„In den Adern Lava, ich will spüren, dass ich da war!“ (Casper)

Das Logo von die neue Norm auf pinkem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Jennifer Sonntag.
Lesezeit ca. 8 Minuten

Ich war junge Punkerin und gerade dabei zu erblinden. Da ich sehr schlecht sehen konnte, kämpfte ich mich bei geliebten Konzerten immer ziemlich weit nach vorn, um die Bühne besser erkennen zu können. Für ein sehbehindertes Mädchen war das gerade auf Punk-Konzerten heikel. Ich tanzte nicht nur den „Trümmertango“ in Abrisshäusern, sondern ging auch zu Auftritten bekannterer Bands in große Locations. Bei „Den toten Hosen“ hatten mich ein paar Typen so heftig angepogt, dass ich als junges dürres Ding nicht standhalten konnte. Einer sprang mir plötzlich auf den Rücken. Ich hatte meine Freundin längst verloren, alle schlugen und traten wild um sich, ich konnte mich nicht mehr freihüpfen und weil ich so wenig sah, kam ich aus diesem Szenario einfach nicht heraus. Es riss mich nach unten, das war wie Ertrinken. Die „ungeschriebenen Regeln“ des Moshpits, sich gegenseitig vom Boden aufzuhelfen, hatten diese Jungs damals wohl noch nicht so gut drauf. Irgendwann klammerte ich dann an einem Absperrzaun und hatte vor Luftnot ziemlich zu kämpfen. Kurz darauf hörte ich, dass ein Mädchen bei einem Hosen-Konzert in den Massen zu Tode gekommen war. Ich konnte mir plötzlich gut vorstellen, wie das im Geschubse und Gedränge passieren kann und habe heute noch manchmal Angst vor Kontrollverlust bei Konzerten. Das liegt sicher auch daran, dass ich inzwischen völlig erblindet bin.

Eigentlich stehe ich total drauf, wenn die Leute zur Musik ausrasten, solange man aufeinander achtet und niemand zertrampelt wird. Ich erlebte auch oft Solidarität. Bei einem anderen Konzert tippte mir ein Mädchen immer wieder auf die Schulter, weil sie sah, dass ich gleich ohnmächtig werden würde. Das ist dann auch passiert. Man reichte mich recht fix über die Köpfe der Fans zu den Sanis durch, woran ich mich aber nicht erinnern kann. Als ich wieder zu mir kam, durfte ich zwar nicht zurück in die Massen, aber an der Seite einer wirklich fürsorglichen Sanitäterin hatte ich einen echt guten Blick auf die Bühne. 

Ein Problem war manchmal der Hin- und Rückweg, denn im Dunkeln als offensichtliche Punkerin in einer Stadt unterwegs zu sein, in der es auch Nazis gab, das war schon ohne Sehbehinderung gewagt. Ich konnte im Dunkeln besonders schlecht sehen und besonders schlecht weglaufen. Heute mache ich mich stark für Awareness-Initiativen und finde es wichtig, dass die Teams neben Sexismus und Rassismus auch für das Thema Behinderung und Ableismus geschult sind. Es ist großartig, dass es für uns Menschen mit Behinderung inzwischen mehr Sensibilität gibt und man davon ausgeht, dass auch wir im Nachtleben stattfinden. So durfte ich mich mit Inhalten dieses Beitrages auch als Autorin an einem Leipziger Awareness-Zine, einer Publikation zur Bewusstseinsbildung, beteiligen. 

Während ich von der Punk- in die Gothic-Szene überglitt, verschlechterte sich mein Sehvermögen zunehmend. Ich liebte Konzerte nach wie vor, litt aber gerade am Anfang meiner Erblindung sehr darunter, das Bühnengeschehen nun nicht mehr sehen zu können. Meine anderen Sinne mussten mithelfen. Über eine Audiodeskription bei Musik-Events, wie sie heute z.B. von HörMal angeboten wird, dachte damals noch keiner nach. Ich fuhr regelmäßig aufs Wave-Gotik-Treffen nach Leipzig, atmete den Duft der Szene ein, erkundete die Märkte und Messen mit aufmerksamen Fingerspitzen, traf gefeierte Bands und schüttelte ihnen die Hände, das waren gefühlte Autogrammkarten. Als Szenemensch lernte ich im Laufe der Jahre viele Locations kennen, Musiker*innen und Bands gehörten bald zu meinem Freundeskreis. 

