Appell für eine Neufassung der Inklusionsmaßnahmen

Das Logo von die neue Norm auf grünem Grund. Rechts davon steht: Die Neue Kolumne. Unten steht: Von Hannah.
Lesezeit ca. 6 Minuten

Der Artikel 3  (Gleichheitsgesetz) unseres Grundgesetzes stellt unmissverständlich fest: ”Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.”

Im März 2009 trat in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Dieses „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ ist seither geltendes Recht. Ziel ist der volle und gleichberechtigte Genuss aller Menschenrechte. Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen:  Nicht-Diskriminierung, Chancengleichheit, Selbstbestimmung, Inklusion, Partizipation, Bewusstseinsbildung, Zugänglichkeit, bürgerliche,  politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

Die UN- Konvention ist umfangreich und detailliert und eine Lektüre immer wieder hilfreich und motivierend.

Gemessen an den ratifizierten Gesetzen müsste es Menschen mit Behinderung in Deutschland eigentlich gut gehen.

Dem ist nicht so. Menschen mit Behinderung sind in Deutschland nicht gleichberechtigt. Viele werden ausgegrenzt und diskriminiert. Ein selbstbestimmtes Leben, volle und wirksame Teilhabe, Mobilität, Arbeit und finanzielle Sicherheit, eine eigene, barrierefreie Wohnung wird ihnen häufig verwehrt oder ist – unter den gegebenen Umständen – angeblich „einfach nicht möglich“.

Es ist vollkommen unvorstellbar, dass eine andere Bevölkerungsgruppe in ähnlicher und so vielfältiger Weise wie Menschen mit Behinderung ständig von vielen Bereichen des Lebens ausgeschlossen würde. Dies entspräche einem Super-GAU.

Rollstuhlfahrern z.B. ist der Zugang zu vielen Bildungseinrichtungen, Arbeitsplätzen, Transportmitteln, Arztpraxen, Wohnungen, Hotels, Restaurants, Kultureinrichtungen, Toiletten… oft einfach nicht möglich oder er ist extrem erschwert.

Ist die Gebärdensprache nicht präsent, werden schwerhörige Menschen ausgegrenzt: in Schulen, Bildungseinrichtungen, beim Fernsehen: “Du bist von diesen Informationen ausgeschlossen“. Wann hat man jemals Gebärdensprache wirklich erlebt – außer in ausländischen Nachrichtensendungen?

Natürlich gibt es zahlreiche „Trotzdems“, den Mut der Betroffenen, ungewöhnliche Lösungen und Hilfen, Erfolge, Alltagshelden – aber es überwiegen die täglichen Barrieren, ständige Kämpfe um Teilhabe, abgelehnte Anträge, Zurückweisungen, Entbehrungen und Frustrationen. Häufig herrscht Armut – und dann wird man zum Bittsteller.

Entsprechende Gesetzesvorhaben zur Teilhabe ziehen sich über Jahre hin, werden in Ausschüssen geparkt und unzureichend ausgeführt. Viele Ansätze sind gut gemeint, aber schlecht gemacht: Ich denke da an den Mythos „Unkündbarkeit“ eines schwerbehinderten Angestellten – sie wird wohl in vielen Fällen eine Festanstellung verhindert haben. Die meisten der verpflichteten Unternehmen erfüllen die Schwerbehindertenquote nicht!

Und auch jetzt: Unklarheiten bei der Ausgestaltung des Intensivpflegegesetz IPReG, sowie der Mangel an Pflegekräften wecken ernstzunehmende Befürchtungen, dass die außerklinische Intensivpflege weiter eingeschränkt wird und dass „Abschiebungen“ in Pflegeheime drohen (lebenslang?). Und was zeigen die Triage-Diskussionen in Coronazeiten?

Die Erfahrungen der letzten 50 Jahre lassen vermuten, dass „die Politik“ sich nur hin und wieder (z.B. am 3.12.) mit dem Thema „Behinderung“ beschäftigt – wäre dieses Thema ein echtes Anliegen, wäre hier schon viel mehr geschehen.

Die Liste der Einschränkungen, Diskriminierungen, der Teilhabeverhinderungen ist endlos, sie ist umfangreich dokumentiert und wird von den Medien und den verantwortlichen Stellen bestätigt.

