Schauspieler*innen mit Behinderung sind in der Filmbranche deutlich unterrepräsentiert. Das liegt unter anderem daran, weil ihre Rollen immer noch oft mit nicht-behinderten Schauspieler*innen besetzt werden. Jonas Karpa erklärt, warum das ein Problem ist und warum Identität nicht gespielt werden sollte.
„Ja, aber die Kommissarin im Tatort ist ja auch keine echte Polizistin!“ oder „Der Schauspieler, der in dem Film einen Bäcker spielt, hat dieses Handwerk ja auch nicht erlernt!“. Das sind oftmals die Antworten, wenn man die Forderung äußert, dass Rollen mit Behinderung auch von Schauspieler*innen mit Behinderung besetzt werden sollen.
Natürlich: Der besondere Reiz in der Schauspielerei liegt darin, in ungewöhnliche Rollen zu schlüpfen, mal eine ganz andere Person zu sein, die Herausforderung an die eigenen Grenzen zu gelangen. Manche Schauspieler*innen gehen hier sehr weit. „Method Acting“ heißt die Schauspieltechnik, die in den 1950er Jahren von dem Russen Konstantin Stanislawski entwickelt wurde. Bei dieser Form der Schauspielerei versuchen die Darsteller*innen durch Gedächtnistechniken und Emotionstrainings aus der Psychologie noch tiefer in ihre Rolle einzudringen – eins zu werden mit der Figur. Das oft erstaunliche Ergebnis lässt das Publikum nicht selten aufhorchen: Für die Darstellung eines aidskranken Schmugglers in “The Dallas Buyer’s Club” (2013) nahm Schauspieler Matthew McConaughey 17 Kilo ab, was ihm für seine authentische Darstellung glatt einen Oscar als bester Hauptdarsteller einbrachte. Wenige Monate zuvor war McConaughey noch als ehemaliger Stripper in dem Drama „Magic Mike” zu sehen, wo er mit seinen Sixpacks das Club-Publikum in den Bann zog. Eine, objektiv gesehen, erstaunliche Transformation des Körpers. Sich und den eigenen Körper auf ein anderes Level heben, sich für eine Rolle komplett zu verändern, das mag beim äußeren Erscheinungsbild wie beim Gewicht möglich sein. Beim Thema Behinderung kann und darf dies aber keine Rolle spielen, denn hier geht es um mehr: Es geht um die Identität.
Haarfarbe, Gewicht, Kleidung – das alles sind Komponenten, die jeder Mensch nach eigenem Ermessen frei wählen bzw. beeinflussen kann. Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht und/oder Behinderung gehören jedoch zur eigenen Identität und sollten nicht imitiert werden.
Genauso wie „blackfacing” – also das Bemalen des Gesichtes von weißen Schauspieler*innen mit schwarzer Farbe, um Schwarze Menschen darzustellen – inzwischen als rassistische Methode gesehen wird, so sollte auch die Besetzung von nicht-behinderten Schauspieler*innen auf Rollen mit Behinderungen einen ebenso großen Aufschrei hervorbringen. „Cripping Up“ lautet hierfür der Fachbegriff, der damit die, unter Schauspieler*innen immer noch als Herausforderung gesehene, Imitation von Behinderung im Film beschreibt.
Übrigens: Auch Frauen werden in Filmen von Schauspielerinnen dargestellt und nicht von ihren männlichen Kollegen. Klar gibt es Filme wie „Mrs. Doubtfire“ (1993) oder „Big Mama‘s House“ (2000) in denen Robin Williams bzw. Martin Lawrence sich als Frauen verkleiden, jedoch ist das Stichwort hier: verkleiden. Es ist jeweils ein komödiantisches Versteckspiel, in dem es nicht um die authentische Darstellung einer Person geht.
behinderte Rollen als schauspielerische Herausforderung
Sich mal eben in den Rollstuhl setzen oder so tun als könnte man nichts sehen – das ist nicht nur Aneignung von der Identität eines behinderten Menschen, es hat sogar noch viel weitläufigere Folgen für die Filmbranche: Es verhindert, dass die Filmbranche vielfältiger wird. Wenn jetzt aber Schauspieler*innen mit Behinderung nicht ihre Geschichte, ihre Interpretation weitergeben und darstellen können, weil nicht-behinderte Schauspieler*innen diese Rollen auch noch einnehmen, dann haben wir keine Repräsentanz auf der Leinwand und Zugänge in den Beruf mehr. Mal davon abgesehen, dass die Verkörperung von Rollen mit Behinderung durch nicht-behinderte Schauspieler*innen im wahrsten Sinne des Wortes nicht authentisch ist: die Interpretationen sind fast ausschließlich schlecht. Da hilft es auch nicht, dass man sich „vorab intensiv mit dem Thema Behinderung auseinandergesetzt hat und sogar in den Austausch mit Behinderten Menschen gegangen ist“, wie sich oftmal Schauspieler*innen rechtfertigen wollen.