Mein heutiger Partner war Keyboarder meiner damaligen Lieblingsband Lament und spielte später bei Raum 41. Er zeigte meinen Händen den Bühnenaufbau, den Backstage, das Merchandise und ich erlebte das ganze lebendige Drumherum. Das Problem war nur, dass ich während der Soundchecks und Konzerte oft ohne Begleitperson blieb, weil er ja selbst auf der Bühne stand, somit auch noch mit auf- und abbauen musste. Meine Freundinnen hatten oft einen anderen Musikgeschmack oder teilten generell nicht diese extreme Musikleidenschaft, andere hatte ich inzwischen schon sehr oft um Begleitung gebeten und wollte sie nicht überstrapazieren. Freundinnen mit gravierenderen Behinderungen, die wie ich die Musik liebten, benötigten auf Konzerten wiederum eigene Unterstützung und konnten mich ihrerseits nicht führen. Je weniger ich sah, umso schlechter fand ich mich allein in den lauten Clubs zurecht. Ich erinnere mich an eine heftige Panikattacke, weil ich mich in einem für mich undurchschaubaren Labyrinth einer Party-Katakombe gefangen sah. 

Besonders traurig war ich, wenn ich zuhause bleiben musste, weil ich für den Abend keine Begleitung hatte. Mein Freund fuhr allein zu seinem Auftritt. Ich wollte so gern dabei sein und heulte Verzweiflungstränen, weil ich in diesen Lärmbunkern blind allein nicht mehr klarkam. Heute würde ich über eine Assistenz im Freizeitbereich nachdenken, da diese Option inzwischen bekannter und etablierter ist. Oder ich würde mir über „Inklusion muss laut sein“ Hilfe organisieren. Im „Buddie-Versum“ könnte ich nach einer Begleitperson für mich suchen. Es wäre interessant zu erleben, wie schnell man zu einem zunächst fremden Menschen blindes Vertrauen aufbauen kann. Würde sich ein Mann bereit erklären, müsste er mich zum Beispiel dann ja auch während des Abends zuverlässig Richtung Klo navigieren. Wäre ihm oder mir das unangenehm? 

Ich bin heute zu Konzerten und Festivals überwiegend in meiner Region unterwegs. Während der Pandemie hat mir das extrem gefehlt. Aufgrund meiner Behinderungen kann ich nicht weit reisen und Musik-Events sind so etwas wie ein Ersatzurlaub für mich. Mir bedeutet das die Welt. Da ich nicht nur blind bin, sondern inzwischen zusätzlich mit einer Multisystemerkrankung lebe, kann ich oft nicht lange gehen und stehen. Ich möchte deshalb auch für diese erheblichen Kombinationen an Behinderungen sensibilisieren, denn man hat uns Betroffene noch viel zu wenig auf dem Schirm. 

Ich benötige bei Konzerten aufgrund meiner starken Schmerzen eine Sitzhilfe. Diese ist bei reinen Stehveranstaltungen nicht gegeben und regulär manchmal nicht erlaubt, weil sie zur Stolperfalle oder im schlimmsten Fall zum Wurfgeschoss werden kann. Wenn auch ein Rollator im Gegensatz zu einem Klappstuhl als Hilfsmittel akzeptiert wird, ist diese Aufnötigung für mich immer wieder demütigend. Veranstaltende wollen dann dass ich aus rechtlichen Gründen ein Hilfsmittel benutze, was ich vollblind gar nicht steuern kann und was mir als Sitzhilfe nichts nützt, da ich einen Stuhl mit Rückenlehne und keinen Rollator brauche. Für eine andere Person
treffen wieder andere Optionen zu. Wir Menschen mit Behinderung wünschen uns ja gerade, dass wir uns nicht stets und ständig zu unseren Diagnosen und Hilfsmitteln rechtfertigen müssen und man nicht über uns hinweg entscheidet, was für uns gut und richtig ist. 

Ich persönlich habe einen Ausweis mit 100 Prozent Schwerbehinderung plus Begleitperson und diversen Merkzeichen, dazu noch eine ärztliche Bescheinigung für die Sitzhilfe. Dennoch geriet ich kürzlich wieder in Rechtfertigungsnöte und in die Bittstellerinrolle, weil man mir die Sitzhilfe und den Zutritt zum Behindertenpodest nicht erlaubte. Dieses Podest sei nur für Menschen im Rollstuhl und kleinwüchsige Personen hieß es. Oft werden auch hier Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen zu wenig mitgedacht und die Tribünen sind zu klein konzipiert. Auch Menschen mit anderen relevanten Behinderungen benötigen diesen Schutzraum, wenn Veranstaltungen nicht bestuhlt sind. Meine Sitzhilfe wird in der pogenden Masse dann wirklich zur Sturzgefahr, weil ich zwischen den stehenden Menschen nicht gesehen werde. Was in einem kleinen Club, wo es Behindertentribünen oft gar nicht gibt, gerade noch akzeptabel ist, kann bei großen Festivals mit tausenden von Menschen wirklich gefährlich werden. Wenn Personen über mich stürzen oder rabiat anstoßen ist das auch eine Zumutung für meine Schmerzen, von denen ich dann noch wochenlang etwas habe. Wenn es voll ist, erkennen die Leute oft auch wenn ich stehe nicht, dass ich einen Blindenlangstock dabei habe, da aus der Menschenmenge nur die Köpfe herausragen. Bei hoher Lautstärke ist es zusätzlich für mich und meine Begleitperson schwer, den anderen klarzumachen, dass ich nicht sehen und temporär nicht stehen kann. 

