Behinderung und Barrierefreiheit im Gesundheitswesen

Eine große weiße Empfangstheke in einer Arztpraxis.
Den Empfang einer Arztpraxis bekommen viele behinderte Menschen wegen fehlender Barrierefreiheit oft nicht zu sehen. Foto: Martha Dominguez de Gouveia | unsplash.com
Lesezeit ca. 7 Minuten

Auch 2023 sind viele deutsche Arztpraxen nicht barrierefrei, wodurch behinderten Menschen weiterhin der Zugang zum Gesundheitssystem verwehrt wird. Wir haben uns gefragt: Wie steht es in Deutschland wirklich um die Barrierefreiheit medizinischer Einrichtungen und wissen Mediziner*innen eigentlich, wie wichtig das Thema ist? Karina Sturm sprach  mit vier Ärzt*innen aus verschiedenen Bereichen.

Kannst du frei wählen, zu welchem Arzt du gehst?

Stell dir vor, du hast plötzlich stechende Schmerzen im Bauch. Dir ist schlecht und du hast ein bisschen Fieber, aber kannst noch einigermaßen im Alltag funktionieren. Du behandelst dich erst einmal mit Hausmitteln, aber denkst: “Wenn das nicht besser wird, dann gehe ich in zwei Tagen zu einer Ärztin oder einem Arzt.” Gedanken darüber, welche*r das ist, machst du dir nicht, weil du die freie Wahl hast. Ein Privileg, das behinderte Menschen nicht haben, denn das Gesundheitssystem ist voller unzähliger Barrieren, die die freie Arztwahl für sie oft unmöglich machen.

Barrieren in ambulanten Settings

Doch wenn wir von Barrierefreiheit sprechen, denken viele Menschen meist nur an die Stufen vor der Praxis und die fehlende Rampe oder den kaputten Fahrstuhl. Klar gibt es diese Barrieren auch, aber nicht nur Menschen mit Mobilitätseinschränkungen stehen im Gesundheitssystem vor Herausforderungen. “Ein Arzt hat abgelehnt, mich zu behandeln, in der Anwesenheit meines Blindenführhundes. Mein Mitbewohner musste dann meinen Hund abholen, bevor ich in die Praxis durfte”, erzählt Andrea Eberl, die nicht nur einmal, sondern mehrfach von medizinischem Personal vor die Wahl gestellt wurde: Assistenzhund oder benötigte medizinische Behandlung. Eigentlich ist es in Deutschland gar nicht erlaubt, die Mitnahme eines Assistenzhundes zu verweigern – egal ob Praxis oder Restaurant. Doch viele Menschen ohne Behinderung halten sich nicht an die gesetzlichen Regelungen. “Dass man als behinderte Person ständig dasteht wie eine Bittstellerin ist frustrierend. Man hat immer das Gefühl, dass jemand gnädigerweise etwas Nettes für mich tut. Doch eigentlich müsste es doch Standard sein, dass gerade Praxen barrierefrei sind! Ich bin doch nicht die einzige Person, die in einem medizinischen Raum Unterstützung benötigt”, erklärt Eberl.

“Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung aufgrund von Behinderung.”

Wie Eberl geht es in Deutschland Menschen mit den verschiedensten Behinderungen. Beispielsweise hatte 2016 nur ein Drittel der 200.000 deutschen Praxen eine einzige Vorkehrung für Barrierefreiheit getroffen – meistens ein barrierefreier Eingang ohne Stufen. Sehr viel seltener waren z. B. Orientierungshilfen wie Leitsysteme für blinde Menschen aufzufinden und das Schlusslicht bildete die Möglichkeit, mittels Gebärdensprache zu kommunizieren. Auch 2021 sah die Situation nicht viel besser aus. Laut des  Bundesteilhabeberichts waren nur ein Fünftel aller Praxen für Rollstuhlfahrer*innen zugänglich und nur 13 Prozent aller Praxen hatten eine weitere Barriere abgebaut, wie z. B. durch einen höhenverstellbaren Untersuchungstisch oder die barrierefreie Toilette. 2023 waren dann schon über 40 Prozent der ambulanten Praxen für Rollstuhlfahrer*innen zugänglich, während allerdings nach wie vor der Großteil der deutschen Praxen nicht auf Menschen mit Lernschwierigkeiten eingestellt ist. 

