Die Neue Norm: „Drei Journalist*innen, zwei Rollstühle und eine Sehbehinderung: Die Journalist*innen Judyta Smykowski, Jonas Karpa und Raul Krauthausen sprechen über Behinderung, Inklusion und Gesellschaft.
Folge 19: „Bundestagswahl 2021“
Jonas:
Raúl, sagt mal, du bist ja sehr bekannt, auch als Inklusions-Aktivist. Hast du schon mal darüber nachgedacht, eine eigene Partei zu gründen? Die RKP, die Raúl Krauthausen Partei?
Raúl:
Also ich glaube, man sollte sie nicht so personenzentriert machen, aber auch nicht monothematisch, deshalb habe ich da auch noch nicht drüber nachgedacht.
Jonas:
Marmeladenbrote für alle…
Raul:
Es gibt ja auch keine Olaf-Scholz-Partei.
Judyta:
Dann musst du die Rollstuhlpartei, oder die Glasknochenpartei oder die Behindertenpartei..
Raúl:
BPD- Behindertenpartei Deutschlands.
Judyta:
Es gibt viele Möglichkeiten.
Raúl:
Wisst ihr, was ich mag? Ich mag Pathos, und wenn man eine Partei gründen würde, nehmen wir an, wir würden die BPD gründen, die Behinderten Partei Deutschland oder die IPD, die Inklusions Partei Deutschland oder die IfT, Inklusion für Deutschland, dann bräuchten wir einen Leitspruch. Die anderen Parteien haben ja auch so Leitsprüche. Und ein Leitspruch – wo ich jetzt aber gerade herausgefunden habe, dass der kopiert ist – den ich mir überlegt hatte, war: „Wie, wenn nicht so. Wann, wenn nicht jetzt? Und wer, wenn nicht wir?
Judyta:
Und von wem ist das?
Raúl:
John F. Kennedy hat das wohl mal gesagt. Aber: Wer, wenn nicht wir?
Judyta:
Wir Drei?
Raúl:
Wir Drei, ja! Wir Menschen mit Behinderung, wir für Inklusion… wie auch immer. Also nicht wir Drei, sondern wir Menschen.
Jonas:
Ich hatte schon gehofft, dass ich ein Ministeramt kriege.
Raúl:
Für welches Ministerium wärst du dann?
Jonas:
Ähm….lustige Tiere.
Judyta:
Nee… Vielseitig einsetzbar. Ich hätte bei dir gesagt… Sport.
Raúl:
Das wäre ein Superministerium dann für „vielseitig einsetzbar“. Bist du die Allzweckwaffe…
Jonas:
Minister für besondere Aufgaben… Gibt es doch schon.
Judyta:
Da wirst du dann einfach nur am Schreibtisch sitzen und Däumchen drehen?
Raúl:
Immer dann, wenn es heißt, das Kanzleramt ist zuständig.
Jonas:
Genau!
Judyta:
Ich hätte gerne das Kulturministerium.
Jonas:
Du meinst, irgendwas mit Pflanzen?
Judyta:
Das ist ja auch Kultur! Hochkultur!
Jonas:
Ja, Pflanzenkultur.
Judyta:
Hochkultur/Hochbeete!
Raúl:
Pharmakultur.
Judyta:
Raúl dropt einfach irgendwelche Begriffe. Aber was würdest du machen, Raúl? Du wirst Präsident!
Raúl:
Ich wäre im Schlechte-Worte-Ministerium.
Judyta:
Hättest du aber auch nicht viel zu tun. Irgendwann würden die Leute einfach sagen: Oh, der nervt, der Typ!
Raúl:
Das sagen die jetzt schon!
Jona:
Herzlich willkommen zu Die Neue Norm, dem Podcast. Bald ist die Bundestagswahl, und deswegen dreht sich heute auch alles darum. Was sagen die einzelnen Parteien zum Thema Barrierefreiheit, Inklusion und Menschen mit Behinderung? Wie wählen Menschen mit Behinderung? Und lohnt es sich vielleicht auch, einfach als Mensch mit Behinderung eine eigene Partei zu wählen, weil man sagt: Okay, die da oben, die kriegen das eh nicht hin – wir machen das viel besser. Darüber sprechen wir heute, und zwar mit den Personen meiner/unserer/eurer Wahl: Judyta Smykowski und Raúl Krauthausen.
Mein Name ist Jonas Karpa. Wir haben ja eben schon mal so ein bisschen rumgesponnen zum Thema „eine Behindertenpartei zu gründen“. Ist das wirklich die logische Konsequenz daraus zu sagen, Menschen mit Behinderung fühlen sich von der Politik nicht wirklich repräsentiert?
Judyta:
Ja, aber dann haben wir ja besonders die Nische wieder. Dann wird es überall heißen: Ja, das kann dann die Behindertenpartei machen. Oder: Lasst das doch mal bei der Behindertenpartei verorten. Und da muss man ja sagen, wir kommen ja überall im Leben vor, im kulturellen Bereich, im sportlichen Bereich…also ich jetzt nicht, aber ihr so vielleicht… im politischen Bereich, im gesellschaftlichen Bereich – wir sind Teil der Gesellschaft, und deswegen braucht es diese Partei nicht für uns, sondern die Parteien, die es gibt, sollten die Interessen von uns einfach mitnennen und mit auf dem Schirm haben.
Jonas:
Heißt also: Behinderung ist ein Querschnittsthema.
Judyta:
Zehn Cent ins Phrasenschwein erstmal. Und heißt es nicht: Querschnitt?
Jonas:
Ja, aber ich wollte es einfach…
Raúl:
Kompletter oder halber Querschnitt?
Judyta:
Inkompletter – ich bin für inkomplett.
