch proaktiv danach suchen muss oder sich damit auseinandersetzen muss und dann eben aber auch Sachen findet. Aber in der Kommunikation geht es halt vielleicht manchmal häufig unter, außer man beschäftigt sich da halt generell damit oder sucht eben danach, weil man ein großes Interesse daran hat.

Karina:

Aber diese Seite ist eigentlich total spannend. Also, die haben so ein Barrierefreiheitsmonitoring, wo es quasi von allen Staaten irgendwelche Reports gibt, wo drinsteht, was es für Fortschritte es gibt in Bezug auf Barrierefreiheit.

Jonas:

Steht bei Deutschland was, wenn es um Fortschritte geht? Kann man auf Deutschland draufklicken und dann steht dann „404, ist leider nicht“?

Karina: 

Nee, das ist einfach nur eine Tabelle und es gibt durchaus Sachen, wo dahinter steht „Yes“ und nicht „No“. 

Jonas:

Oh, hast du auch ein Beispiel dafür?

Karina: 

Also hier steht bloß, ob es einen nationalen Actionplan on accessibility, also einen nationalen Aktionsplan in Bezug auf Barrierefreiheit, gibt. Und dann steht ein „Nein“, aber dass die Barrierefreiheit in einem größeren Actionplan inkludiert ist, nämlich in einem nationalen Aktionsplan 2.0 – das ist allerdings auch schon aus 2016.

Raúl:

Das sind dann wahrscheinlich auch Selbstauskünfte. Also die Frage …

Karina:

… wie ehrlich das ist? Stimmt wohl!

Jonas:

Ich bin generell bei Sachen, die selber sich ein 2.0 geben immer so ein bisschen kritisch, was diese Bezeichnung angeht. Wenn man halt auch sieht, wo die Europapolitik, gerade was ja die Belange von Menschen mit Behinderung angeht, sich einsetzt, ist es natürlich – frei nach dem Motto „Nichts ohne uns, über uns“ – auch wichtig, dass es ja PolitikerInnen gibt mit Behinderungen, die Europapolitik machen und sich vielleicht nicht nur ausschließlich um Behinderung, Inklusion und Barrierefreiheit kümmern, aber eben auch dafür sich einsetzen. Und wir haben auf unserer Webseite auf www.dieneuenorm.de aktuell ein Interview mit Katrin Langensiepen. Sie ist Grünen-Politikerin und hat eine sichtbare Behinderung und sitzt im Europaparlament.

Karina: 

Was ich dazu auch total spannend finde ist, es werden ja insgesamt 720 Sitze vergeben, und davon sind 96 für Abgeordnete aus Deutschland. Und dann gibt es diese Disability Intergroup, die irgendwie fraktionsübergreifend so eine Arbeitsgruppe im Europaparlament ist. Und da sind nur zwei von diesen 96 deutschen Abgeordneten drin in dieser Intergroup, und eine Abgeordnete davon ist eben die Katrin Langensiepen, von der wir jetzt auch gleich noch einen O-Ton hören. 

Jonas:

Genau. Sie sagt nämlich, was alles zu tun ist in Bezug auf Europapolitik und das Leben von Menschen mit Behinderung.

Katrin Langensiepen:

Wir haben schon sehr viel erreicht. Was wir fortführen müssen: Die Umsetzung des EU-Schwerbehindertenausweises. Dann müssen wir dafür sorgen und kämpfen, dass Zwangssterilisierungen, Zwangsabtreibungen an Männern und Frauen und Mädchen endlich unter Strafe gestellt wird. Wir müssen dafür kämpfen, dass das Accessible EU Center, das Zentrum für Barrierefreiheit, endlich endlich eine Agentur wird. Dann haben sie auch Hand und Fuß. Das ganze Thema Mobilität ist wichtig. Wahlrecht ist wichtig. Kann ich wählen, wen kann ich wählen und gibt es die Möglichkeit, vor Ort auch wählen zu können? Menschen mit Behinderungen dürfen nicht mehr vom Wahlrecht ausgeschlossen werden. Da müssen wir als Parlament weiter dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten das umsetzen. Ich nenne hier nur einiges; wichtig aber auch die Deinstitutionalisierung. Wir müssen aufhören, Einrichtungen und Werkstätten abzufeiern, sondern sie sind konkret de facto gegen die Menschenrechte. Menschen müssen und wollen selbstbestimmt leben, selbst entscheiden, aber auch unter gewissen Bedingungen. Selbstbestimmt leben heißt nicht, dass ich für Unternehmen produziere, produzieren lasse und ich dafür keinen Mindestlohn bekomme, keine ArbeitnehmerInnenrechte habe, keine Streikrechte habe. Das müssen wir weiter vorantreiben.

