“Glück auf einer Skala von 1 bis 10” ist die neue Komödie von Alexandre Jollien und Bernard Campan, in der der behinderte Fahrradkurier Igor mit Bestatter Louis auf einen Roadtrip der anderen Art geht. Autorin Karina Sturm berichtet von ihren Eindrücken über die Story, die Darstellung von Behinderung im Kino und TV und warum sich “Glück auf einer Skala von 1 bis 10” von anderen Buddy-Roadtrip-Filmen abhebt.
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Der Film “Glück auf einer Skala von 1 bis 10” kommt in die Kinos. Karina Sturm hat ihn schon gesehen und schreibt hier, wie sie ihn fand.
Im Film geht Igor mit Louis auf einen Roadtrip. Das heißt, sie fahren mit dem Auto umher. Igor hat eine Behinderung und der Schauspieler, der Igor spielt, hat wirklich diese Behinderung. Das findet Karina Sturm sehr gut. Sie meint, nur so wird die Behinderung im Film gezeigt, wie sie auch ist. Und sie findet: Behinderung muss häufiger auf diese Weise in Filmen vorkommen. Sie fand den Film sehr gut.
Buddy-Roadtrip mal anders
Wenn ein Bestatter mit einem behinderten Fahrradkurier auf einen Roadtrip geht… Klingt wie der Anfang einer klischeebeladenen Komödie, mag sich die eine oder andere Person denken, wenn sie zum ersten Mal von “Glück auf einer Skala von 1 bis 10” hört. Doch völlig entgegen der anfänglichen Skepsis, überrascht die 90-minütige Tragikomödie durch ihre Vielschichtigkeit, die so gar nichts mehr mit Roadtrip-Komödien gemein hat. Und dann ist da natürlich die Tatsache, dass einer der beiden Hauptprotagonisten, Igor, behindert ist.
Igor ist ein Hobbyphilosoph, der auf seinem Fahrrad Biogemüse ausliefert und das mit einer Liebe und Leidenschaft tut, wie kein anderer. Igor ist zufrieden mit dem Leben, aber wünscht sich ein bisschen mehr Freiheit und Unabhängigkeit. Als er vom gestressten Businessmann und Bestatter Louis angefahren wird, sieht der junge Mann den Unfall als Chance und versteckt sich im Auto des Bestatters, der einen Sarg quer durchs Land zu einer Beerdigung transportiert. Das ungleiche Paar freundet sich schnell an und geht zusammen auf einen Roadtrip, der neben ableistischen Kommentaren des Umfelds, über professionelle Sexarbeiterinnen, bis zum Nacktbaden im See führt.
Gespielt wird Igor von Philosoph und Autor Alexandre Jollien. Jollien wurde 1975 in der Schweiz geboren und studierte Literatur an der Universität Freiburg. Laut Presseportfolio ist er der erste und einzige Philosoph, der mit einer zerebralen Lähmung lebt. Jollien nutzt die Philosophie, um sich mit seiner Behinderung auseinanderzusetzen und diese “in eine Quelle der Kraft und der schöpferischen Energie zu verwandeln”.
Repräsentation von Menschen mit Behinderungen in den Medien
Die Tatsache, dass Igor und Jollien die gleiche Behinderung haben, ist besonders wichtig, denn dadurch wird ermöglicht, dass die Rolle des Igors nicht wie so oft stereotypisch und fehlerhaft ist. Schauspieler mit gelebter Erfahrung von Behinderung schaffen es noch viel zu selten vor die Kamera. Die Ruderman Family Foundation hat 2018 publiziert, dass von 300 Serien im TV und auf Streaming-Plattformen in den USA nur ein Fünftel aller Charaktere mit Behinderungen akkurat porträtiert wurden.