Jonas:
Okay, aber es gibt ja auch andere Parteien. Also es gibt ja die Tierschutzpartei. Ich glaube, früher gab es mal die Partei „Die Grauen Panther“, die sich nur um Belange von älteren Menschen, von Rentner*innen spezifiziert hat. Ich glaube, bei der aktuellen Wahl gibt es auch die Hip Hop Partei. Es gibt ja Nischenparteien.
Raúl:
Klar, aber was diese Parteien ja dann am Ende immer leisten müssen, wenn sie eine große Relevanz bekommen wollen, ist, dass sie auch zu den anderen Themen irgendeine Position haben müssen, so wie die Grünen in den letzten Jahrzehnten sich auch in anderen Bereichen Kompetenzen aufgebaut haben. Selbst die Alternative Partei in Deutschland sehr monothematisch noch unterwegs ist und auch auf viele Fragen, wie zum Beispiel Renten oder auch Umweltschutz, gar keine Antworten bietet und noch keine Lösungsvorschläge, sondern höchstens sagt, wir lassen alles so. Und wahrscheinlich ist es leichter, die großen Parteien für das Thema Inklusion aufzuschließen und zu gewinnen und da Mitstreiter*innen zu finden, als in einer noch zu gründenden Partei zu allen anderen Themen Kompetenzen aufzubauen, auch noch von und mit Menschen, die eine Behinderung haben. Weil so viele sind wir ja dann auch nicht.
Judyta:
Und haben behinderte Menschen eigentlich immer Bock, sich mit Behinderung auseinanderzusetzen? Also wir Drei…das ist unser Job…
Raúl:
Würden sich die 90 Prozent der nicht behinderten Menschen unserer Gesellschaft dann für die Partei der Inklusion entscheiden, wenn sie in ihrem Alltag auch noch ganz andere Dinge beschäftigen?
Jonas:
Natürlich kümmern wir uns jetzt beruflich um das Thema. Aber ich bin immer froh, wenn im Urlaub nicht explizit und ständig und komplett der Fokus darauf ist, sich mit dem Thema auseinandersetzen zu müssen, weil ich es halt natürlich auch im Privaten, im Alltag habe. Also auf die Barrieren, auf die ich stoße, die habe ich jederzeit. Im beruflichen Kontext setze ich mich dann noch mal anders damit auseinander. Aber ich werde natürlich auch privat ständig immer daran erinnert über das, was ich mache.
Raúl:
Aber es ist halt ein Dilemma, weil auf der anderen Seite wird ja erwartet, dass die Menschen, die das Thema Inklusion zu ihrem Thema machen, auch eine gewisse Erfahrung, idealerweise auch eine eigene Betroffenheit haben.
Jonas:
Ich fand das, was du, Judyta gerade gesagt hast, sehr spannend, dass ja eigentlich das Thema Behinderung in allen Bereichen eben mitspielen sollte. Also wir können nicht über den Arbeitsmarkt reden, ohne das Thema Behinderung zu nennen. Auch im Thema Klimawandel spielt Behinderung eine Rolle. Denkt mal nur an das schreckliche Unglück, als die Flutkatastrophe jetzt im Rheinland/Rheinland-Pfalz war, wo zwölf Bewohner*innen einer Pflegeeinrichtung ertrunken sind. Wo sich die Frage stellt, würde das passieren, wenn Menschen mit Behinderungen nicht in solchen Einrichtungen untergebracht werden und eher in WGs wohnen würden, anstatt in so einer Einrichtung, wo dann eben kein Pflegepersonal vielleicht irgendwie nachts da ist, um die Leute irgendwie zu retten. Das immer mitzudenken, also disability mainstreaming.
Raúl:
Also auch im Katastrophenschutz?
Jonas:
Ja! Aber es gibt ja trotz alledem, wenn man sagt okay, man hat gewisse Themenkomplexe, wo eigentlich immer Behinderung mitgedacht werden muss, gibt es ja aber auch spezifische Felder, wo man sich behindertenpolitisch noch einmal extrem oder insbesondere mitauseinandersetzen muss.
Judyta:
Genau, da gibt es also einmal das Thema „Werkstätten für behinderte Menschen“. Das sind Arbeitsplätze, die aber nicht auf einem allgemeinen, also nicht auf dem ersten Arbeitsmarkt vorhanden sind, sondern das sind wirklich Werkstätten, wo viele handwerkliche Dinge auch gemacht werden, wie Schrauben sortieren, von behinderten Menschen für noch nicht mal 200 Euro pro Monat. Fernab des ersten Arbeitsmarktes. Und das Perfide an diesem System ist ja, dass diese Werkstätten dafür da sind, die Leute auf den ersten Arbeitsmarkt zu holen und zu vermitteln. Das machen sie aber nicht. Die Übergangsquote liegt ja im einstelligen Bereich, im einstelligen Prozentbereich. Und ich habe mir mal angeguckt, was die Parteien dazu sagen, zu den Werkstätten und zu der Zukunft. Denn viele Menschen mit Behinderung fordern die Abschaffung dieser Werkstätten. Andere fordern gute Lösungen, Übergangslösungen vielleicht auch. Und bei den Grünen ist es zum Beispiel so, dass sie das System der Werkstätten zu sogenannten Inklusionsunternehmen weiterentwickeln wollen, wo Menschen mit Behinderung Nachteilsausgleiche geltend machen können. Das Thema hatten wir ja auch schon mal in einer anderen Folge. Aber auch, dass sie sozialversicherungspflichtige Beschäftigung wahrnehmen wollen oder die Menschen da reinbringen wollen in diese Beschäftigung, weil in der Werkstatt, das ist ja kein richtiges Angestelltenverhältnis.
Raúl:
Und ein Inklusionsunternehmen zeichnet sich dadurch aus, dass die Hälfte der Belegschaft aus Menschen mit Behinderung besteht und die andere Hälfte aus Menschen ohne Behinderung und die aber gleichviel verdienen für die Tätigkeit und dass es da praktisch kein Gefälle gibt zwischen den Nichtbehinderten in leitenden Funktionen und Menschen mit Behinderungen, die dann dort die Tätigkeiten ausführen, die ihm die Nichtbehinderten auftragen.