Jonas: 

Es sind ja viele Sachen, die sie anspricht, die wir auch eben schon genannt haben, also quasi Wahlrechte oder dieses Accessibility EU, weil es ja auch einfach laufende Prozesse sind. Also es ist ja so, wie Du, Raúl, am Anfang gesagt hast oder auch zu Recht gesagt hast, das nichtdemokratische Parteien immer meinen, dass Inklusion irgendwann erreicht ist oder abgeschlossen ist. Das ist ja nicht so, wofür man sich gerade einmal einsetzt für Wahlrecht und dann ist das immer gegeben, sondern es ist weiterhin etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt oder sich einzusetzen lohnt und deswegen damals schon auf der Agenda stand und auch eben noch weiterhin auf der Agenda stehen wird.

Raúl:

Ich kenne Katrin Langensiepen schon viele viele Jahre und ich bin beeindruckt, mit was für einer Engelsgeduld und gleichzeitig auch mit was für einer Energie sie diese europäische Bühne betritt, erobert und auch sich Raum nimmt, der Menschen mit Behinderungen definitiv genauso zusteht. Auf Social Media folge ich ihr schon viele viele Jahre. Und es ist so unfassbar wichtig, Menschen mit Behinderungen als Präsentierende des Themas zu haben. Sonst bleibt das ewig eine Veranstaltung der Nichtbehinderten, wenn überhaupt die mal das Thema Inklusion aufgreifen. Und das ist einfach wichtig, sichtbar zu sein, auch im EU-Parlament.

Jonas: 

Ich habe immer so das Gefühl, du sagst, mit einer Engelsgeduld … ist auch mein Gedanke, ich glaube, ich würde da sehr, sehr müde werden, ständig und immer wieder mich dafür irgendwie einzusetzen. 

Raúl:

Und sie ist auch wirklich viel unterwegs. Die hat ja auch noch ein Wahlbüro in Deutschland, was man irgendwie braucht. Und sie war jetzt irgendwie auf Tour und hat viele Länder und Einrichtungen besucht wo Menschen mit Behinderung sich engagieren. Und es ist, glaube ich, eine sehr, sehr anstrengende Arbeit.

Karina: 

Ich glaube, was mich am meisten anstrengen würde, aber das liegt auch hauptsächlich daran, dass Geduld wirklich keine meiner Stärken ist, dass diese Sachen auch alle unfassbar ewig dauern. Also irgendwie dieser EU-Behindertenausweis, der ist zwar jetzt offiziell beschlossen seit Februar, aber geben wird es den dann erst, oder muss es den dann geben, erst in vier Jahren oder so. Also ich weiß, Dinge dauern schon. Aber nee, also ich könnte das nicht.

Jonas: 

Die Mühlen mahlen langsam. Aber ich finde, das ist ja fast schon ein Prestige-Objekt dieser EU-Schwerbehindertenausweis. Das wird schon cool, glaube ich. Also wir haben in einer Podcast-Folge über Nachteilsausgleiche gesprochen. Und Raúl, ich weiß nicht, ob du dich daran erinnern kannst, du hast damals sehr vehement dich über das Design des deutschen Schwerbehindertenausweises echauffiert, sag ich mal, dieses Grün …  

Raúl:

Der einfach nicht designt ist.

Jonas: 

Lass deinen Emotionen freien Lauf …

Raúl:

Unfassbar, wie man ein so essenzielles Dokument für behinderte Menschen einfach nicht designen kann und einfach so ordentlich verkacken kann; ich versteh es wirklich nicht. Jeder Personalausweis, der auch keine Schönheit ist, sieht besser aus.

Karina: 

Aber wenn die es auch noch designen müssten, dass es hübsch ist, dann würde es wahrscheinlich irgendwie zehn Jahre dauern oder so.

Raúl:

Aber weiß man denn jetzt das Design des europäischen Schwerbehindertenausweises?

Karina: 

Nein, ich habe es noch nicht gesehen.

