In den vergangenen Monaten haben Menschen mit Behinderungen erneut erfahren, wie brüchig die Teilhabemöglichkeiten sind, über die immer wieder gesprochen wird. Gerade die Corona-Pandemie hat bestehende Ausgrenzungen verschärft und neue geschaffen. Sehr schnell brachen wichtige Assistenzleistungen und medizinische Behandlungen weg. In der Debatte um knapp werdende Beatmungsplätze wurden Menschen mit Behinderungen bereits gedanklich aussortiert, und wenn es um die Aufrechterhaltung der weitgehenden Normalität für die Mehrheit geht, wird unser Lebensrecht ohne zu zögern in Frage gestellt. So fragte etwa der Investmentbanker Alexander Dibelius im Frühjahr 2020 ob der Lockdown angemessen sei, „nur“ um zehn Prozent der Bevölkerung zu schützen. Von Inklusion ist in der Pandemie nicht mehr häufig zu hören. An ihre Stelle ist vielerorts wieder die Überzeugung getreten, dass Menschen mit Behinderungen am besten in Einrichtungen wohnen sollten, um sie besser schützen zu können.
Das sind Erfahrungen, die Angst machen. Sie machen aber ebenso deutlich, wie notwendig es ist, sich gegen Ausgrenzungen zu wehren und auf die eigenen Teilhabemöglichkeiten zu beharren. Zugleich stellt sich die Frage, mit wem und mit welchen Mitteln diese Auseinandersetzungen zu führen sind. Es ist vielleicht ein ungewöhnlicher Weg, aber bei meinen Überlegungen waren mir die Gedichte von Bertolt Brecht hilfreich. Das möchte ich an zwei Beispielen zeigen und schließlich mögliche Folgen aus dieser Lektüre auch für eine selbstbestimmte Behindertenpolitik aufzeigen.
In einem seiner Gedichte erzählte Bertolt Brecht von einem Mann, der in New York Nachtlager für Wohnungslose organisiert. Er lobt ihn dafür, dass er diesen Menschen ein warmes Bett für eine Nacht verschafft. Im nächsten Atemzug kritisiert er ihn aber dafür, dass die Lebensbedingungen der Betroffenen nicht langfristig verändert werden.
„Der Wind wird von ihnen eine Nacht lang abgehalten
Der ihnen zugedachte Schnee fällt auf die Straße.
Aber die Welt wird dadurch nicht anders
Die Beziehungen zwischen den Menschen bessern sich dadurch nicht
Das Zeitalter der Ausbeutung wird dadurch nicht verkürzt.“
Der Dichter denkt mit diesem Text über die Frage nach, ob es sinnvoll ist, an kleinen und persönlichen Verbesserungen zu arbeiten, ohne die gesellschaftlichen Bedingungen von Armut und Ausgrenzung zu bekämpfen. Brecht macht sich die Antwort nicht leicht. Am Ende aber macht er deutlich, dass es notwendig ist, gemeinsam aktiv zu werden, um Ausbeutung und Ausgrenzung für alle Betroffenen zu beenden.
An anderer Stelle fordert Brecht, Menschen nicht aufzugeben. Er zeigt, dass auch Menschen, die Ausgrenzung und Ausbeutung erleben, nicht unbedingt dagegen aktiv werden. Trotzdem ist es wichtig – argumentiert Bertolt Brecht – auch diese Menschen einzubinden, ihre Interessen wahrzunehmen, zu vertreten, sie ernst zu nehmen und ihnen eine Stimme zu geben:
„Setzt nichts aufs Spiel, aber setzt ihn in die Rechnung ein:
Gebt keinen euresgleichen auf!“
Das gilt auch für Menschen mit Behinderungen – nicht zuletzt untereinander.
Die Behindertenbewegung hat inzwischen eine lange Geschichte und kann auf etliche Erfolge, Erfahrungen und Konflikte zurückblicken. Für die Auseinandersetzungen, die wir heute führen, können wir von den Kämpfen, Kenntnissen und Fehlern der Krüppelbewegung lernen und dürfen uns zugleich darauf verlassen, was wir in Aktionen und auf Demonstrationen gelernt haben: Es ist nicht einfach, das nötige Selbstbewusstsein zu entwickeln, um sich den mächtigen Ausgrenzer:innen entgegenzustellen, da braucht es Solidarität und auch Verständnis für die Ängstlichen: Gebt keinen euresgleichen auf! Klar kann man mit viel Geld Barrieren im eigenen Lebensumfeld abbauen – das Zeitalter der Ausgrenzung wird damit nicht verkürzt. Wir streiten für eine Gesellschaft, in der niemand abgewertet wird – eine solidarische Gesellschaft. Leichter ist Inklusion nicht zu haben!