Jonas:
Genau, weil der aktuellen Stundenlohn ist ja unter zwei Euro, die Menschen mit Behinderung in Werkstätten derzeit bekommen.
Raúl:
Wir haben ja auch jetzt bei der Analyse der Wahlprogramme uns vorher überlegt, welche Themen bewegt die Behindertenbewegung in Deutschland gerade? Und ein Thema war: Werkstätten. Ein Thema, auf das wir auch noch zu sprechen kommen. Es ist ganz allgemein das Thema Barrierefreiheit und dann auch noch im weiteren Sinne das Thema Inklusion. Das ist jetzt auch erstmal das, was uns so in dem Moment einfiel. Worauf wir achten wollen, dass ist jetzt nicht der Anspruch auf Vollständigkeit den wir hier haben, sondern einfach nur ein kurzer Schnappschuss auf das, was wir gefunden haben. Was sagen denn die anderen Parteien zum Thema Werkstätten?
Judyta:
Bei der FDP heißt es zum Beispiel: „Die 300.000 Beschäftigten in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung bilden ein großes und zu wenig berücksichtigtes Potenzial für den ersten Arbeitsmarkt. Wir wollen ihre Chance auf eine reguläre Beschäftigung verbessern.“ Luft nach oben, würde ich sagen, in dieser Formulierung. Bei der Linken gibt es einfach den Begriff „Sonderarbeitswelten“. Der wird da genannt und in Klammern „Werkstätten für behinderte Menschen“, das heißt, sie labeln diesen Begriff auch anders. Den wollen sie Schritt für Schritt überflüssig machen mit Ausstiegsstrategien und Zeitplänen. Und das wollen sie so erreichen, dass sie Anreize schaffen bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern im allgemeinen Arbeitsmarkt. Bleibt natürlich abzuwarten, ob das funktioniert und welche Anreize das sind.
Jonas:
Wäre das für euch jetzt der richtige Schritt, dass man sagt: Okay, man kann dieses System nur verändern so schrittweise und die Anreize eher schaffen. Also auch die AfD hat in ihrem Programm von einem Bonussystem geredet. Die AfD hat relativ wenig zum Thema Behinderung in ihrem Programm drin. Aber hier hat sie von einem Bonussystem gesprochen.
Raúl:
Und genau diese Bonussysteme gibt es ja letztendlich auch schon. Und bei denen bekommen ja Unternehmen bereits Unterstützung, wenn sie Menschen mit Behinderung am allgemeinen Arbeitsmarkt beschäftigen wollen. Es ist oft so, dass es vielleicht sehr bürokratisch ist und ich verstehe, interpretiere die Aussage der AfD so, dass sie eigentlich nichts verändern wollen, sondern vielleicht nur minimal an irgendwelchen Schrauben drehen.
Judyta:
Genau. Bei der CDU heißt es: „Werkstätten für behinderte Menschen sind wichtig, weil sie dort am Arbeitsleben teilnehmen können.“ Also dieser erste Satz zeigt eigentlich schon, es ist ja nicht das Arbeitsleben. Es ist ja nicht das gesellschaftliche Arbeitsleben, sondern es ist ja die Sonderwelt. Das heißt, das stimmt so leider nicht. „Für ein zukunftsfähiges Entgeltsystem werden wir die Berechnung des Werkstattlohns neu regeln und gleichzeitig die derzeitige Deckelung des Arbeitsförderungsgeldes aufheben. Damit haben die Werkstattbeschäftigten mehr Geld in der Tasche, und die Werkstätten werden finanziell entlastet.“
Jonas:
Also für mich klingt das auch so ein bisschen…da in die Kerbe reinzuschlagen, dass ja auch Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten arbeiten, denen das Gefühl vermittelt wird, dass, wenn man die Werkstätten schließt, ihnen der Arbeitsplatz weggenommen wird. Also dass sie dann auf der Straße sind und gar nichts mehr machen können. Und das ist aber auch nicht das, was gefordert wird von der Community oder von anderen betroffenen Verbänden, sondern einfach sie zu inkludieren in den Arbeitsmarkt, in den ersten Arbeitsmarkt.
Judyta:
Genau, und davon ist hier auch wiederum nicht die Rede. Also die Aufgabe der Werkstatt wird wieder nicht erfüllt, die Vermittlung. Und wie ihr schon gesagt habt, bei der AfD und bei der SPD habe ich das Stichwort tatsächlich nicht gefunden.
Raúl:
Interessant finde ich auch, dass man hier in dem Dilemma steckt, dass sowohl die CDU als auch die SPD ja momentan an der Regierung beteiligt sind, das heißt bis zu 16 Jahre auch Verantwortung hatten für das, wie es gerade läuft und auch für die Missstände, wie wir sie gerade haben. Und die anderen Parteien in der Opposition, die was verändern wollen, natürlich auch erstmal eine Menge fordern können, eine Menge versprechen können. Aber wenn sie dann in der Verantwortung sind natürlich dann auch Taten für sich sprechen lassen müssen. Das heißt, ich bin selber auch so ein bisschen…also ich hoffe, dass die Parteien die Besseres versprechen, das dann auch umsetzen würden. Aber auch da ist, glaube ich, eine gesunde Skepsis angebracht.