Raúl:

Und jetzt mal ganz ehrlich, ich habe mich ja mit dem europäischen Schwerbehindertenausweis noch nicht so viel auseinandergesetzt. Aber ich hatte mit meinem deutschen Schwerbehindertenausweis in Europa bisher kein Problem.

Karina: 

Ja, ich wollte auch gerade sagen, ich sehe noch nicht genau, wofür der wirklich für mich nützlich sein würde.

Raúl:

Kann ich dann umsonst Bahnfahren mit Interrail, oder was?

Karina: 

Guck, aber das kann ich zum Beispiel ohnehin nicht. Und wenn ich alles, was ich kulturell machen wollte, in zum Beispiel Frankreich oder Spanien, und das war für die immer völlig ausreichend, wenn ich meinen deutschen Ausweis vorgezeigt habe. Die müssen den offiziell, glaube ich, nicht anerkennen. Aber das machen die ja meistens, zumindest in den großen Städten, trotzdem kulanterweise so. 

Raúl:

Also, vielleicht hat es einen Vorteil, den wir gerade noch nicht auf dem Schirm haben. Könnten wir mal nachreichen, wenn er eingeführt wurde, machen wir eine glamouröse „Ah, er ist designt worden“.

Jonas:

Also, es ist eine blaue Karte, European-Disability-Card. Naja, hübsch ist anders, also ist im Vergleich dazu … wie gesagt, ich komme ja ursprünglich aus Nordrhein-Westfalen. Und als dort das NRW-Semesterticket für Studierende ins Leben gerufen wurde, was teilweise einfach nur ein DIN-A4-Blatt zum Selberausdrucken war, wo ich sage okay, zumindest hat es Kartenformat. Wo man natürlich auch sagt, okay, Kartenformat. Ist das zeitgemäß? Warum kann ich das nicht einfach als Wallet in meinem Smartphone irgendwie speichern? Das wäre doch irgendwie auch zeitgemäß. Aber ich finde diese Thematik, noch nie Probleme gehabt zu haben mit dem eigenen Schwerbehindertenausweis im Ausland … Ja, hatte ich bislang auch noch nicht. Aber es war halt immer so eine latente Sorge bei mir, ob es denn wirklich angenommen wird beziehungsweise ich dann vielleicht auch manchmal eher ihn nicht eingesetzt habe, weil ich keine Lust auf irgendwelche Diskussion hatte, dieses Ding vorzuzeigen und dann im Ausland in einer Sprache, die ich nicht spreche, dann erklären zu müssen, was das Ding bedeutet und was es theoretisch für Rechte für mich bringt, also quasi für Nachteilsausgleiche. Also, ich meine, wenn man dann im Urlaub ist im Ausland, natürlich die Bahnfahrt oder die Fahrt mit dem öffentlichen Personennahverkehr, das läppert sich, aber wenn man eh zurzeit im Urlaub ist und es dann um den Museumseintritt geht, da hab ich so ein bisschen, da ich im Urlaub bin, trotzdem … so ein bisschen, ja, nicht spendabler, aber ein bisschen damit umzugehen … dann nehme ich halt meine Rechte des Nachteilsausgleichs nicht in Anspruch und belasse es irgendwie dabei. Das war irgendwie so, da habe ich immer gedacht, okay, wird er wirklich irgendwie anerkannt, der deutsche Schwerbehindertenausweis. Aber ich finde deswegen erst mal diesen Schritt zu gehen, etwas zu haben, was es vereinheitlicht, ist ja auch nicht anders gewesen damals. Und das zeigt aber auch wieder, wie langsam da Sachen entschieden werden. Ich meine, wie lange gibt es jetzt den EU-Führerschein? Und wann wurde der deutsche Führerschein für Fahrzeuge abgeschafft und es diese Karte gibt, das ist ja auch schon über 20 Jahre her. Und jetzt einfach zu vereinheitlichen und jetzt hat man quasi das endlich auch für den sogenannten Führerschein für schwerbehinderte Menschen umgesetzt.

Raúl:

Ich habe jetzt gerade mal recherchiert über die European Disability Card. Und es gibt zwei Karten, es gibt einmal den Parkausweis, aber es bleibt getrennt. Und es gibt eben den Schwerbehindertenausweis auf EU-Ebene – wäre im Prinzip genau das gleiche wie der deutsche, also reduzierte Eintrittspreise, Tickets und so. Aber die Hoffnung, die ich jetzt auch hatte, dass es jetzt mit dem Parken dann auch in einer Karte, wird nicht erfüllt. 