Einer Studie aus dem Jahr 2016 zufolge, werden 95 Prozent der behinderten TV-Charaktere in den USA von nicht behinderten Personen gespielt. Der Fachbegriff hierfür ist “Cripping up”. Laut einer Studie von GLAAD finden sich überhaupt nur 3,5 Prozent Charaktere mit Behinderungen in bekannten US-Serien und das obwohl 15 Prozent der Weltbevölkerung mit einer Behinderung leben. Diese Zahlen beziehen sich zwar auf US-amerikanisches Fernsehen, doch die meisten dieser Serien können wir in Deutschland entweder im TV oder über Streaming-Plattformen ebenfalls sehen. Doch auch in Deutschland berichten über 60 Prozent der Filmschaffenden davon, dass Behinderung/Beeinträchtigung in den Medien stereotypisch dargestellt werden. Insgesamt sind auch nur zwei Prozent aller Schauspieler in Deutschland schwerbehindert. Das gilt übrigens auch für andere Minderheiten, wie Menschen aus der LGBTQ-Community oder BIPOC-Community. Sie sind alle unterrepräsentiert vor und hinter der Kamera.
“Die Tatsache, dass die Figur behindert ist, war eine Vorgabe. Ich könnte keinen Stepptänzer darstellen”, scherzt Jollien auf die Frage, ob es ihm besonders wichtig gewesen sei, einen behinderten Hauptcharakter im Film zu haben.
Wie ähnlich sind sich Jollien und Igor?
Allerdings hat Jollien auch sonst einige Gemeinsamkeiten mit seinem Filmcharakter Igor. Der Regisseur und Hauptdarsteller ist im echten Leben nämlich wie Igor ein leidenschaftlicher Philosoph. Gekonnt platziert Jollien Weisheiten von bekannten Persönlichkeiten wie z. B. Friedrich Nietzsche – auch privat ein großes Vorbild von Jollien – im Film. Die philosophischen Einschübe fühlen sich aber nicht gezwungen oder zu abstrakt an und sind für Nicht-Philosophen gut verständlich, um nicht zu sagen, an manchen Stellen gar inspirierend. “Das Ziel meines Lebens, sein Hintergrund, seine Natur, ist das Streben nach einem philosophischen Leben”, meint Jollien. Auch ein weiterer Punkt in Jolliens Biografie scheint als Vorbild zur Erschaffung von “Igor” gedient zu haben: Wie Igor lebte auch Jollien während seiner Kindheit und Jugend in einer Einrichtung für behinderte Menschen.
Diese diversen Überlappungen zwischen Filmcharakter und Schauspieler lassen vermuten, dass die Rolle “Igor” deshalb so facettenreich, repräsentativ und authentisch wirkt.
Wie geht Repräsentation?
Ist man selbst eine Person mit Behinderung/chronischer Krankheit, giert man förmlich nach Charakteren wie Igor. Sich selbst mal auf dem Bildschirm zu sehen, das wäre ein riesiger Erfolg. Doch oft ist es so, dass man von einem neuen Film oder einer neuen Serie mit einem behinderten Charakter erfährt – vielleicht sogar noch mit der gleichen Behinderung, die man selbst hat – und die Gefühle sind gemischt: einerseits ist die Vorfreude und Hoffnung groß. Andererseits ist da auch oft Sorge, denn häufig sind die Resultate enttäuschend. In den vergangen Jahren haben Menschen mit Behinderungen vieler dieser Enttäuschungen erleben müssen.
Ein negatives Beispiel aus dem Jahr 2016 war zum Beispiel die Buchverfilmung des Bestsellers von Jojo Moyes “Ein ganzes halbes Jahr”, die als “Romanze” getarnt, die Geschichte eines Mannes mit Behinderung und seiner jungen Pflegekraft erzählte. Die beiden verlieben sich später ineinander, doch die Romanze hält nicht lang, denn der Hauptcharakter, der durch einen Unfall gelähmt ist, entscheidet sich wegen seiner Behinderung gegen das Leben. “Behinderung” als etwas Fehlerhaftes oder gar als ein Schicksal, mit dem man nicht leben kann, darzustellen, ist falsch und der Film stand zurecht in der Kritik bei Aktivist*innen. Das ist ein besonders eindrückliches Beispiel dafür, wie die Porträts von Menschen mit Behinderungen in Filmen einen großen Einfluss auf die Zuschauer haben können und diverse Stereotypen dadurch noch weiter verfestigt werden. “Es besteht auch die Gefahr, dass Menschen mit Behinderungen eine Inspirationsquelle sein müssen, um andere zu interessieren. Ich träume davon, eines Tages einen Mistkerl zu spielen, um zu zeigen, dass Menschen mit Behinderungen vollwertige Wesen sind und einfach nur so leben, wie sie sind,” fügt Jollien hinzu.