Jonas:
Ich fand, dass das, was du gesagt hast, dass ja schon sehr lange, 16 Jahre, die CDU an der Regierung war, sehr spannend. Jetzt beim Jahresempfang vom Bundesbehindertenbeauftragten Jürgen Dusel hat die Kanzlerin Angela Merkel gesprochen. Und sie hat ja gesagt, dass Menschen mit Behinderung, die in Werkstätten arbeiten, zu wenig verdienen – also sie hat es auf den Punkt gebracht, dass die Menschen zu wenig verdienen. Gleichzeitig habe ich mir dann die Frage gestellt…das ist ja schön, dass sie das sagt – das sagen ja viele. Aber was hat sie die letzten 16 Jahre gemacht? Also jetzt so zwei Tage vor Ende zu sagen: Ja, stimmt! Hat sie lange gebraucht, um das zu realisieren,
Raúl:
Sie hat ja jetzt auch keine Konsequenzen mehr zu fürchten. Vielleicht ist es wirklich das, was sie glaubt. Dass sie sich das auch wünscht, aber im Laufe ihrer Amtszeiten keine Priorität dafür gegeben hat und jetzt praktisch eher da die Persönlichkeit zum Vorschein kommt als das Amt.
Jonas:
Es ist ja vielleicht auch manchmal so, dass dann in der Politik – wissen wir ja alle – die Lobbyarbeit extrem wichtig und extrem groß ist. Dass vielleicht auch gar nicht die Parteien die Möglichkeit haben, so viele Sachen dort zu verändern in dem Bereich Behindertenpolitik, weil es dort einfach zu wenig Lobbyverbände gibt, oder eine zu schwache Lobby?
Raúl:
Garantiert ist das so. Und die Lobby wird auch nie groß genug werden, wenn nur Menschen mit Behinderung für diese Themen kämpfen. Wir brauchen da sicherlich auch ein Bündnis aus Menschen ohne Behinderung zusammen mit Menschen mit Behinderung, die vielleicht gemeinsam gegen Diskriminierung kämpfen und dann vielleicht auch andere marginalisierte Gruppen miteinbeziehen können.
Spannend fand ich auch das Thema Barrierefreiheit. Was sagen eigentlich Parteien zum Thema Barrierefreiheit? Wenn man ihre Wahlprogramme nach dem Wort „Barrierefreiheit“ durchsucht oder „barrierefrei“, hat der Blogger, der sich mit dem Thema Barrierefreiheit sehr gut auskennt, sich einfach mal die Mühe gemacht, Martin Schienbein heißt er, mal zu gucken, was in den Wahlprogrammen zum Thema Barrierefreiheit steht. Und er stellte fest, dass es zum Beispiel beim Wahlprogramm der Linken insgesamt 44 Treffer gab zu dem Wort „barrierefrei“. Bei den Grünen 30 Treffer, bei der SPD 11, bei der FDP 6 und bei der CDU/CSU auch 6. Und bei der AfD, wo er selber sagt, die er eigentlich nicht erwähnen wollte, tauchte das Wort gar nicht auf. Und ich denke, allein die Häufigkeit der Nennung des Wortes entspricht auch ungefähr dem rein quantitativ, was die Parteien auch qualitativ mit dem Thema Barrierefreiheit verbinden. Und interessant finde ich, dass sowohl die CDU als auch die FDP eher so sagen, dass sie Leuchtturmprojekte schaffen wollen, dass sie Anreize schaffen wollen, dass man mal machen müsste und so, aber selber nicht benennen, was jetzt konkret die nächsten Maßnahmen wären, also was auch sie gedenken zu tun. Die SPD geht da schon einen Schritt weiter. Sie sagen auch, dass die Mobilität besser werden muss in einem Bagger durch Einrichtung von barrierefreien Mobilitätszonen in Knotenpunkten. Was auch immer das bedeutet. Volkshochschulen und Bildung müssen barrierefreier und digitaler werden. Es muss eine Schaffung, eine Ansprechstelle für Arbeitgeber*innen von kleinen und mittleren Unternehmen geben, zur Beratung in Barrierefreiheit. Und sie wollen ein Bundesprogramm für Barrierefreiheit einrichten zur Förderung von Kommunen für barrierefreie und arme Wohnungen und Freizeiteinrichtungen, das über entsprechende Ressourcen verfügen muss. Das ist relativ konkret, weil da letztendlich auch schon genannt wird, dass es auch Geld kosten wird. Allerdings keine Verpflichtung.
Jonas:
Ja, ich finde irgendwie das, was du eben gesagt ist…so Leuchtturmprojekte und so weiter. Und das klingt einfach sehr viel auch nach abgeben. Also man will Anreize schaffen, aber ob diese Anreize auch wirklich angenommen werden. Also um noch mal auf die Werkstätten für Menschen mit Behinderung zurückzukommen, beziehungsweise die Tatsache, dass Unternehmen ab einer gewissen Größe Menschen mit Behinderungen einstellen müssen und sonst diese Abgabe zahlen müssen. Was ja die Unternehmen gerne einfach tun, weil diese Abgabe zu bezahlen, diese Strafabgabe, anscheinend günstiger ist, als sich überhaupt mit dem Thema Behinderung irgendwie auseinanderzusetzen. Also ich finde, es ist irgendwie sehr, sehr unkonkret und gibt halt einfach die Verantwortung auch irgendwie sehr ab.
Raúl:
Also nicht nur günstiger im Sinne von monetär günstiger, sondern auch: ich bezahle lieber Geld, als dass ich mich durch die Bürokratie ackern muss, die der Staat mir auferlegt, wenn ich jemanden mit Behinderung beschäftigen möchte und dann vielleicht entsprechende Fördergelder beantrage.
Judyta:
Ja, kurz konkret dazu: Man muss sich das mal vorstellen, wenn der Bewerber*in mit Behinderung sich bewirbt und der Arbeitgeber/Arbeitgeberin sogar Willens ist, den Menschen jetzt einzustellen, aber die Barrierefreiheit nicht hat oder die technische Ausrüstung nicht hat, dann das Prozedere anzufangen – des Antrags bei den Behörden. Bis das alles durchgegangen ist, bearbeitet ist und der Schreibtisch wirklich barrierefrei ausgestattet ist, brauchen die ja die Stelle. Die müssen die ja irgendwie besetzen.