Jonas:

Also du kannst dir nicht ein kleineres Portemonnaie zulegen, es werden weiterhin mehrere Karten irgendwie sein? 

Raúl:

Genau.

Karina: 

Jonas, weil du gerade gesagt hast, dass du im Urlaub auch finanziell ein bisschen großzügiger bist, was Museen und so angeht … 

Jonas: 

Ich bin wahnsinnig großzügig. Ja, das ist fair.

Karina: 

Aber das stimmt schon. Ich war vor kurzem in Paris, und offensichtlich gehört ein Besuch im Louvre dazu. Und ich habe dann auch beschlossen, also das sind ja auch nur ein paar Euro, und ich will die offensichtlich unterstützen, also habe ich das gezahlt. Aber was ich tatsächlich genutzt habe, war der Vorteil, dass ich nicht in der Schlange stehen musste. Deswegen, als ich gerade gesagt habe, ich sehe da keinen Nutzen, oder ich hatte da noch nie Nutzen, hat das gar nicht gestimmt, weil das ist für mich schon von extremem Vorteil, wenn ich nicht irgendwie mit zwei- dreihundert anderen Touristen für zwei Stunden in der prallen Sonne in einer Schlange stehen muss. 

Raúl:

Aber mit deinem deutschen Ausweis. 

Karina: 

Genau, das ist der Punkt, die haben ihn damals auch anerkannt, aber hätten nicht müssen. Das steht oder stand damals sogar auch irgendwie im Kleingedruckten, dass das eigentlich nur gilt für Nationals und so. Das ist ja eine riesen Touri-Stadt. In den kleineren Städten werden die vielleicht nicht irgendwelche deutschen Dokumente anerkennen. Da schätze ich, da könnte der EU-Ausweis tatsächlich nützlich sein. Aber das werden wir auch erst sehen, wenn es ihn gibt, wahrscheinlich. 

Jonas:

Erinnert mich so ein bisschen an unsere Podcast-Episode, wo wir über Inklusion im Ausland gesprochen haben. Wonach damals hängengeblieben ist – das kann aber auch einfach eine täuschende Wahrnehmung sein – das manchmal, du in anderen Ländern, einfach nur benennen musst, was du hast oder quasi sagst, du hast eine Behinderung, und es noch nicht mal nachweisen musst durch diese Karte und dass es da für die einfach ja selbstverständlicher ist, oder ein angemessener Umgang damit herrscht. Aber wie gesagt, schön für dich, quasi nicht zwei bis drei Stunden anstehen zu müssen, um dann für 2 Minuten sich die Mona Lisa in Postkartengröße hinter wieviel Meter Panzerglas anzugucken? Ja, würde ich auch dort den Nachteilsausgleich in Anspruch nehmen. 

Karina Sturm:

Also es gibt ja nicht nur die EU-Schwerbehindertenausweis, der zwar quasi das zentrale Thema ist bei diesen Wahlen ist, sondern es gibt ja auch noch andere Sachen auf der Agenda, von den verschiedenen Parteien. Zum Beispiel, das fand ich eigentlich total spannend: die Tierschutzpartei, die hatte ich ja überhaupt nicht auf dem Schirm, aber die haben zum Beispiel Assistenzhunde in ihrem Wahlprogramm, nämlich, dass die Assistenzhundeverordnung konsequent umgesetzt werden muss. Und das fand ich eigentlich ganz spannend, dass das bei denen trotzdem auch im Fokus steht. Das habe ich übrigens von der Seite von der Aktion Mensch, die die Parteien befragt hat, was die in der EU-Wahl als Agenda für Menschen mit Behinderung haben.