Ich muss feststellen, wir kommen so nicht weiter.

Auf der Suche nach neuen Wegen zum Erreichen der Inklusion stellt sich mir zunächst die Frage nach dem „warum“. Warum werden die Rechte der Menschen mit Behinderung in Deutschland nicht konsequent und erfolgreich umgesetzt?

Sind es unklare Zuständigkeiten, zu viele Ebenen, zu viele Stellen, zu viele Verantwortliche, zu viele „Töpfe“ und Schlupflöcher, zu viele Vorgaben, die gar nicht erfüllt werden können und oft unsinnig sind? Ist es Bequemlichkeit, Oberflächlichkeit, Ignoranz, Gleichgültigkeit, fehlendes Gerechtigkeitsempfinden, fehlende Loyalität, Überforderung, Egoismus? Oder will man der Begegnung mit Schwäche, Krankheit, Hilfsbedürftigkeit – diesen unterschiedlichen Facetten des Lebens – aus dem Weg gehen, lieber wegsehen? Ist es zu aufwändig, zu teuer? Ist es egal? Sind es Barrieren in den Köpfen Nichtbehinderter? Ist es ein bisschen von allem?

Am Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung sollten wir einmal nicht auf die „Menschen mit Behinderung“, sondern auf die “Gegenseite” schauen und darüber berichten: Wir sollten uns mit den Institutionen beschäftigen, mit den Entscheidungsträger, den Menschen, die Kraft ihrer Position und Macht eine Teilhabe behinderter Menschen gemäß der UN- Behindertenrechtskonvention nicht ermöglichen, sondern oft erschweren, ja verhindern.

Spricht man mit den Verantwortlichen, so stellt man immer wieder ein besonderes Engagement, eine Betroffenheit, auch Mitgefühl fest. Aber immer wieder wird darauf hingewiesen, dass ihre Hände durch viel zu viele – oft unsinnige oder kontraproduktive – Regeln, Gesetze, Anweisungen, Finanzen, Zuständigkeiten, Vorgaben, Verordnungen und Fristen gebunden sind. Es scheint immer wieder nur darum zu gehen, Verantwortung und Kosten auf „andere“ abzuwälzen.

Und beteiligt sind viele: der Gesetzgeber, Versicherungen, Kranken- und Rentenkassen, Bund, Länder, Gemeinden, Ämter, Ministerien, medizinische Einrichtungen, Heime, die Hilfsmittel- Industrie, Verbände, Vereine und und und. Es ist ein undurchdringliches, undurchschaubares, viel zu teures Monster,  das mehr verhindert als hilft.

Schon die Suche nach der „richtigen“ also der zuständigen Stelle, nach der „richtigen“ (zu bewilligenden) Formulierung bei einem Antrag, dem „richtigen“ Hilfsmittel, Arzt oder Medikament kann sehr kräftezehrend, ja unlösbar sein (selbst Experten und Spezialisten  sind damit häufig überfordert). Ein Scheitern scheint vorprogrammiert (oder gar beabsichtigt?) zu sein.

Es kann und darf nicht sein, dass die Teilhabechancen eines behinderten Menschen von dem jeweiligen Sachbearbeiter, Kasse und Träger, dem Wohnort oder dem Bundesland abhängig sind. Es darf nicht sein, dass Unterstützungsmaßnahmen davon abhängig sind, ob die Behinderung durch einen (Arbeits-)Unfall oder einen genetischen Defekt verursacht wurde, oder ob man ausreichend lange sozialversicherungspflichtig beschäftigt war.

Regelmäßig wird von Mobilität gesprochen – wie kommt ein Rollstuhlfahrer an sein Ziel? Es darf nicht sein, dass eine Taxifahrt in einem Rollstuhltaxi mehr kostet als in einem herkömmlichen (schon teuren) Taxi – wer hat schon ein umgerüstetes Auto, der öffentlichen (Nah-)Verkehr ist meist nicht zuverlässig barrierearm, führt selten zum Ziel und ist gerade in Coronazeiten nicht “sicher”. Und was geschieht bei Regen, Eis und Schnee?