Raúl:
Eine Bekannte von mir wartet seit einem halben Jahr auf die Rampe ins Büro – und die hat den Job schon!
Judyta:
Und sie hat ihn noch – sozusagen! Also welcher Chef/Chefin wartet dann das halbe Jahr und besetzt die Stelle nicht nach?
Jonas:
„Sie waren leider nie im Büro. Deshalb müssen wir ihn kündigen.“
Raúl:
„Wo sind Sie?“
„Ich stehe hier seit sechs Monaten!“
Raúl:
Ich war noch nicht fertig. Also konkreter wurden die Grünen. Die Grünen sprechen zum Beispiel von einer Mobilitätsgarantie und einer Ausarbeitung eines Barrierefreiheitsgesetzes, das heißt auch da, die Dienstleistungen der Privatwirtschaft zu verpflichten zur Barrierefreiheit. Die Linke redet auch viel über Bildung. Barrierefreie Zugänge für alle Kinder an allen Schulen, barrierefreier Wohnungsbau – wollen sie unterstützen und fördern. Und dass Mieter*innen nur… also die dürfen die Zustimmung zu einem behindertengerechten Umbau einer Wohnung nicht mehr verweigern. Okay, das ist das, was die Linken fordern. Und auch Martin Schienbein sagt, dass man natürlich jetzt schon davon ausgehen kann, dass in den nächsten vier Jahren sich was tut, weil jede Partei grundsätzlich erst mal Barrierefreiheit okay findet. Aber je nachdem, welche Partei und welche Koalition uns regieren wird, die Strecke unterschiedlich sein wird, die wir dann machen als Land. Und da ist es schon interessant zu merken, dass auch das, was wir vielleicht erst mal annehmen, welche Partei da auch ambitionierter ist und welche nicht, schon auch nach der Analyse der Wahlprogramme der Realität zu entsprechen scheint.
Jonas:
Ich habe die Wahlprogramme, die wir uns angeguckt haben… die sind ja auch das, woran sich die Partei jetzt erstmal messen lassen muss. Und ich finde irgendwie auch so ein bisschen schade – wir haben in der Recherche auch mal geguckt, was sagen denn die behindertenpolitischen Sprecher*innen der einzelnen Parteien. Und du hast gerade eben gesagt, dass das natürlich eine quantitative Analyse ist. Wie häufig taucht der Begriff auf? Aber zum Beispiel Angelika Glöckner von der SPD, behindertenpolitische Sprecherin, hat auf ihrer Seite nichts zum Thema Behinderung stehen. Die einzige Forderung, die sie hat: barrierefreie Städte und Dörfer.
Judyta: Okay…
Raúl:
Das Instagram-Profil „Hand drauf“ von funk, die haben eine ähnliche Analyse gemacht. Rein quantitativ haben sie sich die Wahlprogramme der Parteien angesehen und das Wort Inklusion gesucht. Und da ist es letztendlich relativ ähnlich. Die CDU hat 3 Treffer zum Thema Inklusion, die SPD 5, die Alternative 2, die FDP 2, die Linke hingegen 39 und die Grünen 35 – also gleichauf – ähnliches Stimmungsbild.
Jonas:
Ich erkenne eine Tendenz… aber ich wollte gerne noch einmal zurück zu unserem Thema Barrierefreiheit. Das tauchte bei der AfD eben nicht auf „barrierefrei“ beziehungsweise „Barrierefreiheit“. „Barrieren“ hingegen schon.
Judyta:
Ja, da ich mir den Spaß gemacht und „Barrieren“ mal durchsucht – das Programm damit und die „Barrieren“ tauchen eher auf im Thema „Grenzen“ oder bei „Burkas“, die Barriere zwischen der Person und der Umwelt, also Barrieren eher in einem anderen Sinn.
Jonas:
Wir müssen Barrieren schaffen, um…
Judyta:
Nein, es gibt sie, wenn du eine Burka trägst.
Jonas:
Ach so – ich dachte an Grenzen. Also wir müssen Barrieren schaffen, um…
Judyta:
Ja, das auch…
Aber ich muss auch sagen, ich finde den Indikator Inklusion im Programm jetzt vielleicht auch eher nicht so wichtig. Weil es wäre ja wünschenswert, dass wir sozusagen dieses Thema in allen Bereichen haben – in der Gesundheitspolitik, in der Bildungspolitik. Und dass man da nicht den Absatz hat zu Menschen mit Behinderung, sondern dass es überall sozusagen vorkommt. Und deswegen bin ich mir da nicht sicher, ob diese Zahl sozusagen ein Indikator ist.
Jonas:
Wäre es für dich in Ordnung oder für euch in Ordnung, wenn bei der Thematik disability mainstreaming wie wir gesagt haben: Behinderung ist ein Querschnitt-Thema? Wäre es in Ordnung, wenn quasi in den Wahlprogrammen, so vorher in der Präambel drinsteht…
Raúl:
…Behinderte sind mitgemeint.
Jonas:
…Behinderte sind mitgemeint und mitgedacht – beziehungsweise muss es nicht nur Behinderung sein, sondern alle Menschen sind mitgemeint. Wäre das in Ordnung oder sind wir noch nicht in unserer Gesellschaft so weit, dass wir sagen können, wir können die Behinderung mitmeinen, ohne sie wirklich zu nennen?
Raúl:
Was wir jetzt nicht gemacht haben oder ich nicht gemacht haben ist zu gucken, inwieweit die gendern in ihrem Wahlprogramm. Und wenn es eine Partei gibt, die nicht gendert, würde ich mich dann auch fragen: Schreibt ihr das in die Präambel rein: Frauen sind mitgemeint. Oder die, die gendern, wie gendern die? Gendern sie mit Stern? Gendern sie, in dem sie – keine Ahnung – Bürgerinnen und Bürger sagen und lassen dann letztendlich die Menschen, die nicht-binär sind außen vor? Also ich glaube, wenn wir das geklärt haben, können wir uns auch mit dem Thema „behinderte Menschen sind mitgemeint“ widmen. Aber ich fürchte, die Parteien sind da noch nicht so weit, wie vielleicht der Journalismus in vielen Stellen schon ist.