Jonas:

Ich finde das so super, dieses Beispiel, weil es einfach noch mal zeigt, wie das Thema Behinderung auf so vielen Ebenen mitgedacht werden kann, mitgedacht werden muss, dass man auf der einen Seite denkt: okay, ja, Tierschutz, wo ist die Schnittmenge zwischen Tierschutz und Menschen mit Behinderungen? Aber klar natürlich Assistenzhunde, oder Assistenztiere, ich hatte immer schon mal erzählt: ich würde mir immer so ein Assistenzalpaka, Assistenzelefant … . Ich glaube, wenn Jonas sich einen Assistenzelefanten anschaffen würde, glaube ich würde die Tierschutzpartei trotzdem auf die Barrikaden gehen. Aber das eben zu sehen, okay, da gibt es trotzdem Schnittmengen. Und da ist es eben selbst der Tierschutzpartei war wichtig eben, diese Vielfalt an Menschen und an Zielgruppen ihrer WählerInnen mitzudenken, beziehungsweise das einfach mit auf dem Schirm zu haben.

Karina:

Ja, was die Katrin Langensiepen gerade im O-Ton auch gesagt hat, das ist relativ ähnlich zu dem, was die Linke darauf geantwortet hat. Also die wollen die Stellung von Menschen mit schwerer, so genannter “geistiger” und Mehrfachbehinderung, psychischer Beeinträchtigung, chronischer Erkrankung verbessern. Da habe ich mich natürlich auch irgendwie drin wiedergefunden. Und außerdem wollen sie Sondereinrichtungen für behinderte Menschen abschaffen. Und das ist ja das, was  die Katrin Langensiepen, mit der De-Institutionalisierung vor allem noch erwähnt hatte. Also da gibt es schon ganz viele Schnittmengen, auch zwischen den Parteien. Naja, außer die AFD, die steht allein.

Raul:

Ich habe neulich die Webseite Sozial-O-Mat ausprobiert von der Diakonie Deutschland und die haben in verschiedenen Themenbereichen untergliedert, verschiedene Fragen: Sozialpolitik, Armutsbekämpfung, Flucht und Migration, Demokratie, Klima und Leben im sozialen Umfeld und da gibt es tatsächlich eine Frage zum Thema Barrierefreiheit. Ich weiß gar nicht ob im Wahl-O-Mat auch so eine Frage steht, aber das finde ich doch interessant. 

Jonas:

Was ist bei dir rausgekommen?

Raul:

Das verrate ich nicht.

Jonas:

Ist da trotzdem eine Richtung irgendwie zu erkennen, was irgendwie so gefordert wird? Gibt es auch noch weitere Sachen, wo man sagt, es ist irgendwie was Besonderes oder geht das alles so in die gleiche Kerbe? Also haben wir das, was du eben angesprochen hast, nochmal das Zitat von Katrin Langensiepen, sind das so die Kernaufgaben, wenn es um Menschen mit Behinderungen und Europapolitik geht?

Karina:

Also ehrlich gesagt, dass klang so, als wäre der eigentliche Kern halt wirklich dieser EU Behindertenausweis. Das ist das, was alle die ganze Zeit erwähnen und was für alle im Fokus steht. Und dann erwähnen halt die einzelnen Parteien noch so ein paar andere Sachen drumherum. Die Grünen zum Beispiel haben auch darüber gesprochen, barrierefreien Wohnraum weiter auszubauen, damit offensichtlich selbstbestimmtes Leben wirklich umgesetzt werden kann. Und die haben auch gleichzeitig von der De-Institutionalisierung gesprochen. Also die wollen, dass Werkstättensystem in Richtung Inklusionsunternehmen weiterentwickeln. Und ansonsten habe ich noch diese Antworten von der ÖDP gelesen. Ah, da ging es hauptsächlich darum, dass Selektion von Embryonen durch Pränataldiagnostik, also das wollen die nicht. Muss man aber auch dazu sagen: die sind auch generell keine so Freunde von Abtreibungen. Also das Eine ist auch nicht unbedingt immer gut fürs Andere. Und ansonsten habe ich halt noch das Wahlprogramm von der AFD gelesen. Aber da kommt das Wort Behinderung nicht mal vor und die zwei Paragrafen zur Inklusion, die es gibt, die hatte ich euch vorhin zitiert, mehr steht da nicht für uns in irgendeiner Form drin. Und also alles, was drinsteht, ist offensichtlich negativ für Menschen mit Behinderung.