“Es wäre so wichtig, dass mehr ins Bewusstsein aller Ärzt*innen kommt, welchen Anteil Barrierefreiheit an der Lebensqualität der Patient*innen hat. Vielen Kolleg*innen ist immer nicht so klar, dass es nicht nur um Krankheiten und Diagnosen geht, sondern was für unsere Patient*innen im Alltag wichtig ist, beispielsweise. wie sie diesen möglichst gut bewältigen können”, sagt Dr. Natalie Börsch, Ärztin in der Praxis Dr. Mücke in Bonn. Börsch beschäftigt sich hauptsächlich mit chronisch kranken und behinderten Menschen. “Ich hoffe, dass das Thema Barrierefreiheit mit der jüngeren Generation mehr in den Fokus rückt. Aber dadurch, dass es bisher nie Thema im Studium war, wird die Barrierefreiheit auch nach wie vor vernachlässigt.”

Barrierefreiheit in Kliniken

“Also mit Behinderung generell, aber auch mit Barrierefreiheit haben wir uns im Studium gar nicht auseinandergesetzt”, bestätigt auch Dr. Ole Oelerich, Zahnarzt an der Uniklinik Münster. Der 27-Jährige hat im Juni 2021 sein Examen gemacht. “Barrierefreiheit war für mich erst ein Thema, als ich angefangen habe, mit Menschen mit seltenen chronischen Erkrankungen zu arbeiten, die alle unterschiedliche Beeinträchtigungen im Alltag hatten. Durch intensive Gespräche mit Betroffenen habe ich mehr darüber gelernt, was Behinderung ist und Barrierefreiheit bedeutet.” Wobei Oelerich auch anmerkt, dass die rein physische Barrierefreiheit an seiner Uniklinik gegeben sei. Dabei scheint es in deutschen Kliniken besser bestellt zu sein als in ambulanten Settings. “Ich habe im Herbst 2011 angefangen, in Berlin Medizin zu studieren. Doch obwohl die Charité eine sehr alte Uni ist, gab es eigentlich nur ein Gebäude, in das ich nicht rein konnte”, sagt Dr. Leopold Rupp, Arzt an der Charité in Berlin, der außerdem einen Rollstuhl nutzt. “Ich glaube, was viele vergessen ist, dass der Großteil des Medizinstudiums in der Klinik stattfindet und da viele Patient*innen in Betten durch die Klinik gefahren werden, sind sie eigentlich immer barrierefrei.” Der 31-Jährige berichtet nur von wenigen Situationen, in denen Barrieren für ihn während des Studiums ein Problem waren. “Damals gab es im Anatomiesaal nur Stehtische und ich musste mich auf meinen Rollstuhl stellen, damit ich an den Tisch rankomme.” Dennoch: Wie barrierefrei deutsche Krankenhäuser sind, darüber gibt es kaum Angaben. Auch ein bundesweites Verzeichnis mit klar definierten Standards für Barrierefreiheit für alle Behinderungsformen gibt es nicht – weder für den ambulanten noch den stationären Bereich. Lediglich einen kleinen Überblick bieten Seiten wie www.arzt-auskunft.de oder das Portal www.einfach-teilhaben.de