Es kann nicht sein, dass jeder Rollstuhlfahrer  mühsam Informationen über die Barrierefreiheit seines Zielorts erfragen muss. Hier muss eine Bringschuld aller Einrichtungen, gelten: Sie müssen vorab, leicht auffindbar – und nicht erst auf Nachfrage – veröffentlichen, wenn ihr Gebäude, Praxis, Restaurant, Schwimmbecken… nicht oder nur eingeschränkt erreichbar ist. Anstatt “Barrierefreiheit” anzugeben (die sollte ja gegeben sein), sollte die “Nichtbarrierefreiheit” angezeigt werden. Schon dadurch könnte ein Abbau der Barrieren forciert werden – wer postet schon gerne: #Sorry, Rollstuhlfahrer kommen hier nicht rein?“

Wo ist der unabhängige Berater der – rechtssicher – Auskunft über all die Hilfen, Fördermöglichkeiten, Zuständigkeiten, Fallstricke, Vor- und Nachteile  gibt – unabhängig vom Wohnort, vom Träger, den Ämtern, der Kranken- oder Rentenkasse?

Es ist ein bürokratischer Teufelskreis, und der dreht sich immer weniger um die betroffenen Menschen, um ihre selbstbestimmte Teilhabe in einer barrierefreien – zumindest barrierearmen – Umwelt.

Damit die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention endlich gelingt, müssen die Inklusionsmaßnahmen in Deutschland neu gefasst werden. Die verkrusteten Strukturen müssen aufgebrochen werden und durch Transparenz, Verständlichkeit, wenige, aber klare Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten, ausreichende Finanzen, umgehend ersetzt werden.

Die unterschiedlichen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung müssen klar formuliert werden. Natürlich müssen vor allem die Betroffenen, die Menschen mit Behinderung und ihre Familien entscheidend mitbestimmen, wie die Weichen neu gestellt werden, wie Inklusion zukünftig gelebt wird.

Unabhängige Rankings sollten regelmäßig und transparent veröffentlichen, welche Versicherung, soziale Dienstleistungseinrichtung, welcher Arbeitgeber, (Hilfsmittel-)hersteller, nach welchem  Konzept und vor allem wie die UN-Behindertenrechtskonvention erfolgreich umsetzt.

Doch ich fürchte, von allein wird sich nichts ändern und die Kraft der Betroffenen ist häufig – allein durch die Bewältigung des Alltags – erschöpft.

Wir müssen uns zusammenschließen: 7,6 Millionen Menschen = 9,3 % der Gesamtbevölkerung sind in Deutschland laut Statistik offiziell schwerbehindert. Verwandte, Freunde und Unterstützer noch nicht eingerechnet.

Viele sind in unzähligen Selbsthilfegruppen, Verbänden und Vereinen – häufig entsprechend ihren Krankheitsbildern, Interessen oder Wohnorten – organisiert. Einzelne Vertreter dieser vielen Kleingruppen haben politisch keine wirkliche Durchsetzungskraft. Ich empfinde dies als einen “stummen Protest” – in diesen lauten Zeiten wird er nicht gehört. 

Wir müssen uns zusammenschließen und Verbündete suchen; Menschen in der Justiz, in den Medien, in der Werbung. Und dann müssen wir Anklage erheben, Forderungen durchsetzen nach einem selbstbestimmten Leben für alle – ohne Ausgrenzung, ohne Benachteiligung.

Regelmäßig muss allen Diskriminierungen mit der Härte des Rechtsstaats entgegengetreten werden. Hier ist besonders die Justiz gefragt. Klagen sollten organisatorisch zusammengefasst werden (Sammelklagen?), die Finanzierung sollte gesichert sein.

Gerade in Zeiten der Knappheit und Krise ist ein effizientes, solidarisches Handeln notwendig – und gerade jetzt müssen auch die Medien ihrer Verantwortung gerecht werden – sie sind geschult, sie verfügen über die erforderliche „Ausdrucksfähigkeit“, über Informationsquellen, Kontakte, ausreichende Mittel für Recherche und Wiedergabe und erreichen die Öffentlichkeit und die jeweiligen Entscheidungsträger. Sie könnten Megaphon des “stummen Protestes” sein.

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