Spielen mit Stereotypen
Doch Kinobesucher von “Glück auf einer Skala von 1 bis 10” können aufatmen. Dieser Film macht keinen der bekannten Fehler und spielt gar mit den typischen Klischees. Mit viel schwarzem Humor, ohne dabei niveaulos zu werden, sprechen die Hauptcharaktere verschiedene Themen rund um Behinderung an. So gibt es zum Beispiel schon ganz am Anfang des Films eine Diskussion zwischen Igor und seiner überfürsorglichen Mutter, die ihn verkuppeln will – ein Problem, das viele Menschen mit Behinderungen kennen. Die beiden geraten in einen Streit, den Igor beendet mit: “Wirst du mir im entscheidenden Moment auch ein Kondom überstülpen?!”
Solcherart Situationen gibt es mehrere im Film. Und sogar vor komplexen Themen schreckt “Glück auf einer Skala von 1 bis 10” nicht zurück: Sex und Behinderung. Ja, auch Menschen mit Behinderungen haben Sex, aber darüber wird in der Gesellschaft nur wenig gesprochen. Die Komödie hingegen, geht noch einen Schritt weiter und bringt zudem professionelle Sexarbeit mit ein. “Für mich war es ein Geschenk, mich von den anderen [Schauspielern] getragen zu fühlen. Es gab kein Urteil. Es war wirklich therapeutisch, von Igor als jemand zu sprechen, der außerhalb von mir steht. ‘Igor ist behindert’, ‘Igor ist müde’, ‘Igor fühlt sich unwohl mit der Sexualität’. Die Tatsache, dass man über Behinderung sprechen konnte, aber mit einem leichten Abstand, ohne zu verleugnen, wer man ist, war großartig”, sagt Jollien im Presseheft.
Disability Mainstreaming
Im gesamten Film werden verschiedene Klischees rund um Igors Behinderung aufgeklärt, wie z. B. die Annahme, dass behinderte Menschen nur Beziehungen zu anderen Personen mit Behinderungen haben können oder der Punkt, dass Menschen wie Igor keine Freunde, sondern nur Pflegekräfte bei sich haben. Dabei steht seine Behinderung im Film jedoch nie im Vordergrund.
Zwar ist Igors Behinderung sofort sichtbar: seine Bewegungen sind anders, als die von nicht behinderten Menschen und auch sein Sprachmuster weicht etwas ab. Doch all diese “Merkmale” sind Teil seines Charakters, nicht der Fokus der Storyline. Besonders gekonnt umgesetzt ist dieser Punkt auch in der Beziehung zwischen den beiden Protagonisten. Bestatter Louis, gespielt von Bernard Campan, interessiert sich reichlich wenig für die Tatsache, dass Igor behindert ist. Er ist viel mehr genervt davon, dass Igor sich heimlich in dessen Auto geschlichen hat und unbemerkt mitgefahren ist. Auf der einen Seite steht also der Lebenskünstler Igor, der in allem etwas Positives sieht und auf der anderen Seite der Workaholic Louis, der genau das Gegenteil von Igor zu sein scheint. Im Laufe der Reise beeinflusst nicht einer den anderen, sondern sie bringen sich gegenseitig Neues bei und, man könnte auch sagen, wachsen gemeinsam.
Eine Situation, die die Selbstverständlichkeit widerspiegelt, mit der Louis mit der Behinderung von Igor umgeht, ist eine Szene in einer Raststätte, in der sie etwas zu Essen bestellen wollen. Das Servicepersonal ignoriert Igor und fragt stattdessen den nicht behinderten Louis, was Igor denn bestellen wolle – ebenfalls eine typische Situation für viele Menschen mit Behinderungen – und der entgegnet ganz trocken: “Was fragen Sie denn mich? Fragen Sie doch ihn selbst!” Jollien erklärt, dass die besondere Herausforderung bei all diesen Szenen war, nicht in Karikaturen zu verfallen, aber gleichzeitig genauso wenig die täglichen Schwierigkeiten durch die Behinderung zu leugnen.