Ableismus in der Medizin und das medizinische Modell

Neben den physischen Barrieren im Medizinbereich treffen behinderte Menschen gleichermaßen häufig auf personale Barrieren, z. B. in Form von Ableismus. “Im Studium haben immer alle gedacht: ‘Wenn der das im Rollstuhl schafft, dann muss er besonders gut sein’”, erzählt Rupp. Auch solche positiven Vorurteile sind diskriminierend. “Ich war kein guter Schüler, ein mittelmäßiger Student und jetzt, denke ich, bin ich ein ganz okayer Arzt”, Rupp lacht. Häufig richtet sich der Ableismus aber gegen Menschen mit Behinderungen, die gerade in Praxen oder Kliniken Hilfe suchen. So berichtet Melanie Eilert auf Instagram von einer kürzlichen Erfahrung im Krankenhaus. Eilert lebt mit spinaler Muskelatrophie (SMA), die aber nicht mit ihrem Krankenhausbesuch zu tun hatte. “Ich liege da also völlig erschöpft vom Stress und der akuten Krankheit und [der Arzt] sagt: ‘Sie wissen sicher, dass spinale Muskelatrophie fortschreitend ist und nicht mehr besser wird? Sollen wir überhaupt noch Maßnahmen ergreifen?’” Sie setzt fort: “Müsst ihr euch mal reinziehen. Da komme ich mit akuter Schilddrüsenüberfunktion ins Krankenhaus, die aber schon behandelt wird […] und dann werde ich aufgrund der SMA gefragt, ob ich eigentlich überleben will.” Die Vorurteile der nicht-behinderten Mediziner*innen, die nicht mit behinderten Menschen umgehen zu wissen und sie aktiv diskriminieren, basieren häufig auf dem medizinischen Modell von Behinderung – also Behinderung wird als etwas gesehen, was Fehlerhaft ist und geheilt werden muss. Wie der Name schon sagt, sehen vor allem nicht-behinderte Ärzt*innen Menschen mit Behinderungen durch die Linse des medizinischen Modells. “Es geht selten um Krankheitsbewältigung oder die Lebensführung mit Behinderung, sondern nur um Heilung. Obwohl wir eigentlich die meisten Krankheiten gar nicht heilen können, wird diese Tatsache im Studium nur wenig abgebildet”, erläutert Dr. Natalie Börsch. “Ärzt*innen sind oft auch frustriert, wenn sie die Patient*innen nicht heilen können, weil das das Gefühl vermittelt, sie können nichts Sinnvolles tun.”  Dr. Leopold Rupp fügt an: “Aber fairerweise muss man sagen, da sind dann auch die Ärztinnen und Ärzte die falschen Ansprechpartner*innen. Wir sind ausgebildet, eine Veränderung des menschlichen Körpers zu erkennen und zu benennen und dann Handlungsoptionen – ich nenne es jetzt nicht Heilung – anzubieten, um die Situation zu verbessern. Um den Umgang mit der chronischen Krankheit/Behinderung beizubringen, gibt es andere Personen und all das ist ein Teameinsatz.” 