Jonas:

Es liegt ja auf der Hand, warum dieses Prestigeobjekt wie ein EU-Schwerbehindertenausweis so im Vordergrund ist, weil es eben etwas ist, was ja jeder Mensch mit Behinderung, der einen Schwerbehindertenausweis hat, spüren wird. Also natürlich kann man nicht sagen, was tut die Europapolitik für mich selbst? Natürlich wird die Europawahl, je nachdem, für welche Partei ich mich entscheide, nicht jetzt umsetzen, das Cafe nebenan mit einer Rampe auszustatten. Es kann aber natürlich sein, dass wenn wie gesagt, Parteien an die Macht kommen, die sich überhaupt nicht für Vielfalt und Inklusion interessieren, dass es irgendwie schlechter wird. Aber natürlich ist er EU-Schwerbehindertenausweis etwas, was ja für jede einzelne Person in irgendeiner Art und Weise spürbar ist. Und wenn man jetzt trotzdem sagt, was sind die eigenen Wünsche an die Europapolitik? Karina, wenn man jetzt nicht sagt, dass Europa auf einem Stier angeritten kommt, sondern der Herr Europa auf einem weißen Ross. 

Karina:

Ich dachte, es ist Frau Europa.

Jonas:

Ja, aber ich dachte, bei Dir kommt vielleicht Herr Europa an. Es klingelt an der Tür und sagt: “Guten Tag, guten Tag, Frau Sturm, bald Europawahl. Sie haben einen Wunsch frei.”

Karina:

Nur einen? Okay, also ich hätte einen sehr großen Wunsch. Aber ich weiß nicht, ob das überhaupt was ist, was auf EU-Ebene in irgendeiner Form entschieden werden kann. Aber, es ist ja so, dass ich eine seltene Erkrankung habe. Also die ist wahrscheinlich gar nicht selten. Aber die läuft noch unter dem Label seltene Erkrankungen, und für die gibt es in Deutschland praktisch keine Versorgung. Also, wir haben keine Expertenzentren, und ich muss ständig irgendwohin ins Ausland, um eine adäquate medizinische Behandlung zu kriegen, was frustrierend ist, also nicht nur frustrierend für mich emotional, sondern auch extrem finanziell teuer. Und wie wir alle wissen, schwimmt man als chronisch kranke Person auch nicht immer unbedingt in Geld. Also die meisten sind eher in Richtung Armut als in Richtung Reichtum. Und ich hatte in den letzten Jahren einmal einen großen Trip in die USA, wo ich 30.000 Euro rausgeblasen habe für medizinische Versorgung, weil ich die in Deutschland nicht kriegen konnte. Und jetzt habe ich halt jedes Jahr ein paar größere Kosten. Und ich würde mir wünschen, dass wir es hinkriegen würden, dass alle Betroffenen irgendwie auch in Europa versorgt werden können. Weil dann habe ich eben ganz Europa zur Auswahl und ich habe Expertenzentren, die es vielleicht in UK gibt oder in Spanien gibt, wo ich versorgt werden kann und die können vielleicht für ein anderes Problem im Rahmen ihrer seltenen Erkrankungen in Deutschland versorgt werden. Das wäre mein riesengroßer Wunsch. Aber das sehe ich jetzt nicht so bald passieren.

Jonas:

Was ist das für eine andere Behandlungsmethode oder was auch immer das Du 30.000 in den USA bezahlen musst? Also was, was wird er anderes gemacht? Also wie ist da die Forschung oder Behandlungsmethoden weiter, als dass dies nicht hier in Deutschland oder Europa funktioniert?

Karina:

Ich versuche, es mal kurz zusammenzufassen, ohne zu medizinisch zu werden. Ich habe eine Bindegewebserkrankung, die heißt Ehlers-Danlos-Syndrom, und die kommt mit einem Haufen Komplikationen bei manchen Menschen. Ich habe eine, die betrifft im Endeffekt meine Wirbelsäule und meine Wirbelsäule ist instabil, vor allem die Halswirbelsäule. Und dafür braucht es normalerweise sehr, sehr, sehr erfahrene Neurochirurgen, und Operationen, die unfassbar teuer sind, vor allem im Ausland. Also es gibt zum Beispiel ein paar Experten in den USA, aber das ist man easy irgendwie mit einer halben Million dabei, und das kann sich kein Mensch leisten. Und mittlerweile gibt es auch welche in Europa, die sind nicht ganz so teuer, aber immer noch viel zu teuer, um realistisch zu sein für Betroffene aus Deutschland. Also seltene Erkrankungen heißt auch häufig, dass die Ärzte und Ärztinnen in ihrem Leben vielleicht mal eine Patientin mit Ehlers-Danlos-Syndrom sehen. Das heißt für die lohnt sich das auch überhaupt nicht, irgendwie ein Expertenzentrum aufzumachen, um uns irgendwie anständig zu versorgen. Und dadurch ist es dann halt so, dass diese Experten praktisch über die komplette Welt verstreut sind. Also ich habe durchaus in Deutschland ein paar, aber es ist dann auch so, dass es für einzelne Komplikationen, gibt es dann vielleicht eine Ärztin oder einen Arzt, der Experte ist in ganz Deutschland. Und wenn man halt Pech hat, gar keinen, dann muss man halt ins Ausland oder du hast halt eine sehr viel schlechtere Lebensqualität.