Jonas:
Es gibt auf alle Fälle Unterschiede in den Wahl-Videos. Inzwischen man muss jetzt sagen, man guckt ja immer weniger Fernsehen, und so dann mitbekommen, dass dann irgendwie im Vorabendprogramm dann die Wahlwerbespots laufen, das tue ich jetzt persönlich nicht mehr so viel.
Raúl:
Ich hab das früher so gerne gemacht. Ich habe mir so gerne Wahlwerbespots angeguckt. Es ist richtig cringe auf der einen Seite, teilweise aber auch richtige Gänsehautmomente. Und dann denkst du: Ja, jetzt geh wählen! Aber ich gucke auch kaum fern.
Jonas_
Aber da gibt es halt Unterschiede. Also ich habe so etwas auch früher gerne gemacht, aber dann vorher wegzuhören, wenn gesagt wird, welche Partei folgt, also es so zum „Parteien raten“ gemacht. Also guckst in so einen Wahlwerbespot und denkst so, das könnte… und das könnte… Und am schönsten ist es natürlich dann, wenn es dann wirklich solche kleine Splitter-Parteien sind, die dann komplett gefühlt weltfremde Forderungen irgendwie geäußert haben, das war immer sehr lustig. Aber bei den aktuellen Wahlwerbespots, die es dann natürlich bei den Parteien auf den Webseiten gibt und die man sich dann bei YouTube angucken kann. Die Partei Die Linke hat zum Beispiel auch in ihrem Wahlwerbespot gegendert.
Judyta:
Und sie hat auch eine raffinierte Lösung für Untertitel gefunden, wie ich finde. Man sieht den Film, und in der Mitte wird der Text sozusagen auch hingeschrieben, der gesprochen wird. Es sind nicht so die klassischen Untertitel, sondern sie sind mitten im Bild. Und ich finde es irgendwie auch einen Mainstream-Gedanken, was irgendwie Tolles.
Raúl:
Und du hast natürlich recht, Judyta, wenn du sagst, dass die reine Anzahl nichts aussagt über wie sie ein Thema dann ausgestalten. Interessant ist aber schon, dass die Anzahl sich deckt mit dem, wie ernst es eine Partei meint oder zu meinen scheint. Also, dass die CDU und die AfD und die FDP am wenigsten zum Thema Inklusion sagen, wohingegen die eher linken Parteien mehr sagen – ist schon eine Tendenz eindeutig ablesbar. Was mit Sorgen macht ist das Thema Barrierefreiheit der Parteien, die Websites, die Wahlprogramme. Ich habe gesehen, alle Parteien bieten ihre Wahlprogramme ausschließlich in PDF-Dokumenten an…
Jonas:
…damit man sie herunterladen und ausdrucken kann.
Raúl:
Genau. Ich würde gerne diese Person mal kennenlernen, die das runterlädt und ausdruckt. Und die AfD im Übrigen ist die einzige Partei, die nach meinen Recherchen kein Wahlprogramm in leichter Sprache hat. Und da würde ich auch gern noch mal mit euch darüber reden, wie eigentlich Menschen, die auf leichte Sprache angewiesen sind, auf den Websites der Parteien das Wahlprogramm in leichter Sprache finden sollen. Ich finde, dass ist manchmal sehr stark versteckt. Und wenn ich jetzt jemanden, der vielleicht nicht so versiert ist am Computer, vor die Website einer Partei setzen würde und sie bitten würde, das Wahlprogramm mit leichter Sprache zu finden und zu öffnen, dann wäre sie plötzlich im Adobe Acrobat Reader und wäre nicht mehr auf der Website und würde sich dann gar nicht mehr zurechtfinden, auf der Website weiterzuklicken, weil sie das Programm gewechselt hat plötzlich. Und das zum Thema Barrierefreiheit für mich nicht nur gehört: habe ich nach einer Checkliste irgendwie das Wahlprogramm auch in leichter Sprache? Sondern zum Thema Barrierefreiheit im Wahlprogramm gehört für mich auch: wie finde ich das eigentlich? Also wie komme ich da ran? Wie erfahre ich davon? Und wer gibt mir eigentlich den Zugang zu diesen Informationen?
Und gerade Menschen, die in Einrichtungen wohnen, die zum Beispiel eine Lernschwierigkeit haben, sind dann oft darauf angewiesen, dass ihnen das Personal dieser Einrichtung – meistens nicht behinderte Menschen, das dann ausdrucken und geben. Und da bin ich mir nicht so sicher, ob das passiert.
Jonas:
Deshalb ist es als PDF.
Raúl:
Aber ich bin mir nicht sicher, ob das passiert. Könnte man das nicht auch anders machen? Anders Zugänge schaffen für viele Menschen, die darauf angewiesen sind und dass gerade dieses Mal wichtig ist, weil zum ersten Mal in der bundesdeutschen Geschichte Menschen, die unter Vormundschaft standen, wahlberechtigt sind. Das sind 80.000 Menschen, die dieses Jahr zusätzlich wählen dürfen. Und dass da jetzt nicht extra darauf eingegangen wurde von den ganzen Parteien finde ich schade.