Durch filmische Anpassungen wäre es sogar auch möglich, dass Schauspieler*innen mit Behinderung Rollen ohne Behinderung spielen. In der deutschen Tragikomödie „Honig im Kopf“ (2014) spielt Samuel Koch – Schauspieler im Rollstuhl – einen Ticketverkäufer, der an einem Schalter sitzt. Seine motorische Beeinträchtigung wird kaschiert, indem die Bewegungen seiner Hände gedoubelt werden. Das zeigt: es ist möglich Schauspieler*innen mit Behinderung zu besetzen. Gleichzeitig stellt sich aber die Frage, warum hier das nicht-behindert-sein simuliert werden muss. Viel wichtiger wäre es stattdessen, das Thema Behinderung wie selbstverständlich im Film stattfinden zu lassen.
Ich sehe keine Farben…
Um mehr Schauspieler*innen mit sogenannten „Vielfaltsmerkmalen“ vor die Kamera zu bekommen, erfreut sich eine Casting-Methode aus den USA immer größerer Beliebtheit: Das Colorblind Casting. Bei dieser Methode werden die Darsteller*innen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft, Hautfarbe, Körperform oder Geschlecht gecastet. Ihre Identität wird somit praktisch irrelevant. Aber kann das die Lösung sein, Vielfalt vor der Kamera zu kreieren, indem man fast wahllos besetzt?
Nicht nur Zuschauer*innen finden es bisweilen gewöhnungsbedürftig, wenn Figuren anders aussehen als ihre historischen Vorbilder. Auch einige betroffene Schauspieler*innen haben Vorbehalte, denn beim einem Film geht es nicht nur um die Darstellung, sondern auch um den Inhalt, um die Perspektive, aus der die Geschichte erzählt wird. Natürlich kann, wie in der Netflix-Serie „Bridgerton“, die Königin Charlotte von einer Schwarzen Schauspielerin gespielt werden, jedoch bleibe es weiterhin die Geschichte aus einer weißen Perspektive. Eine Schwarze Schauspielerin nimmt hier eine privilegierte Rolle ein und die Geschichte der Diskriminierung und Unterdrückung spielt keine Rolle. Deshalb wird gefordert, dass auch hinter der Kamera, unter den Produzent*innen und Autor*innen mehr Vielfalt vorhanden sein sollte, damit die unterschiedlichsten Geschichten geschrieben, erzählt und produziert werden können.
Studien belegen Unterrepräsentation
Der Ansatz des Colorblind Castings kann eben nur dann funktionieren, wenn wirklich in der Filmbranche Chancengleichheit herrscht. Derzeit bildet die Filmbranche aber nicht die Vielfalt ab, die es in unserer Gesellschaft schon lange gibt. So haben zum Beispiel laut der Studie zur audiovisuellen Diversität im Fernsehen von der MaLisa Stiftung nur 0,4% der Menschen, die im TV zu sehen sind, eine Sichtbare Behinderung (6% in der Bevölkerung). Bei Schwarzen Menschen sieht es mit 5% (10% in der Bevölkerung) ebenso mau aus wie bei Menschen mit Migrationsgeschichte: 11% (26% in der Bevölkerung).
Damit sich in der Filmbranche etwas ändert, muss auf diese Missstände aufmerksam gemacht werden. Dies funktioniert aktuell aber nur, wenn die Vielfalt in den Vordergrund gestellt wird. Wenn gezeigt wird, dass es wichtig ist. Wenn die Möglichkeit besteht, die eigene Geschichte – auch die Diskriminierungserfahrungen – zu erzählen.
Ja, die Kommissarin im Tatort ist keine echte Polizistin, aber eine Behinderung ist auch kein Beruf, sondern die eigene Identität, die akzeptiert und respektiert werden sollte. Und das geschieht nur, wenn wir Figuren mit Behinderung und anderen Vielfaltsmerkmalen dahingehend auch authentisch besetzen.
Dieser Artikel ist zuerst in unserem Print-Magazin (18. Mai 2023) erschienen.