Jonas:

Gibt es da keine Förderung von der Aktion Mensch?

Karina: 

Können wir da mal anklopfen?

Jonas: 

Apropos anklopfen Raul bei dir klopfts.

Karina: 

Frau Europa fragt, was hätten Sie denn gern, Herr Krauthausen?

Raul:

Ich glaube, ich würde mich sehr stark dafür einsetzen, dass die Mobilität zwischen den europäischen Ländern endlich vernünftig barrierefrei geregelt ist. Vor zwei Jahren wollte ich nach Frankreich fahren, nach Paris, und es schien für die Bahnmitarbeiterin ein Akt der Unmöglichkeit, in Paris am Hauptbahnhof anzumelden, dass in dem ICE aus Deutschland ein Mensch mit Behinderung aussteigen möchte, und forderte mich auf, das ich doch in der französischen Hotline die Mobilitätshilfe beantragen soll. Zum Glück habe ich mich geweigert, weil man Französisch auch nicht so gut ist. Und dann haben sie es doch irgendwie hinbekommen. Aber es schien ein Akt der Gnade zu sein, keine Selbstverständlichkeit.

Jonas:

Gnadenakt, ja schön.

Karina:

Und bei dir Jonas? Vielleicht willst du ja noch… in deinem Fall, Herr Europa vielleicht, wenn du da zugänglicher für bist.

Jonas:

Nö, ich bin auch dann bei Frau Europa. Aber es sollte natürlich dann auch jetzt nicht so die Perspektive sein, dass es nur für mich persönlich gut ist. Aber ich finde ich, glaube ich, eine klare Regelung, hinlänglich Denkmalschutz und Barrierefreiheit, dass es vielleicht dort eine Regelung gibt, dass der Denkmalschutz nicht Barrierefreiheitsrichtlinien als Gesetz quasi schlagen darf. Zum Beispiel jetzt steht ja nicht nur die Europawahl vor der Tür, sondern eben auch die Fußball-Europameisterschaft und das versucht wird die Stadien, die Fußballstadien so barrierefrei wie möglich zu machen. Und auch wir hier in Berlin, wo wir aufzeichnen, haben ja ein altehrwürdiges Stadion das Olympiastadion, und auch das wurde versucht größtenteils barrierefrei zu machen. Nur sagen wir mal so, die Erbauer dieses Stadions, damals die Nationalsozialisten, hatten jetzt das Thema Behinderung und Barrierefreiheit nicht so auf dem Schirm, was zur Folge hat, dass bei den großen Treppen, die im Stadion herunterführen, keine Handläufe sind. Also es gibt es nirgendwo einen Punkt, wo man sich festhalten kann. Und es dürfen aufgrund des Denkmalschutzes auch keine weiteren Treppengeländerhandläufe dort angebracht werden, weil es das Gesamtbild des Stadions verändern würde, wo ich wiederum sagen würde: das kann einfach nicht sein. Das ist quasi immer noch so, dass der Denkmalschutz hier in gewissen Bereichen einfach mehr Bedeutung hat als die Umsetzung von Barrierefreiheit und damit die Teilhabe einer sehr, sehr großen Zielgruppe. Und es geht ja in dem Fall nicht nur um Menschen mit Behinderungen, sondern es geht um generell Leute mit Gehbehinderung, ältere Personen, Kinder gehören dazu, die sich auch, vielleicht oft auf Treppen, auf großen und langen Treppen unsicher fühlen. Und dass es dort irgendwie ja eine gewisse Richtlinie gibt, dass das halt eben nicht gegeneinander ausgespielt werden darf. Ich meine in Deutschland werden auf der Suche nach Braunkohle ganze Dörfer abgebaggert, wo Gebäude darauf stehen, die eigentlich vom Denkmalschutz geschützt sind. Und da ist es kein Problem. Und wenn man ein Stadion aus den 30er-Jahren nicht umbauen darf, aufgrund des Denkmalschutzes, da fasse ich mir persönlich auch an den Kopf.