Jonas:
Ich finde generell – ich habe bei meiner Recherche so ein bisschen auch rausgefunden – wie werden überhaupt Menschen mit Behinderungen, wie du gesagt hast, auch als potenzielle Zielgruppe gesehen? Wenn man jetzt im Sinne der Werbung denkt, und Wahlwerbung ist ja auch Werbung, es gibt inzwischen Filme, Serien – immer noch viel zu wenige mit Untertitelungen, mit Audiodeskription. Bei der normalen Fernsehwerbung gibt es so etwas nie und bei Wahlwerbung eben auch nicht. Gut, wir haben eben gehört, dass es dann die anderen Lösungen etwa gibt, irgendwie mit dem Text im Bild und so, aber das wirklich so beschrieben bekommen, was dort zu sehen ist. Und das eben auch im Wahlkampf Menschen mit Behinderung mitgedacht und angesprochen werden und eben auch als potenzielle Zielgruppe gesehen werden, das finde ich irgendwie immer noch eigentlich überhaupt nicht, dass das stattfindet.
Judyta:
Raúl, du hattest ja die Zweifel, ob die Menschen, die vorher ausgeschlossen waren aus der Wahl, jetzt auch die Benachrichtigung bekommen zum Beispiel. Und das hat sich auch Jens Beeck gefragt, der teilhabepolitische Sprecher der FDP, und hat dazu eine kleine Anfrage gestellt zur Bundesregierung und die haben geantwortet, dass die jetzt ganz normal informiert werden und im Register aufgenommen wurden. Das heißt, sie bekommen auch Post.
Raúl:
Aber die Post wird dir dann in der Einrichtung vom Pflegepersonal zugestellt. Und was passiert dann damit? Also werden die empowert und befähigt: „Komm, wir schauen uns mal zusammen das Wahlprogramm an…Komm, wir gehen zusammen in die Wahlkabine.“ Oder „Du gehst in die Wahlkabine, und wir gehen da gemeinsam hin.“ Oder ist es dann diesen Einrichtungen vielleicht zu viel Aufwand? Wie viele von denen gehen wirklich wählen? Also ich bin da sehr gespannt, was da am Ende dabei rauskommt.
Judyta:
Ja, auf jeden Fall. Ich habe jetzt auch die Benachrichtigung schon bekommen und bei mir stand, mein Wahllokal ist nicht barrierefrei. Barrierefrei in dem Sinne heißt rollstuhlgerecht, das muss man ja auch immer wieder sagen. Das Wort barrierefrei wird immer nur auf rollstuhlgerecht gemünzt. Und wenn ich das Wahllokal ändern will, muss ich einen Antrag stellen und irgendetwas wieder per Post schicken…
Jonas:
…und fünf Euro zahlen.
Judyta:
Achtzig Cent sind das ja mittlerweile… aber wahrscheinlich nicht, wahrscheinlich ist es sogar kostenlos. Aber es ist ein Aufwand. Und dann war ich aber sehr überrascht, dass es da einen QR-Code gab und ich so ganz normal in diesem Internet Briefwahlunterlagen anfordern konnte. Und das habe ich dann gemacht.
Raúl:
Ja, ich finde das auch merkwürdig. Witzigerweise stand das bei mir damals auch, dass mein Wahllokal nicht barrierefrei ist, obwohl es das war. Wie qualitativ sind diese Informationen? Und ist es vielleicht nicht so, dass sie eher sagen: ja, sind alle nicht barrierefrei, damit sie nicht am Ende irgendwie angekackt werden können. Also wenn Sie sagen würden, es ist barrierefrei und dann ist es das nicht. Dann ist der Shitstorm größer, als wenn sie alle sagen: sind nicht barrierefrei.
Judyta:
Wie viele behinderte Menschen wählen deswegen nicht? Das ist eine spannende Frage.
Raúl:
In den Shownotes werden wir ja auch die Wahlprogramme in leichter Sprache nochmal verlinken. Soweit und sobald sie vorhanden sind. Vielleicht zieht ja eine bestimmte Partei noch nach…
Judyta:
Und die Wahlspots. Also nehmt euch eine Schale Popcorn und bereitet euch auf pathetische Szenen vor.
Jonas:
Auf www.dieneuenorm.de findet ihr das Ganze.
Raúl:
Gehörlose Menschen, nehme ich mal an, haben relativ wenig Barrieren, was den reinen Akt des Wählens angeht. Sie haben garantiert Barrieren, was überhaupt die Gebärdensprache oder Untertitelung von Wahlwerbespots und so angeht, da sind die Grünen relativ gut aufgestellt, was das angeht. Aber was mich wirklich interessieren würde: wie blinde Menschen im Wahllokal eigentlich wissen, wo sie das Kreuz machen?
Jonas:
Ja, blinde oder auch sehbehinderte Menschen haben dafür Wahlschablonen. Die müssen sie sich aber natürlich vorher besorgen. Das geht beim Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband und der jeweiligen Landesorganisationen. Und das ist eine Schablone, wo man den Wahlzettel reinsteckt. Und dann gibt es halt die Aussparung, die Löcher, die noch mal groß schwarz umkreist sind. Und daneben stehen Zahlen und dazu gibt es eine Audio-CD, die einem noch einmal erklärt, was bei den Zahlen – die übrigens auch noch einmal mit Brailleschrift gekennzeichnet sind – was sich hinter den Zahlen verbirgt, also welche Partei. Du musst es dir anhören und musst dir die Zahl merken und weißt aufgrund dessen, wo du durch die Schablone hindurch dein Kreuz machen kannst. Musst dich aber auch selber wieder darum kümmern, liegt nicht im Wahllokal aus.
Raúl:
Aber diese Schablone, die ist ja dann von Wahlbezirk zu Wahlbezirk anders.
Jonas:
Genau.
Raúl:
Für die Bundeswahl. Aber in Berlin wird ja jetzt auch noch Landtagswahl gewählt – das Abgeordnetenhaus – und dann hast du doch auch noch Direktkandidaten. Das heißt, das ist doch in jedem Wahlbezirk anders.
Jonas:
Ja, deshalb musst du dir das von der Ländersache aus holen. Und diese Informationen, was sich dahinter verbirgt, das kriegst du dann über diese Audio-CD.