Und Igor, der verändert Louis, in dem er ihm Lebensfreude und einen tieferen Sinn beibringt. Die beiden ergänzen sich und werden dadurch schnell enge Freunde. “Die Geschichte handelt von zwei Wunden auf Beinen, die verstehen, dass man sich anderen annähern, Klischees sprengen und eine innere Freiheit wagen muss, um bedingungslose Freude zu erlangen”, erklärt Jollien.
“Liebe auf den ersten Blick.”
Alexandre Jollien
Nicht nur auf der Leinwand, sondern auch im privaten Leben, sind sich die beiden Hauptdarsteller nah. „Dass ich Schauspieler und Regisseur geworden bin, verdanke ich vor allem einer Freundschaft, nämlich der von Bernard, der mich zum Film gebracht hat. In meinen Augen ermöglicht es das Kino, Nietzsches Projekt zu erfüllen, der Dummheit zu schaden, die Herzen zu bekehren und spirituelle Werkzeuge zu vermitteln“, sagt Jollien. Bernard Campan, bekannt als Schauspieler, Autor und Regisseur des César-Preisträgers ALLES KEIN PROBLEM, und Alexandre Jollien lernten sich vor 18 Jahren kennen, als Campan Jollien im Fernsehen sah. Die beiden fühlten sich wie Seelenverwandte, schreibt Campan im Presseheft. Jollien spricht gar von “Liebe auf den ersten Blick.” Sie begannen täglich für Stunden zu telefonieren. Bei ihrem ersten Treffen spazierten sie am Genfer See entlang, als Jollien Campan fragte, ob er Lust hätte, zu baden. Campan erwiderte, er habe keine Badehose dabei. Kein Problem, meint Jollien, und die beiden badeten in Unterhosen. Auch diese Szene mag dem ein oder anderen Zuschauer bekannt vorkommen.
Wie Igor und Louis sind sich auch Jollien und Campan nicht immer einig. Die Realisierung des Films nennt Jollien einen “langsamen und schmerzhaften Prozess”, einen Test für die Freundschaft. “Bernard wollte sich an etwas Nüchternem orientieren, während ich einen verrückten Film bevorzugte. Wir haben ein Gleichgewicht gefunden. Und dank der bedingungslosen Liebe von Bernard und dem Team habe ich den Film lebend verlassen”, sagt Jollien.
Vielleicht sind es gerade diese Überschneidungen und Ähnlichkeiten zwischen Fiktion und Realität, die Mischung aus Freundschaft und Arbeit, weshalb dieser Film besonders gelungen ist, wenn es um die Repräsentation von Menschen mit Behinderungen geht?
Jollien bleibt bescheiden
Weist man Jollien darauf hin, dass “Glück auf einer Skala von 1 bis 10” eine der wenigen Ausnahmen ist, was die akkurate Repräsentation angeht und wie stolz er auf diesen Erfolg sein kann, reagiert er bescheiden: “Stolz ist eine Sache des Egos, Freude ein sehr hohes Maß an Gemeinsamkeit.” Am meisten freue er sich darüber, den Film in Teamarbeit bis zum Ende hin zusammen durchgezogen zu haben. Wenn er heute auf die Dreharbeiten zurückschaut, bereut er nicht mehr auf die sozialen Dimensionen eingegangen zu sein und “auf die Tatsache, dass wir uns sozial engagieren müssen, um eine wachere, freiere und integrativere Gesellschaft aufzubauen,” sagt Jollien. Und wer sich gewundert hat: Nein, Jollien hat die Stunts im Film nicht selbst gemacht. “Es gab einen Stuntman. Zum Glück! Sonst wäre ich sicher nicht hier, um Ihnen zu antworten”, scherzt der Philosoph.
Eine Antwort
Glück auf einer Skala von 1 bis 10
Der Film läuft in nur sehr wenigen Kinos, ist sehr liebenswert erzählt und deshalb sehenswert.
Ein bisschen wie “Ziemlich beste Freunde”, aber dennoch eine ganz andere Story.
Wir haben ihn gesehen und sind berührt. Ganz besonders von Alexandre Jollien!
Man schließt ihn beim Zuschauen ins Herz und man hat fast das Gefühl einen lieben Freund zu verabschieden, wenn der Film vorbei ist. Ich wünsche mir mehr von und mit ihm zu sehen.