Karina:

Das ist super spannend, weil eigentlich sind Denkmalschutz und die Rechte von behinderten Menschen gleichberechtigt. Aber da gibt es keine wirkliche Regelung dafür, wie das dann gehandelt wird, wenn diese Dinge halt aufeinanderstoßen. Und dann hatte ich mal eine Quelle gelesen, da stand, “Konflikte zwischen Denkmalschutz und Barrierefreiheit sind durch eine Abwägung der gegenläufigen Positionen und ein angemessenes Eingehen auf den Einzelfall zu lösen.” Was irgendwie nichts sagt und das ist überhaupt keine Lösung und auch keine Regelung. Und dann hast du solche Situationen.

Raul:

Ich war in Venedig, und das ist jetzt auch nicht die barrierefreieste Stadt. Aber da haben die auch an sehr alte Brücken Rampen gebaut oder Aufzüge, ich weiß nicht, warum das immer in Deutschland ein Problem ist.

Jonas:

Es geht ja generell eben doch darum, Sachen irgendwie erfahrbar zu machen. Also unsere ehemalige Kollegin Judyta, Grüße an dieser Stelle, großer Fan von Burgen und Schlössern, wo man ja eigentlich sagen könnte, es sollte den BetreiberInnen von Burgen und Schlössern doch ein Anliegen sein, zu sagen wir möchten, dass möglichst viele Leute sich das Gebäude angucken können, dass das Erleben genauso wichtig ist, anstatt das eins zu eins so zu erhalten, beziehungsweise das dann eben ja niemand an diesem Gebäude irgendwie auch teilhaben kann. Und ich finde, das zeigt einfach nochmal, durch das Beschäftigen mit dieser ganzen Thematik, wie sehr Europapolitik trotz alledem Auswirkungen haben kann auf unser gesellschaftliches Leben, auf unser Miteinander. Und wie wichtig es eben ist, Parteien zu wählen, demokratische Parteien, die ein Interesse daran haben, an Teilhabe, an Toleranz, an Vielfalt und eben an Menschenrechte für alle Personen, nicht nur für Menschen mit Behinderung, aber eben auch in diesem Sinne, das mit auf dem Schirm zu haben, Inklusion und Barrierefreiheit. Deswegen am 9. Juni ist Europawahl, macht gerne von eurem Wahlrecht Gebrauch. Es ist sehr, sehr wichtig. Alle Informationen zu dieser Podcast-Episode, Studien, Hinweise, das Interview mit Katrin Langensiepen, unter anderem, findet Ihr in unseren Shownotes auf www.dieneueNorm.de und wenn Europawahl ist, wie gesagt, Raul, du hast gesagt, dass du Briefwahl beantragt hast. Es kann ja vielleicht auch sein, dass du diese Briefwahl beantragt hast, weil du gar nicht zuhause sein wirst oder vielleicht noch unterwegs bist oder müde. Denn wir sind zwei Tage zuvor, am 7. Juni, beim PULS Open-Air-Festival auf Schloss Kaltenberg bei München. Auf jeden Fall im Süden von Deutschland unterwegs und werden dort live unseren Podcast Die Neue Norm aufführen, performen, darbieten. Mal schauen, was wir uns einfallen lassen, am 7. Juni um 14:20 Uhr bis 15:20 Uhr werden wir dort auf der Walhall-Stage zu sehen sein. Kommt gerne vorbei. Und ja, tauscht euch mit uns aus. Wir freuen uns, wenn viele von euch da sein werden, beim PULS Open-Air-Festival. Wir sind auf jeden Fall schon aufgeregt, und wir freuen uns, diese ja für uns auch neue Erfahrungen zu machen, unseren Podcast live darbieten zu können. Am 7. Juni beim PULS-Festival und am 9. Juni ist die Europawahl. Und wir freuen uns, wenn ihr dann bei der nächsten Podcast-Folge auch wieder mit dabei seid, bis dahin.

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