Judyta:
Und das heißt aber, blinde Menschen wählen zu Hause, damit sie sich die CD abspielen können?
Jonas:
Oder du merkst es dir vorher. Oder aber, und das finde ich auch einen interessanten Punkt, dass natürlich die Wahl geheim ist in Deutschland, aber das ist so, dass du die Möglichkeit hast, geheim zu wählen, also theoretisch gesehen ist es – und das ist ja genau die Sache, was auch Menschen, die mit Assistenz leben und vielleicht ihre Hände nicht benutzen können und darauf angewiesen sind, dass ihre Assistent*innen dann das Kreuz an der richtigen Stelle machen – das theoretisch gesehen ist das auch möglich, dass das vor Ort im Wahllokal in der Wahlkabine passiert, wo man dann häufig zurückgewiesen wird vom Wahlleiter vor Ort, der dann sagt: Nein, es darf immer nur eine Person in die Kabine. Aber diese geheime Wahl bedeutet dahingehend, dass du die Chance hast, deine Stimme im Geheimen abzugeben, aber theoretisch gesehen, darfst du das auch, oder wenn es halt nicht anders möglich ist, dann halt mit Assistenzperson. Es ist ja nicht so, dass du nur, weil du mit Assistenz lebst und dein Kreuzchen vielleicht nicht selber machen kannst, dann zwangsläufig Briefwahl zuhause machen musst.
Raúl:
Zumal zuhause ja auch keine Wahlkabine steht, wo keiner von außen reinguckt.
Jonas:
Wie ich meine Briefwahl zu Hause mache, das weiß ja keiner.
Judyta:
Also ich bin große Verfechterin von Briefwahl. Besonders dieses Jahr…mit Corona.
Raúl:
Das Gemeine aber an der Briefwahl ist, dass die das Ergebnis letztendlich, das dann um – keine Ahnung – 21 Uhr verkündet wird, noch verändern kann, weil das ja länger dauert, die Briefwahl auszuzählen, weil die ja noch bis zu dem Tag… war das nicht so… eingehen kann und dann nach drei Tagen das amtliche Endergebnis erst am Dienstag oder Montag feststeht.
Jonas:
Aber ich finde, festzuhalten ist ja eigentlich, ob man jetzt Briefwahl macht oder nicht – wobei ich immer noch finde, dass dieser Akt des Wählengehens, Corona hin oder her, aber trotzdem, dass man als Mensch mit Behinderung eben nicht gezwungen ist, nur weil das Gebäude, wo die Wahl dann stattfindet, das Wahllokal, man halt nicht gezwungen ist, Briefwahl zuhause zu machen. Also ich finde auch immer noch dieses gemeinsam dann am Sonntag wählen zu gehen, danach noch…
Judyta:
Mit einer Bratwurst.
Jonas:
Genau, mit einer Bratwurst…danach noch spazieren zu gehen.
Raúl:
Ich gucke mir immer gern die Elefant*innen-Runde an.
Judyta:
Das ist cringe, um dieses Wort mal zu benutzen.
Raúl:
Was ich schon wichtig finde zu sagen: wenn einem die Themen Inklusion, Barrierefreiheit, Selbstbestimmung, welche da den Menschen in Deutschland wichtig sind, dann ist es relativ eindeutig, welche Parteien weniger dafür tun. Und welche Parteien dafür tendenziell mehr tun. Ich finde es teilweise sogar eindeutiger als beim Thema Klimaschutz. Weil da der Konsens weiter ist habe ich das Gefühl, dass man auf jeden Fall was machen muss und auch per Gesetz. Da ist es beim Thema Barrierefreiheit, Inklusion und Teilhabe noch eher so: Ja, machen wir mal ein bisschen und freiwillig. Und eigentlich müssten es andere machen. Oder eben: Ja, auch da brauchen wir ein Gesetz – da sind die Abstufung größer – versteht ihr, was ich meine?
Jonas:
Ja! Wichtig ist aber generell eigentlich, wählen zu gehen.
Judyta:
Genau! Kreuzchen machen!
Jonas:
Das ist dein Kreuz für Inklusion oder…
Raúl:
… das Kreuz mit der Inklusion…
Jonas:
… oder Inklusion wählen oder wie auch immer man es nennen mag. Es ist einfach wichtig, am 26. September wählen zu gehen.
Judyta:
Also Kreuzchen machen, Verantwortung übernehmen, wählen gehen… oder rollen!
Jonas:
In diesem Sinne: das war Die neue Norm, der Podcast. Alle Informationen findet ihr auf www.dieneuenorm.de. Bis zum nächsten Mal.
Raúl, Jonas, Judyta:
Tschüss… Tschüss….Tschüssikowski.
Eine Antwort
Vielen Dank für euren wieder sehr interessanten Beitrag.
Das Thema z@hlt nicht zu meinem Fachgebiet und dennoch möchte ich gerne einige Worte da lassen. Das hat auch mit dem persönlichen kreativen Prozess zu tun.
Also, es gibt sie ja die Leuchtturmprojekte wie das (echte) Inklusionsunternehmen wasni in Baden-Württemberg.
Absolut unverständlich ist für mich, weshalb die verwirbelte, ausufernde Bürokratie und die Spitzensteuersätze für die (nicht behinderten) Menschen in leitender Funktion, die sich derart gemeinnützig einsetzen, nicht längst fallen gelassen worden sind. Weit entfernt von Spitzengehalt und “richtiger” Freizeit (wegen ungezählter Überstunden) ? Hoffentlich doch nicht.
Ich glaube nicht, dass diese Spitzenkräfte Diskriminierung zu befürchten hätten, wenn sie dann wie eine andere Minderheit gar keine Steuern zahlen müssten. (ich bin leider keine Steuerrechtsexpertin)