Menschenrechtliches Modell von Behinderung

Genau wie alle anderen Ärzt*innen in diesem Artikel hat sich auch Oberstarzt Dr. Andreas Lison, Leiter des Zentrum Sportmedizin der Bundeswehr, nur zufällig mit dem Thema Behinderung auseinandergesetzt, um vor allem Soldat*innen mit schweren Beeinträchtigungen am Bewegungsapparat, gleich welcher Ursache, rehabilitativ zu behandeln. “Ursprünglich hatte ich nichts mit Menschen mit Behinderungen oder Beeinträchtigungen zu tun, weshalb ich auch eine innere Hemmschwelle empfand, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, in der falschen Wahrnehmung, dass ich damit vielleicht überfordert sein könnte. Ich habe zum Beispiel sehr lange gedacht, dass man Menschen mit einer bleibenden Beeinträchtigung am Bewegungsapparat anders untersuchen muss als Menschen ohne. Das stimmt natürlich nicht”, sagt Lison. Mittlerweile hat der Mediziner viel dazugelernt: Seine Abteilung ist eine der wenigen Einrichtungen, die nicht das medizinische Modell von Behinderung zugrunde legt, sondern vielmehr nach dem menschenrechtlichen Modell von Behinderung bzw. der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) arbeiten. “Wir haben die UN-BRK als Grundlage, weil wir verstanden haben, dass Rehabilitation ein umfassender Begriff ist, der sich in allen Belangen mit Krankheitsfolgen beschäftigt. Weil wir eine rehabilitative Eigenkompetenz entwickeln mussten, sind wir systematisch auf die Suche nach bestehenden Konzepten gegangen und landeten schließlich auch bei der UN-Behindertenrechtskonvention, die die Begrifflichkeit der Behinderung anders als das Sozialgesetzbuch neu definiert”, sagt Lison. Das bedeutet, dass sich Lison und sein interprofessionelles Team deutlich mehr Zeit nehmen für die Patient*innen, als das üblich ist, und sie nicht auf ihre Behinderungen reduzieren. Laut Lison ist das Konzept der Bundeswehr jedoch eher schwierig auf die Zivilgesellschaft übertragbar. “Um die bestmögliche Funktionalität und Teilhabe in beruflicher Hinsicht, aber natürlich auch im Privaten zu erreichen, dafür braucht es einfach Zeit.” Doch die ist im zivilen Gesundheitssystem nicht vorgesehen. Tatsächlich können Ärzt*innen im Schnitt nur sieben Minuten mit Patient*innen verbringen, um wirtschaftlich zu arbeiten (also damit es sich finanziell noch lohnt). Viel zu wenig Zeit, um mit komplexeren Beschwerden umzugehen – behindert oder nicht. “Ich habe als Sanitätsoffizier den riesigen Vorteil, dass ich in einem nicht kommerziell orientierten System arbeiten kann”, fügt Lison an. Auf die Frage, was sich Lison von seinen Kolleg*innen wünschen würde, antwortet der Mediziner: “Ich würde mir wünschen, dass sie sich mit Wissen auseinandersetzen: nicht nur mit der UN-BRK, sondern auch mit dem Sozialgesetzbuch 9, wo drin steht, wann ein Mensch behindert ist. Denn das hat nicht viel mit Diagnosen als mehr mit Barrieren durch die Umwelt und uns als Gesellschaft zu tun. Und die gilt es abzubauen.”

#DieGutePraxis

Die Sozialheld*innen haben einen ausführlichen Fragebogen zu Barrierefreiheit in deutschen Arztpraxen erstellt, die dann auf Wheelmap, einer Onlinekarte, die Orte anhand ihrer Barrierefreiheit bewertet, angezeigt werden sollen. Bis Ende September sollen Daten für 800 Praxen gesammelt werden. Hilf mit auf:  https://sozialhelden.de/blog/barrierefreiheit-in-arztpraxen-gemeinsam-mehr-durchblick-schaffen/

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2 Antworten

  1. Einen Hinweis zu weiterführender Literatur im Kontext “barrierefreies Gesundheitswesen” möchte ich von Seiten der Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben gerne hinzufügen:
    Zur Sicherstellung einer angemessenen Interaktion und Kommunikation mit Menschen mit Behinderungen im Krankenhaus haben die Kompetenzzentren Selbstbestimmt Leben (KSL.NRW) ein Praxishandbuch erarbeitet, das in der Ausbildung für den Pflegeberuf eingesetzt werden, aber auch für andere Berufsgruppen ein praktisches Werkzeug sein kann.
    Das 280 Seiten starke Handbuch ist kostenlos als Download oder auch als Printversion bestellbar.
    Weitergehende Informationen unter: http://www.ksl-nrw.de/de/inklusive-gesundheit

    Es handelt sich um eine nicht-kommerzielle Veröffentlichung im Rahmen der Tätigkeit der KSL.NRW und ist daher frei zugänglich.

    Vielen Dank und liebe Grüße, Stephan Wieners

  2. Das Thema ist mir hier zu einseitig und oberflächlich betrachtet.
    Barrierefreiheit ist mehr und wo sie fehlt, muss man auch untersuchen, warum das so ist.
    Das fehlt hier komplett. Schade

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