Das Podest ist wirklich keine Luxusoption, die ich mir unrechtmäßig erschleichen möchte. So gern würde ich wie früher die Bühne sehen können und mit den Leuten unten zu meinen Lieblings-Acts toben und springen. Da es für mich sehr traurig wäre, gar nicht mehr dabei sein zu dürfen, muss ich alternative Teilhabewege finden. Veranstaltende helfen mir sehr, wenn ich diese Chance nicht immer wieder neu erkämpfen muss. Leider habe ich auch erlebt, dass ich mich auf Absprachen vom Vorjahr nicht verlassen kann und ich nun selbst im Freizeitbereich genau notieren muss, wer mir was wann zugesagt hat. Ich sehe es kritisch, dass Menschen mit Behinderung hier in der Bringepflicht sind, da sie gerade bei einer Kulturveranstaltung auch einfach mal entspannen und keine Diskriminierung erleben wollen. Es ist entscheidend zu respektieren, dass auch behinderte Menschen unterschiedliche Feierbedürfnisse haben und wer lieber unten Party macht, will im Umkehrschluss nicht ungefragt aufs Podest gerollt werden.

Hilfreich ist auch, wenn der Veranstaltende sich bereits über die Toiletten- und Parkplatzsituation für behinderte Besucher*innen Gedanken gemacht hat. Es ist wichtig, in den Standards und auch in den Sicherheitskonzepten verschiedene Behinderungen zu berücksichtigen. Vom Ticketgesuch bis zum Konzertbesuch sind für behinderte Gäste oft noch viele Hürden zu nehmen. Deshalb ist es ratsam, bereits auf der Webseite ausführliche Informationen zur Barrierefreiheit zu hinterlegen. Feste Ansprechpersonen sind hilfreich. Diese sollten jedoch umfassend in der Thematik stecken. Wenn ich mich z.B. dieses Jahr auf die Auskunft am anderen Ende der Leitung verlassen hätte, wäre mein Lieblings-Festival für mich zukünftig passee. Durch den Einsatz von engagierten Aktivist*innen, Initiativen und Veranstaltenden hat sich aber in der Branche auch schon viel bewegt und es gibt tolle Beispiele für gelebte Inklusion in der Kulturlandschaft.

Generell bin ich in meinen über 30 Jahren Konzerterfahrung auch auf viel Offenheit und Flexibilität getroffen und gerade in kleineren Locations fanden wir kreative Lösungen, weil sie selten von Vornherein barrierefrei angelegt waren. Ableismus habe ich manchmal erfahren, wenn andere mich bei Begrüßungen ausließen oder mich nur ansprachen, wenn mein Partner dabei war. Hoch problematisch finde ich, wenn man sich auf Absprachen nicht verlassen kann, da Menschen mit Behinderung und Ihre Begleitpersonen extrem auf Zusagen zur Barrierefreiheit angewiesen sind. Steht z.B. in meinem Fall der versprochene Stuhl nicht bereit oder ich darf meinen doch nicht mitnehmen, ist für mich die Veranstaltung gelaufen und meine Begleitperson hat gegebenenfalls vergeblich für mich einen Tag frei genommen. Es gibt auch zahlreiche große Häuser und Festivals, die eng mit Expertinnen in eigener Sache zusammenarbeiten und denen es wichtig ist, ihre Angebote zur Barrierefreiheit stetig zu erweitern. Jede Location ist anders und hat ihre eigenen Tücken, wie auch jede Behinderung. Aber ich wurde schon so oft mit großartigen Konzerten belohnt und ging am Ende inmitten der Menschen ganz in der Musik und in purem Glück auf. Egal ob Blond, Casper, Drangsal oder Kraftklub, letztlich stehen auch die Acts, die ich höre, für Awareness bei Konzerten und Festivals und supporten keine ableistischen Haltungen.  

Seit 2023 bin ich für die Initiative Barrierefrei Feiern als Expertin in eigener Sache tätig. Wir schulen Veranstaltende von Konzerten und Festivals wohlwollend und auf Augenhöhe darin, ihre Events barrierefrei mitzudenken und auszugestalten, weil wir unser kulturelles Leben lieben, weil wir leidenschaftlich gern auf Festivals feiern, weil wir noch mehr Konzerte und Clubs besuchen wollen und weil wir die kulturelle Teilhabe für alle fordern. Dabei sehen wir unsere Unterschiede als Stärken und unsere Bedürfnisse als Kompetenzen. 

Das waren starke Zeilen? Dann gerne teilen!

Eine Antwort

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert