Vorneweg: Aus Gründen des Leseflusses werde ich in dieser Kolumne nicht gendern.
Weder möchte ich hier den Moralapostel spielen, noch den mahnenden Zeigefinger heben. Aber ich möchte ein gesellschaftliches Phänomen thematisieren, das mir zunehmend auf den Magen schlägt. Seit vielen Jahren fahre ich regelmäßig mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Noch nie habe ich mich dabei so unsicher und unwohl gefühlt, wie zurzeit! Das liegt nicht nur an den zahlreichen Maskenverweigerern, sondern auch an der zunehmend aggressiven Grundstimmung, die in der Luft liegt.
Dabei weiß ich nicht, ob an Bahnsteigen und im ÖPNV tatsächlich öfters gegen Mitreisende gepöbelt wird, oder ob ich das rücksichtslose Verhalten lediglich bewusster wahrnehme, als noch vor einigen Jahren.
Der Polizei und den DB-Mitarbeitern mache ich keinen Vorwurf, sie sind durchaus präsent. Wenn sie allerdings die Maskenverweigerer auf die geltende Pflicht hinweisen, verdrehen diese die Augen, sagen “na gut” und ziehen die Maske notdürftig auf. Sobald sich die Beamten umdrehen, grinsen sich die Chaoten an und ziehen die Masken wieder ab.
Neulich nachts stand ich am Bahnsteig: Ein durchtrainierter Mann, der über 1,90 Meter misst, und garantiert eine dreistellige Zahl auf der Waage hat, beschallte den gesamten Bahnsteig, indem er rief: “Es ist ja schön, dass ihr euch alle von Bill Gates manipulieren lasst und wie die Schafe brav eure Masken auf habt. Ich trage nämlich keine Maske. Irgendwelche Einwände?” Dabei funkelt er streitlustig in die Runde. Ja, ich hatte Einwände, sogar ziemlich massive. Jedoch habe ich sie nicht geäußert. Weil ich keine Lust auf Stress und eventuelle Handgreiflichkeiten hatte. Vermutlich haben 90% der Leute am Bahnsteig dasselbe gedacht, wie ich. Genau darin liegt das gesamtgesellschaftliche Dilemma. Denn solange ihnen nicht zahlreiche Gegenstimmen Paroli bieten, pöbeln die zwei, drei streitlustigen Provokateure ungestört weiter. Nur wenn die Mehrheit geschlossen die Stimme erhebt, besteht die Chance, dass sie Einsicht zeigen. Dabei glaube ich, dass zahlreiche Menschen den Hang zur Zivilcourage in sich tragen. Nur leider trauen sich nur wenige, sich auch zu äußern, aus Angst, alleine dazustehen und in körperliche Auseinandersetzungen zu geraten.
Und genau deshalb gewinnen die lauten und unvernünftigen Krawallmacher die Oberhand. Wenn die Vernünftigen schweigen, finden die Unvernünftigen zwangsläufig Gehör.
Als ich einige Minuten später in der Bahn saß, hoffte ich auf Ruhe. Sie stellte sich auch ein – ganze drei Minuten lang. An der nächsten Haltestelle stieg eine offensichtlich stark alkoholisierte Vierergruppe junger Frauen im Teenageralter zu. Aber anstatt sich gemeinsam vier freie Plätze zu suchen, setzten sie sich im Abstand von rund zwanzig Metern zueinander und unterhielten sich, lallend und unmaskiert quer durchs Abteil über die angebliche Sinnlosigkeit der Maskenpflicht. Leider unterhielten sie dadurch automatisch auch alle anderen. Nach fünf Minuten wurde es der Frau, die mir gegenüber saß, zu wild und sie wandte sich an die offensichtliche Wortführerin der Mädelsgruppe: “Entschuldige mal, ihr seid hier nicht alleine. Reißt euch zusammen.” “Reiß du dich besser zusammen”, fuhr die Teenagerin sie wütend an und platzierte demonstrativ ihre Chucks auf dem Sitz vor ihr. Die Frau mir gegenüber zuckte die Achseln und stieg eine Station später aus. Obwohl ihr Einschreiten nichts verändert hat, stellt es für mich ein Hoffnungsschimmer im Kampf gegen die Rücksichtslosigkeit dar. Ich möchte alle ermutigen, ihre Stimmen zu erheben.
Ich bin ziemlich stolz auf mich, dass ich mich seit diesem Vorfall traue, die entsprechenden Personen darauf anzusprechen, wenn sie sich im ÖPNV offensichtlich provokativ und rücksichtslos
verhalten – sofern ich sie nicht als gewaltbereit einschätze. Jeder Mund- und Nasenschutz, der deshalb aufgezogen wird, und jeder streitlustige Verschwörungstheoretiker, der die Corona-Maßnahmen aus Rücksicht auf die anderen Fahrgäste aufgrund einer schlagfertigen und begründeten Argumentation akzeptiert, ist die Auseinandersetzung wert.
Lasst uns die Bahnhöfe und Öffis zurückerobern, und eine Atmosphäre schaffen, in der wir uns wohl und sicher fühlen. Zusammen!